Eine dreiviertel Stunde später sah Tomas Clara auf die Auffahrt auffahren und wartete bereits an der halbgeöffneten Tür. Clara lief auf die Tür zu und stand in einem grauen Hoodie und Jogginghose vor ihm. Für Tomas ein ungewohnter Anblick. Mit hängenden Kopf stand sie vor ihm. Tomas wusste nicht, ob er sie umarmen sollte oder nicht. Zu seiner Erleichterung nahm Clara ihn die Entscheidung von alleine ab, kam leicht auf ihn zu und hielt ihm den Kopf entgegen. Er gab ihr einen kleinen Kuss auf ihr Haar und lief mit ihr ins Wohnzimmer. Shadia wartete dort bereits auf dem Sofa und hielt sich differenziert. Tomas hatte Clara einen Kakao gemacht, den sie lächelnd entgegennahm.
"Sorry, dass ich mich jetzt nur melde, wenn es mir schlecht geht." Sie rieb ihren Ärmel an ihrer Nase.
"Ich bin froh, dass du dich überhaupt gemeldet hast, egal warum. Erzähl, was ist mit deinen Ex? Muss ich die Grabschaufel holen?" Clara schmunzelte über seine Frage.
"Reden wir über den, mit den du zusammen ziehen wolltest?" Sie nickte und nippte am Kakao. "Wir haben uns getrennt." Ihre Stimme war leise und gedankenverloren. Sie saß ihren Vater gegenüber.
"Oh, wie kommt das?" hakte Tomas nach und seine Tochter vermied den Augenkontakt, ihre Finger umschlossen die Tasse noch fester. "Er ist mir fremdgegangen." brachte sie hervor und Shadia weitete die Augen. Sie wurde hellhörig. Tomas blickte Clara entsetzt und mit aufkeimender Wut an. "Warum?" Clara fing zu schniefen an und ihr fiel es schwer, zu sprechen. Eine leise Träne rollte ihr Gesicht runter.
"Ich hatte eine Fehlgeburt und er sagte, er braucht keine Frau, die keine Kinder bekommen kann."
Ein Schwall von Tränen brach über sie herein. Tomas holte ihr Taschentücher vom Couchtisch und legte vorsichtig den Arm um sie. Shadia hatte alles mit angehört und rückte näher heran.
"Entschuldige, dass ich mich einmische, aber ich kenne nur zu gut das Gefühl, betrogen zu werden." Mit dem Taschentuch in der Hand blickte Clara zu Shadia hinter sich. "Ja? Weshalb wurdest du betrogen?" Sie schniefte.
"Wir waren über acht Jahre zusammen und hatten sogar einen Sohn zusammen. Ich erwischte ihn mit seiner neuen Kollegin und er versuchte sich zu erklären. Diese Erklärung bestand aus, wir hätten lange keinen Sex mehr gehabt und ich würde ihn einengen mit meinen ständigen Forderungen. Die Forderungen, die er meinte, bestanden aus normalen Haushaltsaktivitäten. Ich kann dir eines sagen, in schlechten Momenten lernt man Menschen richtig kennen." Shadia hielt einen Moment inne und holte tief Luft.
"Mir blieb es erspart, einen Verlust wie diesen zu erleben. Du hast mein tiefstes Mitgefühl. Er hätte an deiner Seite stehen und dich nicht nur als Gebärmaschine ansehen sollen. Ein Mensch wie dieser ist nichtig für jemanden wie dich." Mit großen Augen sah sie zu Shadia und ihre Tränen versiegten. Shadia erkannte sogar ein leichtes Lächeln, welches "Danke." sagte. Tomas umfasste Claras Schulter sanft und war selbst überrascht, dass seine Tochter die Berührungen zuließ. Er schätze dies.
"Deine Mutter und ich hätten fast einen ähnlichen Verlust erfahren. Drei Monate nach der Geburt deiner Brüder wurde Timothy krank und wäre daran beinahe gestorben." Tomas senkte den Kopf und ließ die Hand auf der Schulter seiner Tochter ruhen. "Wir waren aufgelöst und haben ihn kaum aus den Augen gelassen. Zu dem Zeitpunkt haben wir kaum Schlaf gefunden." Er und Clara sahen sich an.
"Daran erinnere ich mich nicht, aber ich war selbst noch klein." murmelte Clara und legte das benutzte Taschentuch auf den Tisch. Sie nahm sich ein weiteres.
"Ich plane umzuziehen. In der Wohnung erinnert mich zu viel an diese Beziehung. Er kommt demnächst noch vorbei, um die restlichen Gegenstände abzuholen. Ich weiß nicht, ob ich das kann." Laut atmete sie ein und aus. Dabei sah sie zur Decke und spürte Shadias Hand um ihr Handgelenk.
