Gamia öffnete die Augen und fand sich in einer alten Einrichtung einer Kirche wieder. Sie sah sich um und sah Viktorius auf einen der Kirchenbänke sitzen. Sie merkte, dass sie ebenfalls auf einer lag und stand auf. Zu ihrer Überraschung sah Viktorius ruhig, sogar traurig aus, als würde er ein Stück mehr Menschlichkeit besitzen. Unsicher bewegte sie sich auf ihn zu.
"Wo bin ich? Lass mich gehen!" bat sie und ruhig antwortete Suicide Hangman ihr.
"Dies ist die Kirche, an der ich mich erhängt habe. Sie ist meine ganz eigene persönliche Hölle." Seine Stimme war ein hauchen. "Hölle?" wiederholte Gamia und Viktorius nickte. "Eine Kirche symbolisiert den Himmelsfürst. Ich habe mich an dieser erhangen, um ein Zeichen gegen ihn zu setzen und er machte sie zu meiner Hölle." seufzte er und Gamia senkte den Kopf. "Die Hölle ist nicht nur der Ort, an dem verdammte Seelen kommen. Jeder hat seine persönliche Hölle und für mich war das Leben die Hölle." Er erhob sich und schlich durch die Gemäuer. "Trotzdem ist es falsch, sein Leben wegzuwerfen!"
Viktorius stockte und sah Gamia an. "Urteile nie leichtfällig über das Leben von Menschen. Was in deinen Augen falsch ist, ist in ihren Augen richtig. Würdest du es dem Toten selbst ins Gesicht sagen, dass es falsch ist, was sie getan haben?" Gamia wich zurück. "Na ja..." murmelte sie.
"Ihr Seelengeleiter urteilt darüber, obwohl ihr nicht wisst wie es ist, ein Mensch zu sein. Stell dir vor, du wärst ein Mensch und hättest viel Leid erfahren. Was wäre wenn du auch am Abgrund stehst und sich das Springen als einzige Option für dich erübrigt?"
Schwarze Nebelschwaden umfingen Gamia und sie fand sich in einem leeren Raum wieder. Erneut fragte sie sich, wo sie sei, als sie durch das feuchte Gefühl in ihrer Unterhose abgelenkt wurde. Bei näherer Betrachtung sah sie das Menstruationsblut und zuckte zusammen. Sie lief durch eine Tür und hörte ein schluchzen. Gamia erblickte eine unerkennbare weibliche Gestalt.
"Dein Vater... Er hatte eine Überdosis!" schrie diese, anscheinend ihre Mutter und Gamia erblickte einen Leichnam, der ihrem Vater ähnlich sah. Als sie zur Seite blickte erkannte sie die 14-jährige Version ihrer selbst.
In der Vorstellung unter den Nebelschwaden erlebte Gamia ein Leben in Armut. "Das Buch kann ich dir nicht kaufen." hörte sie ihre Mutter sagen und bekam den schon drei Tage alten Nudelauflauf auf dem Teller angerichtet.
Sie war eine gute Schülerin, doch Klassenfahrten konnten sie sich nicht leisten und obwohl sie studieren wollte, war ihr dies wegen ihrer Armut verwehrt. Sie fand zwar einen Freund, doch dieser betrog sie elendlich. Gamia wollte über eine Straße laufen, vernahm das Auto aber nicht. Sie wollte sich wegteleportieren, doch sie war ein Mensch! Das Auto erwischte sie schwer und als sie zu sich kam, sah sie ihr fehlendes Bein und schrie.
Schließlich fand sie sich, wie Viktorius an einer Klippe wieder und er erschien hinter ihr. "Würdest du nach alldem nicht springen wollen?" hauchte er und erst sagte Gamia nichts, bevor sie sich zu ihm umdrehte.
"Es gibt viele Schicksalsschläge, die ein Mensch erleiden kann. Manche machen weiter, andere beenden es. Nur weil jemand es beendet ist er nicht weniger stark als der, der weitermacht. Er hat schon genug Stärke bewiesen... Wobei warum sprechen wir von Stärke?" Sie seufzte und Suicide Hangman war etwas von ihrer Aussage überrascht. "Jeder mag dazu seine eigene Weltansicht haben, doch am Ende des Tages leben wir nicht deren Leben. Wir haben nicht darüber zu urteilen, wenn jemand sich dazu entschließt, zu sterben. Wir können nicht in sie reinsehen."
