Am nächsten Tag begab sich Gamia zur Arbeit, aber immernoch mit dem Vorfall vom Vortag im Hinterkopf. Gerade als sie in ihr Büro gehen wollte, sah sie Wilma mit einem Stapel Akten hinter ihrem Vater herlaufen. "Hallo.", sprach Gamia Wilma an und bekam ein hastiges Hallo zurück. "Was hat sich noch so ergeben, wegen gestern?" erkundigte sie sich. "Strafversetzung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Ich darf nur noch mit jemand anderes zusammen arbeiten, deshalb bin ich erstmal bei meinen Eltern. Die Gilde hat die Strafe etwas abgemildert." erzählte Wilma schnell. Herr Wilsons Stimme ertönte leicht erzürnt und hastig eilte Wilma zu ihren Vater. Gamia trat in ihr Büro und arbeitete ihre Aufträge durch, als es später an ihrer Tür klopfte und Wilma mit ihrem Vater hineintrat. Er fragte, ob Gamia Wilma für einige Zeit unter Aufsicht nehmen könnte und erklärte, dass er etwas erledigen müsse und Wilma nicht alleine arbeiten darf. Ihre Mutter hatte gerade keinen Dienst. Nickend stimmte Gamia zu und Wilma setzte sich zu ihr und war so ruhig wie lange nicht mehr. Das war sehr ungewohnt für sie. Still arbeitete sie alle Aufträge durch und wartete dann, bis Gamia ebenfalls fertig war. "Und jetzt? Bringen wir die Aufträge zur Gilde?" "Ja." meinte Gamia monoton und nahm ihre Aufträge in die Hand. Wilma tat es ihr gleich und sie traten zum Flur auf dem Weg zur Gilde. Mitten auf dem Weg liefen sie an einem älteren strengen Mann vorbei, welcher jedoch schwarze Flügel besaß. Sehr ungewöhnlich und besonders, wenn man bermerkte, dass er der einzige Todesengel mit Flügeln war. Wilma schaute ihm hinterher und blickte dann zu Gamia. "W-war er das? Der Todesengel mit Flügeln?" fragte sie ihre Kollegin aufgeregt und war ganz nervös. Anscheinend hatte der Mann einen Bekanntheit in der Totenwelt.
"Hast du doch gesehen. So oft bin ich ihn, um ehrlich zu sein, aber auch noch nicht begegnet. Man sieht ihn relativ selten." Nachdenklich ließ sie die Aura, welche der Todesengel hinterlassen hatte, auf sich wirken. Sie hatte etwas himmlisches an sich.
Ein wenig senkte Wilma den Kopf und war von der Atmosphäre noch benommen. Etwas komisches hatte der Todesengel ausgestrahlt. "Aber weiß du, dass erinnert mich an die Geschichte von dem Todesengel, der sich auf der Erde abgesetzt haben soll." Seufzend verdrehte Gamia die Augen. "Kümmere dich erstmal um dich und glaube nicht alles, was man sich so erzählt oder rumgeht." ermahnte sie. In der Totenwelt gab es einige Gestalten, darunter auch einige, die hervortraten. Und dementsprechend gab es viele Erzählungen. Unteranderem auch die vom Todesengel, der vermisst wurde und sich auf der Erde herabgesetzt haben soll.
Schließlich standen Gamia und Wilma vor der großen Tür zur Gilde. Gamia ergriff den goldenen Türklopfer in der Form eines Totenkopfes und klopfte dreimal an der schwarzen Tür, bevor ihnen Einlass gewährt wurde.
Die Gilde war durchaus beeindruckend. Hinter der Tür erblickte man eine große Erbauung. Ein sehr hoher Sitzbereich, links und rechts führte eine runde Treppe mit Geländer zu diesen. Die Sitzbereiche waren unterschiedlich hoch. Der höchste Sitzbereich schien auch die höchste Stellung in der Gilde zu sein. Drumherum waren mehrere Sitzbereiche ähnlich eines Parlament Sitzungssaal angeordnet, für Dinge die dringend mit dem ganzen Totenreich besprochen werden mussten.
