Shadia war im Garten Eden zuerst auf Amy, Elias und Tomas getroffen. Sie trug das Erscheinungsbild einer Frau Anfang 30. Ihre Finger umklammerten ihr schwarzes Kleid und sie starrte unentwegt auf die weiße Tür vor sich. Zaghaft klopfte sie an der Tür.
Am anderen Ende sprach ein kleiner Engel mit einer Frau in einem dunkelblauen Sommerkleid und einen hellblauen dünnen Schal um den Hals. "Wer klopft da?" fragte sie diesen gereizt.
"Es ist Shadia Fukkatsu, ihre-"
"Ich weiß, wer das ist. Lass sie rein." Der kleine Engel nickte und vor Shadia öffnete sich die Tür nach innen. Sie betrat den Raum vor sich. Eine kleine Wohnung zeigte sich ihr. Eingerichtet mit einem kleinen schwarzen Sofa, einem ebenso schwarzen Beistelltisch und ein Holztisch mit drei Stühlen dran. Die Tür hinter ihr schloss sich und Shadia blickte einer Frau mit langen braunen gewellten Haar entgegen. Sie besaß füllige Augenbrauen, blaue Augen und ein Muttermal unter dem linken Auge. Sie sah Shadia für einen Augenblick mit hochgezogenen Augenbrauen an. Shadia wusste kaum, was sie sagen sollte. "H-hallo. Du bist meine Mutter." brachte sie hervor und sie entgegnete: "Vivianne, nenn mich Vivianne, nicht Mutter." Ihre Aussage schnitt Shadia innerlich. Vivianne musterte Shadia aufmerksam und verschränkte dabei die Arme. "Was möchtest du hier?" fragte sie und Shadia senkte den Kopf. "Ich wollte dich einmal persönlich kennenlernen und nicht nur anhand von Bildern oder Erzählungen." Vivianne nickte.
"Aha. Was hat man dir denn so erzählt?" Shadia hielt einen Moment inne. Ihr fehlten die richtigen Worte.
"Du hast dich vom Bestattungsinstitut distanziert, dein Leben gelebt, gefeiert."
"Und mich vergewaltigen lassen?"
Shadia blieben die Worte im Halse stecken bei der kalten Aussage ihrer Erzeugerin. "Du hättest mich abtreiben können, aber du hast es nicht getan." hauchte Shadia und Viviannes Hand zuckte kurz. Ihr Blick weitete sich kurz und besaß dann etwas nachdenkliches.
"Ich konnte kein ungeborenes Lebewesen töten. Mit fünf sah ich meinen ersten Toten und das Bild blieb mir bis heute im Kopf. Ich musste mir immer am Mittagstisch anhören, wer heute beerdigt wurde. Es erschien mir falsch, ein Kind zu töten und zu hören, wie die eigene Schwester die Beerdigung für ein Elternteil plant, welches ihr Baby verloren hat. Ich wollte nie eine Mutter werden. Ich wollte frei sein. Meine Schwester hätte die sein sollen, die ein Kind bekommt." Vivianne sah zur Seite. Shadia legte ein leichtes Lächeln auf.
"Danke, dass du mich auf die Welt gebracht hast." Vivianne zuckte nur mit den Schultern und meinte trocken: "Hat mich auch nur mein eigenes Leben gekostet." Leise lachte sie und flößte Shadia ungewollt ein schlechtes Gewissen ein.
"Ich erfuhr erst mit 15 die ganze Wahrheit um meine Herkunft. Es hat mich damals wochenlang beschäftigt, nachdem ich erfuhr, dass ich bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde. Dies zu verarbeiten hat gedauert." Shadias Augen funkelten leicht. "Aus dir ist trotz allem etwas geworden." meinte Vivianne und diese Aussage überraschte Shadia. "Ich habe das Institut übernommen und einen Sohn bekommen. Ich hatte ein schönes Leben." Vivianne hörte Shadias Worten zu.
"Dann hat es sich damals gelohnt, sich mit den Tod anzulegen." schmunzelte sie und Shadia sah Vivianne irritiert an. "Wie meinst du das?" Vivianne lockerte ihre Haltung.
"Nach meinem Tod kam ich in das sogenannte Zwischenreich. Ein bescheuertes Konzept. Ich wollte mit dem Tod nichts zu tun haben und dann sollte ich die Seelen Unbekannter geleiten? Ich verblieb bei diesen Aktenschreibern, bis mir deine Akte unterkam." Shadia zuckte zusammen und verspürte einen Kloß im Hals.
