In früher stund begab sich Gamia mit Niklas zu den Heilern und beide wurden von Felicia empfangen. Während Gamia ihre Oma begrüßte, kam über Niklas Lippen kein einziger Ton. Auf ihre Bitte, dass er sich hinsetzen möge, reagierte er nicht und kam erst in Bewegung, nachdem Gamia ihn an die Hand nahm und zum Behandlungstisch führte. Felicia kontrollierte sein Reaktionsvermögen. Mit einer kleinen Lampe leuchtete sie in seine fahlen Augen, dessen Pupillen keine Veränderung zeigten. Wenn sie mit ihrer Hand vor seinen Augen winkte, folgte sein Blick ihr keinen Moment. Sie testete sein körperliches Empfinden, Temperaturempfinden, Schmerzempfinden, aber keines davon schlug an. Beim Testen seines Schmerzempfinden bemerkte Felicia, dass Niklas keine zurückweichende Reaktion zeigte. Sie konnte ihn zwicken und er verzog keine Miene. Sie ging dazu über, seine Reflexe zu testen, schlug gegen seine Kniesehne und wartete den Spinalreflex ab. Es geschah nichts.
Gamia stand neben ihrem Liebsten und ihrer Oma und beobachtete beide. Ihre Hände faltete sie vor den Mund zusammen, auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. Felicia sah ihre Enkelin mit einem besorgten Blick an und schüttelte den Kopf. „Ich könnte einen lauten Knall neben ihn erzeugen, er würde nicht darauf reagieren.“ Erwähnte sie und blickte dabei zu Niklas Ohr. In diesem Augenblick wand sich eine riesige Fliege ihren Weg aus seinem Gehör und Felicia wich zurück. „Wie?“
Sie nahm ein Otoskop, um in seine Ohren zu schauen. Beim Blick in seinen Gehörgang weiteten sich ihre Augen und sie ließ von seinen Ohren ab. Felicia drehte sich zu Gamia um.
„In seinem Gehörgang sind ganz viele Insekten. Die Behandlung schlägt nicht an. Er verwest weiterhin von innen.“
Gamia musste sich setzen. Ein Schwall Tränen überkam sie. „Ich werde ihn von Kopf bis Fuß von innen beleuchten.“ Informierte Felicia. Diese Worte hörte Gamia nicht. Sie ließ ihre Oma ihre Tätigkeit ausführen.
Gemeinsam mit Jackson machte sie Aufnahmen seines Inneren. Bei seinem Kopf fingen sie an und erstarrten direkt bei den Bildern. Sein ganzes Gehirn war am Verwesen und von Insekten übersät.
Das Gehirn war das einzige innere Organ, welches sie ihn bei der Operation nicht entnommen haben. Die Heiler sahen sich an und waren sich mit ihren Gedanken einig. Für Niklas gab es keine Heilung mehr.
Felicia holte Gamia zu sich, während Jackson Niklas versorgte. Vertraulich wollte sie mit ihr über ihn sprechen. Mit hängendem Kopf saß Gamia auf den Stuhl ihrer Großmutter gegenüber.
„Es ist aussichtslos, oder?“ Wisperte Gamia und Felicia nickte langsam, bevor sie ins Detail ging. „Er ist dem Tode geweiht.“ Japste Gamia und ihre Hände verdeckten ihre tränenden Augen. „Was kommt jetzt auf ihn zu?“ Felicia wurde still und wusste selber keine Antwort.
„Ich denke, wir werden mit dem Tod und Mutter Natur über seinen Verbleib sprechen müssen.“
Der Sensenmann zog eine autoritäre Ausstrahlung mit sich, während seine Schritte in den Fluren der Heilerabteilung widerhallten. Die Robe streifte über den Boden. Er klopfte an der Tür zu Felicias Arbeitszimmer.
„Guten Tag, ich habe euer Schreiben erhalten. Wo befindet sich die betreffende Person?“ Fragte er beim Eintreten. Gamia und Felicia hatten bereits auf ihn gewartet. Gamia knabberte an ihren Nägeln und blickte den Tod mit Sorgenfalten auf der Stirn entgegen. Felicia brachte den Tod in den Nebenraum, um ihn Niklas zu zeigen.