Ein einziger Mann aus der Gilde war anwesend, aus dem untersten Sitzbereich und nahm die Mädchen in Empfang. "Willkommen. Die neuen Aufträge nehme ich an?" Dankend nahm er diese entgegen und verabschiedete sich. Der braunhaarige Mann trug eine rote Krawatte und trat zum obersten Platz der Gilde und dann zur hinteren Tür, welche ebenfalls sehr groß war. Dass sich die Tür direkt hinter dem Platz vom höchsten Gildensitz befand bedeutete, dass das erste Mitglied der Gilde direkt hinter dem Tod stand.
Er läutete einmal an einer Glocke, die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt breit und ein grimmiger Mann mit grauen langen Haar nahm die schwarzen Dokumente entgegen. Vornehmlich dankte er und schloss die Tür wieder.
"Warum geben einige Theoretiker ihre Dokumente nicht direkt an die Praktiker weiter? Denken einige, etwas bestimmtes passiert mit den Dokumenten?" murrte der Grauhaarige und linste zu einem Sitzbereich ähnlich der Gilde, nur dass dieser nicht so hoch war und die zwei Sitze an der Seite auf gleicher Höhe waren. Eine strenge knochige Stimme schmunzelte. "Wer weiß, was immerhin noch alles passieren kann. Vielleicht sind einige eben etwas vorsichtiger. Wir wissen nicht, was Ihre Beweggründe sind." Von dem Mann kamen keine weiteren Worte mehr. "Dann weiß du sicherlich, was du jetzt tun musst, Josef."
Josef blickte zur von einer braunen Robe bedeckten Gestalt. "Ja, Gevatter Tod."
Untergeben trat er aus der braunen Holztür, auf dem Weg zu den Praktikern.
In der Zeit hatte Gamia sich von Wilma verabschiedet und Wilma war wieder bei ihren Eltern. "Hast du dir wenigstens einiges von Gamia abgeguckt oder dir ein Beispiel an ihrem Fleiß genommen?" erkundigte sich ihre Mutter gestochen scharf und rückte ihre braune Brille zurecht, während sie eine braune lange Haarsträhne hinters Ohr klemmte. Innerlich wütend schaute Wilma zu Boden. "Wie oft wollt ihr mir das noch vorwerfen? Immer wieder Vergleiche zwischen Gamia und mir anstellen? Ich bin und werde nie wie sie sein! Warum müsst ihr mir immer wieder sagen, wie schlecht ich bin oder mich runtermachen? Ich bin eure Tochter, nicht sie!" Ein wenig verzweifelt und mit glasigen Augen starrte sie ihre Eltern an. "Wir sagen nicht, dass wir lieber Gamia als Tochter hätten, oder Markus?" Der Angesprochene nickte. "Wir sagen nur, dass du dir mal ein Beispiel an sie nehmen solltest. Im Gegensatz zu dir hat Gamia nämlich verstanden, wie wichtig das Dasein als Todesengel ist. Mia und ich haben dich gerne, nur deine Arbeitsmoral könnte besser sein." Gegenseitig schauten sich ihre Eltern mit einem überlegenen Blick an.
"Dann zeigt mir, dass ihr mich als eure Tochter seht, als nur einen nutzlosen Todesengel, der seine Arbeit nicht ausreichend genug verrichtet. Ich möchte auch mal Lob von euch hören, anstatt mir nur ständig Vergleiche anhören zu müssen. Ihr haltet euch für so gewissenhaft der Arbeit gegenüber, aber wisst ihr was?! Ihr habt mehr Zeit darein gesteckt, als euch um mich zu kümmern! Es ist allein eure Schuld, dass ich ja so missraten bin!!" Wütend knallte Wilma ihren Eltern das gegen den Kopf und erntete strenge und saure Blicke, bevor ihre Mutter das Wort erhob. "Wie bitte?! Was wirfst du uns gerade vor?! Wir haben alles getan, damit du ein guter Todesengel wirst, du hast dich quergestellt!" Dir ging es immer gut, im Gegensatz zu einem kranken Waisenkind, das keiner möchte!"
Die Situation spitzte sich zu. Wilma warf ihren Eltern weiterhin vor, dass sie nicht genug Zeit für sie gehabt und sie lieber Gamia als Tochter hätten, ihre Eltern beteuerten das Gegenteil. Es eskalierte, als Wilma rief, dass sie lieber andere Eltern, so wie Gamias hätte. "Uns vorwerfen, wir hätten lieber Gamia als Kind und dann sowas sagen! Denk über deine Worte nach, Wilma Wilson!!" Mit dem Finger zur Tür zeigend wies Markus seine Tochter hinaus und schaute sie finster an. Starr trat Wilma hinaus und lief den Gang entlang. Die Gänge der Zwischenwelt waren schwarz und an den Wänden hingen Kerzenständer in der Form von Totenköpfen.