"Du solltest mit fünf Jahren angefahren und daraufhin ein Pflegefall werden. Jahre danach solltest du friedlich einschlafen." Shadias Augen weiteten sich und sie schlug die Hand vor den Mund.
"Ich erinnere mich. An diesen Tag bin ich unachtsam über die Straße gerannt und hatte das Gefühl, jemand hätte mich geschubst. Das Auto bremste scharf und ich lag heulend mit aufgeschürften Knien und Händen auf dem Asphalt. Elias und der Autofahrer glaubten lange jemanden gesehen zu haben, der mich rechtzeitig, bevor ich angefahren werden konnte, weg stieß." Sie krallte sich an ihr Kleid und Vivianne entgegnete: "Gern geschehen. Der Tod führte danach ein erzürntes Gespräch mit mir, sich nicht in das Schicksal anderer einzumischen. Aber ich habe ihm gesagt, ganz ehrlich, ich lasse mich nicht vergewaltigen und sterbe nach der Geburt, nur um dann mit anzusehen, dass du ein Pflegefall wirst und früh stirbst? Sorry, das Schicksal konnte mich mal. Nenn es von mir aus Mutterliebe oder so ein Quatsch." erzählte sie und Shadia erkannte Erleichterung in Viviannes Blick. Ihre Erzählung schwirrte in Shadias Kopf und sie weitete die Augen.
"Deshalb konnte ich die Anwesenheit von Todeswesen spüren." hauchte sie und Vivianne zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: "Kann sein."
Shadia verspürte Dankbarkeit für ihre Erzeugerin. "Du... Mein Erzeuger, kanntest du ihn?" fragte sie leise und Viviannes Hände ballten sich zu Fäusten.
"Ja, ja ich kannte ihn. Er ging in meine Parallelklasse. Wir sahen uns immer im Deutschkurs. Er hing immer mit noch wem rum und stand wohl damals schon auf mich. Ich traf ihn auf einer Feier wieder und den Rest kennst du ja. Er erfuhr nie von deiner Existenz. Ich hätte ihn aufsuchen und es ihm sagen können, aber wer wusste, wozu er fähig war. In der Schulzeit soll er schon Leute gekannt haben, die Drogen und anderen scheiß verticken." Shadia hatte das Gefühl, ihre Erzeugerin erzählte ihr nicht die ganze Wahrheit. Gleichzeitig erhielt sie Einblicke über den ihr unbekannten Erzeuger.
"Wie hieß er?" Augenblicklich verzog sich Viviannes Gesicht.
"Ich möchte, dass du jetzt gehst und mich in Ruhe lässt." Der plötzliche Stimmungswechsel ließ Shadia zusammen zucken. "Oh, okay. Entschuldige ich hätte sowas nicht fragen sollen." Sie senkte den Kopf.
"Danke, dass du mich trotzdem geboren und beschützt hast." Sie drehte sich um und verließ den Raum durch die Tür. Ihre Mutter blieb perplex über diese Worte im Raum stehen und beobachtete, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie setzte sich auf das Sofa und faltete die Hände zusammen.
"Ich hatte damals selber schuld."
Shadia wanderte durch den Garten Eden und ließ den Kopf hängen. Das Gespräch hatte ihr zugesetzt, sowohl die Erkenntnisse wie auch das abrupte Ende. Unter einem Baum ließ sie sich auf die Knie fallen. Sie wusste nun, wer und wie ihre Mutter war, ebenso dass sie schon vor Jahrzehnten hätte sterben sollen. Starr blickte sie vor sich hin und bekam ihre Umgebung nicht mehr mit. Leise Tränen rollten ihr Gesicht hinunter.
Eine Hand berührte ihre Schulter und ließ Shadia zusammen zucken. Trotz allem hatte die Berührung einen angenehmen Effekt auf Shadia und sie hörte auf zu weinen. Sie drehte den Kopf und erblickte das sanftmütige Gesicht von Mutter Natur. "Ich sah deinen Kummer von oben, Shadia. Was lastet auf dir?" fragte sie in ihrer wohltuenden Stimme. Daraufhin beichtete Shadia ihr Leid.
"Möchtest du wissen, wer dein Erzeuger ist?" Shadia nickte nur. Mutter Natur half ihr hoch und bat, ihr zu folgen. Beide knieten vor einen kleinen Teich, an welchen sich ein Bild formte.
