Früher hätte Vicky in ihrem Chat über den Vorfall geschrieben, heute löschte sie diesen endgültig. Die gesendeten Nachrichten nach dem Vorfall las sie nicht einmal mehr. Mit keinem aus der Gruppe wollte sie mehr was zu tun haben. Mit der Löschung des Chats war das Thema für sie abgeschlossen.
Sie nahm sich ihre Kopfhörer und setzte sich auf ihr Bett, um zu meditieren. Vicky wollte mit Mutter Natur sprechen.
Eine Weile meditierte sie, doch fand keinen Anschluss zu Mutter Natur. Vicky wollte die Meditation bereits abbrechen, bis ihr Mutter Naturs Erscheinung bewusst wurde. Seit längerem konnte Mutter Natur nicht mehr mit jeder ihrer Venefica sprechen. Sie hätte gerne mit Vicky über das Universum gesprochen, doch sie war zu erschöpft und musste zurück zu den Hüllen. Mutter Natur brachte nur einen Satz hervor, der Vicky zusammen zucken ließ.
"Ich kann nicht mehr."
Vicky beendete die Meditation und war komplett im Gedanken bei dem, was ihr Mutter Natur gesagt hatte. Zu Vickys Glück waren ihre Eltern daheim und sie setzte sich zu ihnen auf die Couch. Liam sah ihr an, dass es ihr nicht gut ging und schaltete den Fernseher auf stumm. "Was ist los?" fragte er mitfühlend und Vicky seufzte, als sie davon erzählte: "Ich habe die Gruppe gelöscht." Dies fanden ihre Väter gut. "Mir bereitet das mit dem Atomkraftwerk sorgen. Es wird schlimmer auf der Welt." murmelte sie und Torben ergriff das Wort.
"Deshalb ist es nicht gut, sich durchgehend damit zu befassen. Umweltschutz ist wichtig und sich auch über die Folgen bewusst zu werden, aber es beeinflusst dich negativ. Wenn deine Gedanken sich nur um das Negative drehen, ist das nicht gut." erzählte er und zeigte sich überraschend mitfühlend. Vicky hatte mehr Strenge erwartet. Ihr Vater stimmte ihr zu. "Es wäre besser, sich erstmal eine Pause von diesem Thema zu nehmen." riet er und Vicky gab ihren Vätern Recht. Sie nutzte deren Ablenkung und schaute mit ihnen die Serie mit, die sie sahen.
Am Abend lagen Torben und Liam im gemeinsamen Ehebett. "Ich fand es gut, wie du ihr das heute gesagt hast." lobte Liam seinen Gatten und Torben fühlte sich geschmeichelt. "Sie ist immerhin auch meine Tochter." erwiderte Torben und für Liam war es ein weiterer Beweis, dass er den Richtigen gefunden hatte. Nach der Trennung zu Vickys Mutter, zu die er keinen Kontakt mehr hatte, nahm er sich die Zeit für sich und Vicky. Als Vicky 10 war, versuchte er sich wieder aktiv zu treffen, doch einige hatten eine Beziehung abgelehnt, als sie erfuhren, dass er alleinerziehend war. Vicky gab er nie die Schuld, wenn ihn jemand deshalb ablehnte. Schließlich lernte er Torben kennen, welcher sich nie Gedanken um Kinder gemacht hatte, weshalb es ihm egal war, ob sein Gegenüber schon Kinder hatte oder nicht. Seine einzige Bedienung war, dass er das Kind nicht alleine durchfüttert. Er hatte mehr Wert darauf gelegt, dass sich sein Gegenüber auch sein eigenes Geld verdient. Torben wollte niemanden auf seiner Tasche sitzen haben.
Liam erzählte Torben, dass Vicky wieder angefangen hatte, Geige zu spielen, worüber sich Torben freute. "Vielleicht sollte sie wieder zum Musikkurs gehen, als sich mit einer negativen Zukunft zu beschäftigen." murmelte er und Liam fand diese Idee nicht schlecht.
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"Bei all den schrecklichen Dingen, die auf dieser Welt passieren, lohnt es sich nicht mehr, zu leben. Es gibt sowieso keine Zukunft für mich." hauchte ein Mann Anfang 20 und war kurz davor, sich vor dem Zug zu werfen. Er hatte die Nachrichten intensiv verfolgt und wenn die Menschen schon davon sprachen, wie die Welt in wenigen Jahren aussehen wird, überkam ihn die blanke Panik. "Ich halte das nicht aus." hauchte er und mit einem großen Sprung warf er sich vor dem Zug, wobei sein gesamter Körper in die Unkenntlichkeit gezogen wurde. Blut, Organe und Knochen verteilten sich überall auf dem Zug, auf der Strecke und hinterließen eine Spur des Todes. Der Mensch war nicht mehr als solcher zu erkennen gewesen.
Viktorius kümmerte sich um den Verbleib der Seele und brachte diese ins Totenreich. Die Sichtweise des Mannes erinnerte ihn an seine. Er hatte ebenfalls keine Zukunft für sich gesehen. Die Menschen am Bahnhof waren aufgelöst von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Eine Frau fiel vor Schock in Ohnmacht und musste ebenfalls versorgt werden. Von weiten waren bereits die Sirenen zu hören und mit deren Erscheinen verschwand Viktorius in die Totenwelt. Er gab die Akte dem Sensenmann, welcher die Seele bereits in Empfang genommen hatte.