"Unterdrücke es nicht." Augenblicklich flossen die Tränen über Claras Wange und sie fand sich in den Armen ihres Vaters wieder.
Clara verblieb über Nacht und fuhr erst am morgen wieder. Tomas stand vor ihr an der Autotür.
"Sag Bescheid, wenn er die Sachen abholt, dann bin ich da. Ich nehme die Grabschaufel mit." Seine Worte entlockten Clara ein seichtes Läheln.
"Werde ich, danke für das Angebot. Grüß Shadia, wenn du sie siehst." Tomas nickte.
"Werde glücklich mit ihr." sprach sie und diese Worte überraschten Tomas. Dies sah man seinem Gesichtsausdruck an.
"Sie hat eine beruhigende Aura. Ich weiß nicht, aber man fühlt sich wohl und geborgen bei ihr. Ich kenne sie kaum, aber könnte ihr schon alles anvertrauen." Ein seichtes Lächeln lag auf ihren Lippen.
"D-das freut mich und ja, es ist eines der Dinge, die ich so an ihr mag und schon immer mochte." Er fing leicht zu grinsen an. Clara verabschiedete sich und fuhr mit dem Auto heim.
Kleine Engel flogen auf Mutter Naturs Schulter. Sie ließ sie auf dieser ruhen. Mutter Natur kniete nackt in der feuchten Erde und ihre Finger formten ein kleines Gesicht auf einer Kugel, die sie direkt wieder in der Erde versenkte.
"Ich kann noch keine neuen Hüllen schaffen." Mitleidend sahen die zwei kleinen Engel zu ihr. Mutter Natur schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln.
"Keine Sorge, ihr erhaltet eure Hüllen, die ich bereits vor Jahren schuf." Sie schmiegten sich an ihre Wange. "Es werden stetig weniger Babys geboren. Menschen glauben, es läge an den Weltproblemen und dem gesellschaftlichen Wandel. Es ist gut, dass ihnen die Wahrheit verborgen bleibt." murmelte Mutter Natur und erhob sich.
"Entschuldigt mich. Ich erwarte noch Besuch von Gevatter Tod." Beide Engel nickten und ließen Mutter Natur alleine.
Sie begab sich zur Lichtung und erwartete dort die Ankunft des Todes. Seine Anwesenheit konnte sie spüren und er sah sie nackt auf der Lichtung sitzen. Mit der Sense in der Knochenhand stand er vor ihr und musterte ihren nackten Körper, der untenrum Spuren von Erde aufwies. Er setzte sich ihr gegenüber.
"Du bist wunderschön ohne Kleidung." sprach er und zog seine Kapuze runter. Sie blickte zum Schädel und lächelte.
"Ich danke dir. Wollen wir es hinter uns bringen?" Obwohl sie nicht einmal begonnen hatten, fühlte sich Mutter Natur ausgelaugt durch den Gedanken, was bevorstand.
Ein Siegel erschien, gezeichnet von Gewalt. Eine Kreatur mit Schild und Schwert zeichnete sich auf diesem ab.
Der Tod sprach: "Komm!"
Augenblicklich brach das Siegel und was festgehalten wurde, war nun frei. Frei und bereit, über die Welt herzufallen.
Ein Sarg erschien auf einer offenen Landfläche. Aus diesem Sarg brach er heraus, der zweite Reiter, der Krieg auf die Welt brachte.
Es stand überall in den Medien, nachdem die ersten zwei Länder sich bekriegten, was viele Todesopfer forderte. Viele Menschen mussten flüchten. Von einem Ort, der einst ihr Zuhause gewesen war. All ihr Hab und Gut mussten sie lassen.
Die Aktenstapel türmten sich bei den Seelengeleitern. Sowohl die Unbearbeiteten, wie auch die Bearbeiteten. Henrik beobachtete dies mit zunehmender Sorge. Der Stress wirkte sich auf das Gemüt der Seelengeleiter aus. Gelegentlich sprang Cedric ein und half in der Gilde aus. Er trug einen hohen Aktenstapel geleiteter Seelen zu Gevatter Tod. Dabei fiel ihm auf, dass Justins Platz seit Tagen leer war. Dies zeugte davon, dass er in den Kriegsgebieten seine Aufgabe vollrichtete. Cedric verhielt sich reserviert und ging nach Abgabe der Akten seiner Tätigkeit nach.
Mikel war zum Frühdienst mit seiner Kollegin eingeteilt worden und packte den großen Stapel Zeitungen aus, die der Kurier gebracht hatte. Dabei las er die Überschriften, die seit Tagen über den Krieg berichteten.
Droht ein dritter Weltkrieg?
8.000 Tote täglich!
Ist unser Land das Nächste?