"Der bürgerliche Name deines Erzeugers war Jonathan Klizowski."
Das Wasser zeigte das Bild eines schlakisigen Mannes mit schwarzen kurzen Haar, welches er auf der linken Seite zu einem längeren Scheitel trug. Seine Augen waren braun und er hatte einen kurzen Kinnbart. Er besaß Piercings, unteranderem ein Lobe, Upperlobe, Eyebrow, Nostril, Dimple und Vertical Labret. Shadia tauchte in die Erinnerungen der früheren Zeit ein.
Der 15-jährige Jonathan saß neben einen dünnen Jungen mit langen, braunen Haar in der Klasse. Auf dem Tisch lagen ihre Deutschbücher.
"Steve, da ist sie wieder." flüsterte Jonathan dem Jungen zu, der kurz aufblickte und zu Vivianne sah, die in einer ausgefransten Jeans und weißen Top den Klassenraum betrat. Steve fing zu kibbeln an und lehnte dabei einen Fuß auf die Tischkante. "Du stehst doch nur auf sie, weil ihr Vater Bestatter ist." murmelte er und Jonathan ging sicher, dass Vivianne sie nicht gehört hat.
"Ne, ich mag einfach ihre Art. Sie hat sowas bissiges, rebellisches. Das mag ich."
"Du stehst einfach auf Zicken, gibt's doch zu." Beide beobachteten wie zwei Mädchen, freizügig gekleidet, zu Viviannes Tisch liefen.
"Viv, kämmst du dir eigentlich irgendwann mal die Haare oder kommt das vom im Sarg schlafen?" kicherte eine der beiden und Vivianne funkelte sie finster an. Jonathan hörte dies und rief laut: "Ziemlich große Worte für eine Presswurst wie dich. Möchtest du es lieber nicht mit einer 5XL Jeans statt mit Hotpants probieren?" Er grinste fies und empört starrte das Mädchen zu Jonathan rüber. Vivianne und weitere Mitschüler fingen zu lachen an. Jonathan fühlte sich mit seinen Tun bestätigt. "Halt die Fresse, Grufti!" blökte das Mädchen, aber Jonathan sah sie nur grinsend an. Mit dem Finger zeigte er eine Träne und streckte ihr die Zunge raus. Mit ihrer Freundin verließ sie das Klassenzimmer und stürmte auf die Toilette. Jonathan lehnte sich zu Vivianne rüber.
"Ich mag deine Haare." Vivianne sah ihn kurz an und meinte dann trocken: "Danke, aber das hätte ich auch alleine gekonnt."
In der Pause saßen Jonathan und Steve auf einer steineren Tischtennisplatte. Immer wieder blickte er zu Vivianne rüber, die bei einer Mädchengruppe stand. Diese zeichnete er auf seinem Collegeblock und hob dabei Vivianne hervor.
"Ich glaube ich frage sie später nach einem Date." meinte er und holte Steve aus seiner Trance. Er spielte mit der Kette an seiner Punker-Hose. "So wie die drauf ist zweifle ich deine Chancen doch sehr an." Augenblicklich bemerkten sie, dass sich die Gruppe Mädchen umdrehte. Genervt rollte Vivianne mit den Augen. Amy kam auf ihre Schwester zu und überreichte ihr eine Brotdose.
"Vater hat unsere Brotdosen vertauscht." Vivianne nahm diese beschämt entgegen. "Die hättet du auch behalten können, das hätte ich sowieso nicht gegessen. Ist ja peinlich, dass du in der Pause mit einer Brotdose zu mir kommst." zischte Vivianne und verletzte Amy mit diesen Worten.
"Ich meine es nur gut. Entschuldige."
"Ich verhungere lieber." Amy senkte den Kopf. "Ist gut, ich mach das nicht noch einmal. Meine kannst du auch behalten. Ich muss dann wieder los. Die Lehrer wollen noch was von mir wegen dem Abschlussball."
"Tue was du nicht lassen kannst, Schülersprecherin." betonte Vivianne scharf gestochen. Jonathan und Steve hatten das Szenario mitbekommen.
"Sie sagt ihre Meinung und hat Selbstbewusstsein, das gefällt mir." schmunzelte er und verdeckte mit dem Collegeblock seine Erregung. Nach einem Date fragte er sie nicht mehr.