Viktorius wich zurück und die Nebelschwaden verschwanden. Gamia lag auf dem Boden und schrie laut, bevor sie realisierte, dass sie aus dieser Halluzination erwacht war, sie ein Todeswesen war und alles so, wie sie es kannte. Mit glasigen Augen starrte sie Viktorius an. "Keine unserer beiden Ansichten sind richtig oder falsch." wisperte sie und setzte sich auf. Viktorius versuchte Gamia zu verstehen. Sie setzte sich wieder auf eine Kirchenbank und dachte an Tiffanys Worte. "Der Tod und du habt unterschiedliche Ansichten dazu, die berechtigt sind. Anstatt nach der einzig richtigen Lösung zu suchen, solltet ihr einen Kompromiss finden. Das Leben besteht meistens nicht nur aus schwarz und weiß, es ist voller Graustufen." Viktorius konnte Gamia immer mehr nachvollziehen. "Das ist mir klar geworden, als ich am Abgrund stand." hauchte sie und auch wenn das nicht das war, was Viktorius eigentlich erreichen wollte, fühlte es sich wie eine Errungenschaft an.
Angespannt saß Gina an Gevatter Tods Seite und diskutierte mit ihm. "Wo könnte er Gamia hinverschleppt haben?" fragte sie ihn aufgewühlt und diesmal hatte auch der Tod keine direkte Antwort parat. "Es ist möglich, dass er sich selbst einen Raum geschaffen hat, den nur er betreten kann." mutmaßte er und Gina missfiel dies. "Heißt das er könnte sie dort solange lassen, wie er will? Es muss eine Möglichkeit geben! Er kann sie nicht für immer bei sich haben!" entfuhr es ihr und der Tod mahnte sie, etwas leiser zu werden. "Irgendwann wird er sie freilassen müssen!" murmelte sie, vermutete aber schon, dass er sie wohl als Erpressung oder Druckmittel freilassen würde.
Währenddessen verweilte Gamia alleine in Viktorius Hölle. Sie wusste was er tat, wenn er nicht da war. Einige Zeit verging bis er wiederkam und monoton fragte sie ihn: "Bist du fertig damit, Menschen in den Tod zu stürzen?" Dies stieß ihn schlecht auf, war er doch der Meinung, eigentlich eine Einigung getroffen zu haben. "Wie oft noch? Ich stürze sie nicht in den Tod, ich stehe ihnen bei ihrer Entscheidung bei." Für einen Moment herrschte Ruhe. "Ich kann ihr Leid hören.", flüsterte er dann. "Jedes einzelne Klagelied... Ihre schlimmsten Gedanken..." Gamia wurde hellhörig und glaubte wieder etwas menschliches in ihn zu erkennen. Gamia überlegte. "Kann es sein, dass dies eher eine Qual für dich ist?" Mit geweiteten Augen sah er sie an. "Wenn ich es nicht tue, wer ist dann für all die leidenden Seelen da?" Er klang ein wenig verzweifelt und erinnerte Gamia an Fritz. "Mein Vater hat auch sehr gelitten... Hast du sein Leid auch gehört oder das anderer Todeswesen?" Auf der Bank zog sie ihre Beine zu sich. Suicide Hangman sah zu ihr. "Ja, als er sich am liebsten umbringen wollte. Aber das Leid anderer Seelengeleiter kann ich nicht vernehmen. Vermutlich war dein Vater eine Ausnahme." "Weil er dein Urenkel ist." fügte Gamia hinzu und Viktorius drehte sich von ihr weg. Innerlich wollte er den Gedanken an seine Nachfahren nicht wahr haben. Gamia war für ihn Mittel zum Zweck, um den Sensenmann zu erzürnen. "Wann wirst du mich gehen lassen?" fragte sie, doch Viktorius gab ihr keine Antwort.
Voller Tatendrang setzte Gina alles daran, ihre Tochter wiederzufinden. Ein weiterer Gedanke der ihr kam war es Cedric zu fragen, ob er eine Idee hätte. Nach ihrer Tätigkeit beim Sensenmann begab sie sich zur Gilde, wo sie wie erwartet, Cedric bei seinem Bruder fand. Sie grüßte ihn und sagte sofort, dass sie eine Bitte hätte, bevor sie ihm davon schilderte, dass Gamia entführt wurde und sie nun hoffte, durch die Zwillinge herauszubekommen, wo er sie hin verschleppt hatte. Bei ihrer Bitte kamen Cedric Erinnerungen an Fritzs Verschwinden hoch, wem er ebenfalls nicht finden konnte. Eine Tatsache, die ihn bis heute belastet. "Ich kann nichts versprechen. Wenn du sagst, dass er sie in seine eigene Hölle gebracht hat..." musste er allerdings gestehen und Gina nickte, bevor sie sich verabschiedete. Cedric seufzte und sah zu Henrik.
"Ich weiß nicht, wie ich ihr dabei helfen soll." gestand er und Henrik wollte gerade zum reden ansetzen, als er unterbrochen wurde vom besuch einer Sensenschmiederin. Es war Alma, die mit vier Sensen die Treppe hochkam und diese Sensen segnen ließ. Als sie zurückkam lehnte sie die Sensen an den Schreibtisch und gesellte sich zu den Brüdern.