Mikels Hände fingen zu zittern an. "E-es wird nur noch über den Krieg berichtet." murmelte er und seine Kollegin war dabei, die Kasse einzuzählen.
"Klar, es ist brandaktuell. In paar Monaten klingt das auch wieder aus und solange wir nichts zu befürchten haben, denke ich da nicht dran." Ihre Aufmerksamkeit galt der Kasse.
"Aber das ist doch furchtbar! Krieg sollte nicht normalisiert werden. Außerdem weiß du nicht, ob wir nicht auch davon betroffen sein werden." Seine Stimme zitterte und seine Hände wurden schwitzig.
"Mikel! Du weiß auch nicht, ob bei uns ein Krieg ausbricht. Außerdem gehören solche Grausamkeiten zum Leben. Es gab vorher schon kleine Kriege, da hat nur keiner von gesprochen." Sie rollte mit den Augen, während Mikel zu hyperventilieren anfing und sich selbst umarmte.
"Ich will nicht in den Krieg ziehen!" japste er und blickte zu einer Überschrift die lautete: Länder bereiten sich vor. Müssen unsere Männer an die Front?
Seine Kollegin schlug die Hände auf die Tischfläche und Mikel erschrak.
"Jetzt habe ich mich verzählt, danke!" rief sie genervt und beobachtete Mikel aus dem Augenwinkel, wie er auf die Knie fiel.
"Die ziehen dich schon nicht ein, nachdem sie erfahren, was fürn knacks du hast." entgegnete sie und tippte einen Finger auf die Schläfe. Mikel vernahm ihre Worte bereits nicht mehr und starrte mit geweiteten Augen auf den Teppich. Kurzerhand kam seine Kollegin auf ihn zu und fasste nach seiner Schulter.
"So schlimm wird das schon nicht." Kaum hatte sie seine Schulter angefasst, schrie Mikel und wich zurück, dabei stieß er gegen den Tisch mit den Neuerscheinungen. Ratlos und genervt stand sie vor Mikel.
"Ich ruf gleich den Notarzt wenn du dich nicht beruhigst!" Ihre laute Stimme erschreckte Mikel noch mehr und er fing zu weinen an. Er stammelte etwas vor sich hin, was seine Kollegin auf den Namen Musuko schließen ließ.
"Sollen wir deinen Mann anrufen?" Mikel nickte heftig und rang dabei nach Luft.
Seine Kollegin holte ihr Handy hervor und reichte es ihm. "Keine Ahnung, wie seine Nummer ist. Wehe du wirfst es durch die Gegend." Mikel brachte zwei Minuten, um die Nummer einzutippen und als es klingelte nahm es seine Kollegin. Musuko meldete sich mit einen fragenden: "Fukkatsu, hallo?"
"Ja hier Buchhandlung Brütteln. Dein Mann dreht hier seit kurzer Zeit am Rad. Kommst du ihn abholen?"
"Wie bitte?!" Musuko legte, entrüstet über die Worte der Frau, auf und fuhr zur Bücherei.
Die Kollegin wartete ungeduldig. "Toll und wer macht jetzt mit mir bis 11? Ich frag mal in der Gruppe." Ungeachtet ließ sie Mikel in seiner Angst und unter Tränen auf dem Boden sitzen. Es klopfte an der Tür und sie öffnete diese Musuko stand in Kleidung vom Vortag und ungekämmten Haar vor ihr.
"Mikel?" Er sah Mikel auf dem Boden sitzen. "Wie lange sitzt er da schon?" fragte er entrüstet. "Keine Ahnung, Viertelstunde? Er hat die Zeitung einsortiert und ist dann wegen dem Krieg ausgetickt." Musuko begab sich auf Augenhöhe mit Mikel und nahm ihn in den Arm. Er wiegte Mikel in Sicherheit.
"Bei mir ist er ausgetickt."
"Du hast ihn einfach so angefasst? Während seiner Panikattacke?" Wütend sah er die Frau an.
"Nur ich darf ihn anfassen, wenn er in diesem Zustand ist! Tut das nie wieder!" Er gab wieder Mikel seine ganze Aufmerksamkeit und stand mit ihm auf. Mikel wurde ruhiger und Musuko wandte sich ein letztes Mal an die Frau vor ihm.
"Ich lass meine Nummer hier und ein paar Tipps, wie ihr mit ihn umgehen sollt, wenn sowas wieder vorkommt." Er bekam Stift und Papier. Grob überreichte er ihr den Zettel, nahm Mikel bei der Hand und führte ihn zum Auto.
Mikels Tränen trockneten. Er sagte kaum ein Wort und verblieb die ersten zwei Stunden im Bett, bevor er sich Musuko mit all seinen Gedanken anvertraute.