Er stand vor Niklas, der regungslos auf der Liege saß und sich kein Stück bewegt hat. Eine genaue Musterung von Niklas war nicht vonnöten. Gevatter Tod konnte sich schnell ein Bild machen.
„Er ist gestorben. Seine Seele ist in seinem Körper gefangen, kann aber nicht hinaus. Seine Todesengelseite hindert diese daran.“ Gamia war derweil auf den Türrahmen zugelaufen und hatte alles mitangehört. Ihre Oma warf einen kurzen unbemerkten Blick auf sie.
„Was können wir tun?“ Hauchte Felicia und blickte zum Tod.
„Wir werden mit Mutter Natur sprechen. Ich würde ihn und Gamia gerne in den Garten Eden nehmen.“ Er hatte sie bemerkt und blickte sie nun direkt an. Gamia nickte nur und kam näher. „Ich würde dies umgehend erledigen. Wir haben nicht genug Zeit.“ Er holte seine Sense hervor, öffnete ein Portal und nahm Niklas auf die Knochenarme. Ein letzter Blick zu Gamia folgte, der ihr sagte, mit ihm durch das Portal gen Garten Eden zu treten. Sie ging mehrere Schritte hinter ihm. Das Portal schloss sich hinter ihnen. Felicia verblieb alleine zurück in dem Zimmer.
Des Todes knochigen Füße berührten den grünen Rasen des Garten Edens. Er durchstreifte diesen auf den Wege zu Mutter Natur. Wie er es bereits erwartete, fand er ihre Anwesenheit in der besagten Lichtung wieder. Sie spürte seine Anwesenheit bereits und erhob sich von ihren Schneidersitz. Ihr Körper war unbedeckt und sie stand in ihrer vollen nackten Blüte vor dem Tod und seine Begleitung. Sie sah Niklas auf seinen Armen. „Leg ihn bitte auf den Rasen.“ Der Tod tat wie ihm geheißen.
Mit offenen Augen, die ins Leere starrten, lag er auf den Rücken im Rasen.
„Bitte hilf uns.“ Bat Gevatter Tod und erzählte Mutter Natur von Niklas Zustand.
„Ich habe bereits damit gerechnet, dass ihr mich aufsuchen werdet. Ich habe viel über seinen Zustand nachgedacht und bin auf eine Lösung gekommen.“ Diese Worte hellten Gamias Gemüt auf. Gebannt hörte sie Mutter Natur zu.
„Wir werden seine Seele gemeinsam geleiten, Tod.“, während sie sprach, sah sie den Sensenmann in seine leeren Augenhöhlen. „Während des Geleits werde ich seine Seele fragen, ob er fortan im Garten Eden oder als Todesengel weiterleben möchte.“ Gamia zuckte zusammen und verschränkte die Arme. Ihr Kopf war gesenkt. „Ich denke das müssen sie ihn nicht fragen. Ich kann mir denken, welche Antwort er wählen wird.“ Leise kamen diese Worte über ihre Lippen. Mutter Natur nickte und bat Gamia, beide alleine zu lassen. Ungern wollte Gamia gehen und kam dieser Bitte nur schwer nach.
Mutter Natur und Gevatter Tod knieten sich zu Niklas. Sie knieten nebeneinander, der Tod mit der Sense in der Knochenhand. Er führte die Sense an Niklas Brust heran. Bevor er die Brücke aufbaute, umfasste Mutter Natur zusätzlich den Sensenstab und seine Knochenhand. Ihre Augenlider schlossen sich und sie nahm einen tiefen Atemzug. Sie bauten eine Brücke zu Niklas Seele auf.
Beide standen sie vor Niklas Seele, die zusammengekauert hockte, die Arme fest um die Beine geschlungen. „Ich will aus diesem Körper raus.“ Es war nur ein Wispern, aber Mutter Natur hörte ihn laut und deutlich. Sie stand vor ihm und er bemerkte ihre Präsenz, schaute zu ihr hinauf. Mutter Natur beugte sich zu ihm hinunter. „Wir sind hier, um deine Seele zu geleiten und ich möchte dich fragen, ob du als Todesengel weiterexistieren oder im Garten Eden leben möchtest.“
„Ich möchte in den Garten Eden, raus aus diesem Körper und kein Todesengel mehr sein!“ Mutter Natur nickte und Niklas vernahm die erlösenden Worte des Todes: „Niklas Lenner, ich geleite Sie in den Garten Eden.“
Seine Seele betrat die Brücke auf den Weg zur ewigen Erlösung.