"Gibt es neue Entwicklungen zum Fall Suicide Hangman?" hakte sie nach und ihr Vater nickte. "Cedrics Enkelin wurde entführt und jetzt wurde der Opa beauftragt eine Möglichkeit zu finden, in den Ort einzudringen, wo sie gefangen gehalten wird." Monoton schaute Cedric zu Henrik. "Kannst du mich bitte nicht Opa nennen? Ich bin, genauso wie du, schon über 300 Jahre alt und muss mich nicht noch älter fühlen." Alma schmunzelte und überlegte mit ihnen mit. "Habt ihr schon daran gedacht, dass wir in den Himmel gehen könnten, um Richard und seine Mutter zu besuchen? Außerdem sehen wir uns dann alle einmal wieder." brachte sie als Vorschlag hervor und bei dem Gedanken an seine Eltern wurde Cedric immer ein wenig melancholisch. "Es ist zumindest die einzige Option, die mir einfällt." gestand Alma und die Brüder dachten über den Vorschlag nach. "Wir sollten es versuchen. Selbst ohne Erfolg können wir immer noch eine schöne Zeit mit unseren Eltern verbringen." meinte Henrik und Almas Vorschlag fand Anklang. "Ich werde den Tod und Himmelsfürst fragen." sagte Henrik und stand auf, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. In der kurzen Zeit in der Henrik weg war, fragte Cedric seine Nichte: "Gibt es bei dir etwas Neues?" Alma wurde verlegen.
"Ach naja... Ich würde sagen, ich date aktuell eine junge Frau, Jayna Makricia." Der Name war Cedric noch bekannt. "Ich erinnere mich, dass dein Vater schonmal was erwähnt hat. Dann wünsche ich dir das Beste und wenn nicht, dann ist das so." Alma nickte, bevor auch schon Henrik wiederkam. "Wir haben das ok. Der Himmelsfürst unterstützt uns in diesem Vorhaben."
Einen kleinen Moment verbrachte Alma noch bei ihrem Vater, bis ein kleiner Sensenmanngeist ihr einen Brief brachte, den sie überrascht las. Schon beim lesen kam ihr ein Grinsen über die Lippen. "Ich werde dann wieder gehen. Selbst als Schmiedeleiterin kann ich nicht ewig Pause machen. Bis demnächst, schickt mir einfach einen Brief!" verabschiedete sie sich, nahm ihre Sensen und lief motiviert die Gilde hinaus. Henrik blieb fragend zurück, während Cedric grinste.
Alma konnte den Feierabend kaum abwarten, zog sich danach nur schnell um und eilte zum Wohnareal der Heiler. Ihr wurde die Tür nachdem anklopfen sehr zeitig geöffnet und Jaynas Auftreten trieb Alma die Röte ins Gesicht von der sie hoffte, dass diese von Jayna nicht bemerkt wird. Jayna trug ihre Haare ungekämmt. Ihr blaues T-Shirt hatte einen deutlichen V-Ausschnitt. Die Netzstrumpfärmel gingen bis zu den Ellbogen. Eine Totenkopfkette zierte ihren Hals. Statt ihrer formellen Jeans trug sie einen knielangen, schwarzen Rock. Bis zu den Oberschenkeln war dieser mit einem blickdichten Stoff vernäht, ab da wurde der Stoff dünner und durchlässiger. Dadurch sah Alma die schwarzen, knielangen Strümpfe mit den Motiv von Fischgräten.
Sie grüßten sich und Jayna führte Alma in das Wohnzimmer. "Habe ich richtig vernommen, dass du Wein magst?" fragte sie und Alma sah sich die Wohnung fasziniert an. Eine Mischung aus den alten Einrichtungsstil ihres Adoptivvaters und ihrer eigenen Vorliebe zu Gothik. Alma nickte. "Sehr gerne!" Jayna lief zum Wohnzimmertisch auf welchen zwei Weingläser und ein herber Wein standen. Sie reichte Alma ein Glas mit Wein. "Du sollst dich möglichst wohlfühlen." schmunzelte Jayna und Alma merkte, dass die Distanz zwischen ihnen immer kürzer wurde. Dies mochte zum Teil daran liegen, dass Jayna einen guten Tag hatte und Jayna mehr Vertrauen fand, wenn sie jemanden näher kennenlernte. Dies war schon bei Ludheim der Fall gewesen. Anfangs lehnte sie ihn als Adoptivvater ab, am Ende sah sie ihn zwar nicht als Vater, aber als eine Vertrauensperson an.