Neun Jahre vergingen und Jonathan saß mit Steve an der Theke der Bar des Clubs, in dem sie sich aufhielten. In einem schwarzen Hemd mit Rabenprint und einer kurzen Hose mit Nieten saß er da und genehmigte sich seinen zweiten Long Drink.
"Ich muss noch das Portrait weiterzeichnen für diese Familie mit dem kranken Kind." erzählte er und Steve, der bereits seinen vierten Drink hatte, meinte: "Boah, was du alles so machst. Selbstständig mit deinem Piercingstudio und deinen Malerein. Hätte ich gar kein Bock drauf. Arbeite selbst und arbeite ständig." Er rülpste und Jonathan entgegnete nur: "Ja und ich habe kein Bock, mein Talent zu vergeuden." Steve lehnte sich zurück und steckte die Hände in die großen Hosentaschen. Jonathan beobachtete die Leute und ihm fiel eine Person besonders ins Auge.
"Da ist Vivianne!" Er boxte Steve gegen den Oberarm. "Autsch!"
Vivianne kam an die Theke gelaufen und Jonathan ergriff seine Chance.
"Hey, lange ist es her, Vivianne." Sie blickte ihn an und überlegte.
"Jonathan?" Er nickte.
"Darf ich dir einen Drink spendieren?" Vivianne verschränkte den Blick. "Ne, lass mal. Ich habe selber genug Geld, mir was zu kaufen." Die Tresenfrau reichte ihr einen Long Drink. In seiner leichten Angetrunkenheit gab Jonathan nicht auf. "Wenn ich dich nicht zu einem Drink einladen darf, darf ich dich vielleicht auf ein Date einladen?"
Vivianne spuckte fast ihren Drink aus und verfiel in Gelächter.
"Ahahahaha! Dein Ernst? Du? Mit Typen wir dir fange ich doch nichts an! Bist du nicht eh auf der falschen Party, du Grufti?" Lachend mit dem Drink in der Hand verließ sie die Theke und eilte zu ihren Freunden. Jonathan umfasste verstärkt sein Glas und biss die Zähne zusammen. Er starrte ihr finster hinterher. "Der zeig ich´s!" keifte er und wollte aufstehen, aber Steve hielt ihn auf.
"Bro, wir können nicht wegen einer Prügelei rausgeworfen werden." Jonathan hielt inne, blieb sitzen und trank von seinem Vodka-Cola. Er behielt Vivianne den restlichen Abend im Auge und sah, wie sie den Club verließ. Steve war eingeschlafen und Jonathan folgte Vivianne unauffällig. Sie lief alleine und kam an einer kleinen Parkgegend vorbei. Jonathan erhöhte sein Schritttempo und packte Vivianne von hinten. Er hielt ihr den Mund zu, hob sie hoch und zerrte sie in den Park. Er warf sie auf die Grasfläche, Vivianne hustete und verstand vor Trunkenheit nicht, was vor sich ging, aber sie verspürte große Angst. Jonathan beugte sich über sie und hinderte sie am aufstehen. "Ich habe dir immer geholfen und war nett zu dir. Trotzdem besitzt du die Dreistigkeit, mich so abzuservieren." Er zog ihr die Hose aus und entledigte sich seiner, bevor er ihre Beine spreizte.
"Ich werde dich schon zu meinem machen."
Die Bilder verschwammen und das Wasser wurde klar. Mit geweiteten Augen starrte Shadia auf das Wasser. "Er erfuhr nie von deiner Existenz, bis zu dem Tag, wo er in die Hölle kam. Seine Worte, als ihm dies mitgeteilt wurde waren, dass er stolz sei, Vivianne für immer an sich gebunden zu haben."
Shadia verspürte einen Kloß im Hals und könnte sie spucken, hätte sie es getan. Tränen flossen über ihr Gesicht und sie fand sich in Mutter Naturs Armen wieder. Shadia hatte etliche Gedanken im Kopf, aber sie konnte sie nicht in Worte fassen. Stattdessen sprachen ihre Tränen für sie.
Mutter Natur verblieb bei Shadia, bis die letzte Träne vergossen war und brachte sie zurück zu ihrer Tante und Onkel. Sie saßen im Wohnzimmer zusammen. Shadia bemerkte die kleinen Engel auf Amys Schulter. Sie erzählte ihnen von dem Besuch bei ihrer leiblichen Mutter. Amy senkte den Kopf. "Uns hat sie leider auch von sich gewiesen." gestand Amy und schmiegte sich an Elias. "Wir wünschten auch, es wäre anders."