Der Tod setzte die Sense ab, Mutter Natur löste ihren Griff und öffnete die Augen. Mit ihren Fingern schloss sie Niklas Augenlider.
Kurz darauf geschah mit seinem Körper ein ganz eigener Verwesungsprozess. Er verfaulte, trocknete aus und wurde zu Asche, Erde und Staub. Nicht seine gesamte Hülle verfiel in ihre Bestandteile. Ein Teil blieb über, wie seine Knochen, ein einzelner Oberarm und ein Stück seines rechten Fußes.
„Wir sollten Gamia berichten.“ Flüsterte Mutter Natur und der Tod stand auf, um sie zu holen. Der Tod warnte sie vor, dass kein schöner Anblick sie erwarten würde, trotzdem folgte sie ihm.
Gamia stand vor seinen zerfallenen Körper. Sie starrte auf diesen, ihr Blick leer. Langsam, je mehr sie realisierte, er war von dannen, bahnten sich die Tränen ihren Weg, kullerten erst leise ihre Wange hinunter und wurden immer mehr. Ihre Beine gaben nach, ließen sie auf das Gras stürzen. Die letzte Kraft in ihren Armen stützte sie gerade so. Ihre Lippen zitterten, die Mundwinkel verzogen sich unkontrollierbar nach unten. Ein Schrei, ein Schrei erfüllt von tiefem Leid, voller Schmerz, durchbrach die Stille des ruhigen Ortes Eden. Ihre Arme umklammerten sie selbst. Sie setzte erneut zum Schrei an, ließ alles raus, was in ihr zerbrach. Sämtliches Gefühl für Raum und Zeit ging verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie schrie, sei weinte, gebrochen auf den Rasen lag. Ihr Rücken war gebogen, die Stirn auf das Grün gelegt, die Augen geschlossen, die Zähne zusammen gebissen, das Gesicht verkrampft.
„ER IST FORT!! ICH WILL IHN BEI MIR HABEN!! ICH KANN DAS NICHT!! ICH WILL DAS NICHT!! ICH WILL ZU IHM!!“ Ihre Stimme ein verzweifelter Schrei von Tränen erstickt.
Mutter Natur fühlte diesen Schmerz wie ihren eigenen, vergoss Tränen, beugte sich beschützend über sie, den Arme streichelnd auf ihren Rücken. Sie sagte nichts. Sie war nur da in dem Moment, wo Gamia brach. Von Zeit zu Zeit wurde Gamia ruhiger, hörte zu schreien auf, die letzten Tränen vergossen. Es war, als hätte Mutter Natur ihren gesamten Schmerz absorbiert, in sich aufgenommen, sie gelindert.
„Er hat sich für den Garten Eden entschieden, oder?“ Wisperte sie und Mutter Natur nickte. „Ja, hat er.“
„Kann ich ihn sehen?“
„Ja, er wird sicher bei seinen Geliebten angekommen sein. Lassen wir ihn einen Moment. Möchtest du dir nicht auch einen Moment geben?“ Von Gamia kam nur ein Schniefen zur Antwort.
„Warum hast du ihn erschaffen, wenn sein Tod so grausam ist? Was wäre gewesen, hätte er nicht von alldem gewusst?“ Bei ihrer Frage ließ Mutter Natur von ihr ab.
„Ich musste ihn so erschaffen, der Himmelsfürst hat es befohlen.“ Mutter Natur senkte den Kopf.
„Erschaffe nie wieder etwas wie Mischwesen, Halbblüter. Das ist grausam. Er hat wegen seiner Existenz gelitten, wusste nie, was er wirklich ist.“ Gamias Worte versetzten Mutter Natur einen kleinen Stich, nachvollziehen konnte sie Gamia trotzdessen.
„Es wird keine weiteren Halbblüter geben, das verspreche ich.“