In der Zwischenzeit hatte Gamia sich heim begeben und traf auf ihre Eltern, die gerade dabei waren, zur Arbeit zu gehen. Im Gegensatz zu Wilmas Eltern waren Gamias Eltern Praktiker. "Na? Wir möchten ein paar Seelen geleiten und danch ein wenig unterwegs, wenn du magst komm doch mal mit!" erklärte ihr Vater fröhlich und streichelte über ihr Haar. "Nein, danke." lehnte Gamia ab, während sie sich umzog. "Nur dieses eine Mal! Du musst nicht Tag ein Tag aus dasselbe machen in deinem unsterblichen Leben! Mach es wie deine Mutter und ich. Schließlich bist du ein junger Todesengel, der seine Arbeit zwar machen, aber auch Freude haben sollte." Zur Seite blickend seufzte Gamia. Sie hasste diese Gespräche. "Wann versteht ihr, dass ich einfach kein Typ dafür bin?" murmelte sie, als ihr Vater entgegnete: "Hast du es schon einmal probiert?" Gamia musste zugeben, dass sie es tatsächlich nicht ausprobiert hatte. "Erst probieren, dann urteilen." lachte ihr Vater und fragte noch einmal: "Möchtest du wirklich nicht mit?" Mit einem genervten Unterton rief Gamia: "Nein!" Sie lief in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Von weiter weg rief Gina: "Lass sie doch, wenn sie nicht möchte." Ihre Eltern verabschiedeten sich und alleine saß Gamia auf ihren Bett und vegetierte eine Weile vor sich hin, als sie hörte wie jemand an der Tür klopfte. Ein bisschen fragte sie sich, wer das sein könnte, aber viel Auswahl gab es nicht. Also öffnete sie einfach die Tür und erblickte Wilma.
"Oh, was möchtest du denn? Hallo." fragte Gamia überrascht und Wilma war noch ziemlich aufgewühlt. "Darf ich bitte reinkommen? Seind deine Eltern zuhause?" Gamia winkte Wilma hinein. "Nein, sind sie nicht." "Achso." murmelte Wilma und senkte den Kopf. "Komm in mein Zimmer." seufzte Gamia mit verschränkten Armen und Wilma setzte sich auf das Bett. "Was führt dich her?" hinterfragte Gamia und setzte sich zu Wilma, die kurz darauf anfing, vom Streit mit ihren Eltern zu erzählen. In Ruhe hörte Gamia zu und nickte, bevor sie ihre Worte dazu gab. "Warum vergleichen dich deine Eltern mit mir und wie wir arbeiten? Die müssten sich um ihre eigenen Angelegenheit und Tochter kümmern, wobei ich zugeben muss, dass du wirklich härter arbeiten solltest." Kurz schaute Wilma beschämt zur Seite. "Ja, ich weiß ja... Ich möchte mich auch bemühen, aber das ständige verglichen werden lässt mich glauben, sie sind nicht stolz auf mich und mögen mich nicht. Deshalb hasse ich dich jetzt nicht, aber das tut schon weh." Die Beine angewinkelt und die Arme um diese geschlagen schaute Wilma zu Gamia rüber.
"Weiß du, meine Eltern vergleichen mich jetzt nicht, aber im Gegensatz zu ihnen bin ich viel ruhiger. Jedes mal diskutieren wir, ob ich nicht einmal mitkommen möchte, aber ich mag das nicht." Leise schmunzelte Wilma. "Und wenn wir zusammen was unternehmen? Ist es nicht immer ein bisschen was anderes, wenn man alleine, Mit Eltern oder zusammen mit Freunden was macht?" Ein wenig überlegte Gamia und Wilma konnte einen spitzeren linken Zahn erkennen und grinste. "Wollen wir in die Menschenwelt? Wir sind zu zweit und du, die vorbildliche Gamia, passt auf mich auf." scherzte Wilma und leicht lächelte Gamia. Schließlich sagte Gamia dann doch einfach zu und so begaben sie sich durch das Portal in die Menschenwelt.