Beide genossen den Wein in vollen Zügen. "Jetzt habe ich doch mal zu mir eingeladen." scherzte Jayna und Alma erinnerte sich daran, dass Jayna anfangs sehr dagegen war. "W-wir haben uns ja jetzt schon öfters gesehen, da ging das in Ordnung." meinte Jayna und nippte nervös an ihrem Gals. "Beim nächsten Mal kommst du einfach zu mir." lachte Alma und lockerte die Stimmung weiter auf.
"Ja... Die Wohnung habe ich nach seiner Erlösung von meinem Ziehvater übernommen. Da ich einer Heilerlehre abgeschlossen habe, durfte ich bleiben. Hier wohnen nur Heiler, um bei Notfällen sofort bei der Arbeit sein zu können." erzählte Jayna um das Gespräch in Gang zu halten. Alma nickte und sah sich die Wohnung weiter an. Dabei entdeckte sie die Bilder an der Wand und Jayna bemerkte ihre Aufmerksamkeit.
Alma lief zur Wand und musterte die Bilder. das alte Foto von Ludheim und seiner Frau hingen ebenfalls dort. Sie sah ein Bild von Jayna mit ihren Eltern. Ihren großgewachsenen Vater Jerome kannte Alma noch, aber es war das erste Mal, dass sie Jaynas Mutter sah. Eine zierliche Frau mit schwarzem Haar, Augenringe, spitzer Nase. Sie trug weite Kleidung. Auf dem Bild war es eine weiße Wolljacke. Unsicher sprach Jayna darüber. "Das ist meine Mutter, Yui. Sie ist mit meinem Vater im Kinderheim großgeworden. Beide kannten sich schon von klein auf an und er hat sie immer beschützt, wenn andere Kinder gemein zu ihr waren. Er hat ihr auch geholfen, eine Therapie wegen ihrer Bulimie zu finden. Sie hat es nicht verdient gehabt, so grausam an den Krebs zugrunde gerichtet worden zu sein." Seufzend nahm sie einen Schluck ihres Weines.
"Und Vater... es fällt mir immer etwas schwer über ihn zu reden. Im Leben hätte ich ihn als tollen Familienvater bezeichnet, aber im Tode... Ich habe ihn nach wie vor lieb, aber er hat Dinge getan, wofür ich mir einst die Schuld gab, dass er sie tat." seufzte sie und senkte ihren Kopf.
Alma blickte zu ihr und überlegte, was sie sagen sollte, entschied sich aber dann für die pure Ehrlichkeit. "Du kannst mir davon erzählen. Ich weiß, wer dein Vater war und was er tat. Mein Onkel arbeitete an den Fall." Jayna versuchte zu schmunzeln. "Ich hätte es mir denken können... Mittlerweile kann ich damit leben... Er fehlt mir und ich weiß, dass ich ihn nie wiedersehen werde. Trotzdem fühle ich mich manchmal nur wie die Tochter eines Mörders. Auch wenn ich Elliot und seine Kinder sehe denke ich oft, dass es meine Schuld ist, dass ihnen ihre Mutter geraubt wurde." Sie seufzte und Alma dachte an ihre einstige Auszubildende Amelia.
"Wenn ich mich nicht umgebracht hätte, wäre mein Vater nie auf die Idee gekommen, die Opfer von Suicide Hangman erlösen zu wollen." Es kam Alma fast so vor, als würde Jayna ein Weinen unterdrücken, bei der Erwähnung von Suicide Hangman zuckte sie zusammen und umfasste ihr Glas umso mehr. "Mein Vater und ich haben schon einmal darüber geredet. Du hast nichts mit den Taten deines Vaters zu tun. Er hat dies aus seiner Überzeugung getan. Ich verurteile dich nicht dafür, du bist eine eigene Person." sprach Alma ihr ermutigend zu und musterte Jayna, die stillschweigend ihr Glas leerte. Für einen Moment blieb es ruhig. In der Zeit nahm sich Alma den Mut, Jayna mit einer persönlichen Geschichte zu erheitern.
"Weiß du... Auch in meiner Familie gibt es jemanden, der für viel Leid sorgt. Bis vor kurzem wusste ich dies nicht einmal." Beide liefen zur Couch rüber und setzten sich. Jayna fragte nicht weiter nach und ließ Almas aussage so stehen. Stattdessen versuchte sie das Gespräch aufzulockern um die trübe Stimmung zu vertreiben.
"Dann haben wir wohl beide unsere paar Probleme." Sie schmunzelte leicht und Alma tat es ihr gleich. "Lass uns das Thema wechseln. Ich bin sehr glücklich darüber, dass du mich eingeladen hast. Ich weiß das zu schätzen und freue mich darüber." bedankte Alma sich und Jayna fand es schön, dies zu hören. Sie füllte den Wein nebenbei auf. "Und ich finde es toll, dass unser Treffen geklappt hat."
Das vorherige Thema war vergessen.