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Mutter Natur war im Himmelsreich und wurde vom Himmelsfürst persönlich empfangen. Der weiße Tod begleitete sie. Dieser konnte Mutter Naturs Zustand nicht mehr mit ansehen und hatte ein Gespräch mit dem Himmels vorgeschlagen. Diesem war Mutter Natur nachgegangen.
In ihrer formlosen Gestalt standen sich Himmel und Natur gegenüber. Abgeschieden stand der weiße Tod im Raum und beobachtete beide. Genau wie Mutter Naturs Auge wurde auch ihre formlose Hülle immer grauer. Obwohl es Sommer war, hatte Mutter Natur keine Kraft.
"Bitte Himmelsfürst, ich brauche eine Pause. Ich kann den Hüllen für deine Seelen nicht gerecht werden. Bitte, nur eine kleine Auszeit." flehte sie und im Raum herrschte Stille.
"Natürlich, Mutter Natur. Ich möchte nicht, dass du daran kaputt gehst. Du kreierst wundervolle Hüllen. Dies soll auch so bleiben." Er zeigte sich verständnisvoll und Mutter Natur dankte ihm. "I-ich werde schnellst möglichst wieder für deine Seelen da sein!" Damit verabschiedete sie sich und der weiße Tod ließ sich das Gespräch kritisch durch den Kopf gehen. Beide betraten den Raum, in welcher Mutter Natur Hüllen erschuf. "Was mache ich nun?" fragte sie sich und konnte nur an das Erschaffen der Körper denken.
"Ich denke, der Garten Eden wartet auf sie." erwähnte der weiße Tod und seine Erschafferin erinnerte sich. "Genau, eine tolle Idee!" Bevor sie allerdings diesen betreten konnte, hielt ihr Gehilfe sie auf.
"Ich fand es komisch, wie der Himmel reagiert hat." Mutter Natur sah ihn fragend an. "Wieso? Er hat genau richtig reagiert."
"Ja, schon. Aber ich fand es komisch, wie schnell es für ihn erledigt war, wo seine Engel dir doch ständig Druck gemacht haben und dir drohten. Sind die Engel nicht die Sprechrohre des Himmels?" Die kleine Sense hielt der Tod gut im Griff. Mutter Natur wusste keine Antwort und ihr Gehilfe sprach weiter. "Warum erschafft der Himmelsfürst nicht die Hüllen? Oder ihr erschafft beide die Hüllen." Mutter Natur versuchte sich zu erklären.
"Wir haben uns die Arbeit schon immer geteilt. Es würde zu viel für einen von uns werden." Ihr Gehilfe hob eine Augenbraue. "Der Himmel wirkt nicht gerade erschöpft. Ihr hingegen schon. Dazu erschaffen sie außer den Hüllen der Menschen noch die der Tiere, inklusive ihrer Seele und der Erde. Kann der Himmel überhaupt Menschenkörper erschaffen?" Mutter Natur senkte den Kopf. "Hinterfrage den Himmelsfürst lieber nicht zu sehr. Er kann das nicht leiden." warnte Mutter Natur fast schon ehrfürchtig und ihr Gehilfe verstummte. Schließlich öffnete sie das Portal zum Garten Eden.
Im Garten Eden entledigte Mutter Natur sich von ihrem Kleid und legte sich nackt in einen See. Sie genoss jede Sekunde in diesem Umfeld. Hier war die Natur ganz unberührt und das gab ihr Kraft. Von dem Geschwulst waren keine Narben geblieben.
Der weiße Tod beobachtete sie und wünschte sich, dass Mutter Natur zur Ruhe kommen würde, doch er wusste, dass dies nicht der Fall sein würde. Er verabschiedete sich von Mutter Natur um zum geleiten der Tiere zu gehen.
Das erste Tiergeleit war eine zweiköpfige Schlange, die sich um die Nahrung gestritten hatten und nun verhungerten. Er geleitete die Tierseelen und fortan lebten die Schlangen getrennt.
Das nächste Tier war ein alter Hund, der beim Tierarzt eingeschläfert werden sollte. Ein Ehepaar mit ihrer 14-jährigen Tochter waren dabei und die Tochter hatte große Tränen in den Augen. Sie war mit diesem Hund aufgewachsen und für sie war es, als würde ihre Kindheit sterben.
"Es ist das Beste für ihn." murmelte ihre Mutter und strich über die Schulter ihrer Tochter. Oft hatte der weiße Tod Tiere gesehen, die eingeschläfert worden. Es war ihm lieber, als wenn sie bis zum letzten Atemzug ihren Qualen ausgesetzt waren.
Gemütlich graste das Reh, bis ein lauter Schuss ertönte und es auf den Waldboden fiel. Mutter Natur war kein Freund vom Jagen und Wilderei, das wusste der weiße Tod. Der Umgang der Menschen mit Tieren zweifelte sie des Öfteren an.
Sein letztes Tiergleit zeigte ihm einmal wieder die Grausamkeit des Menschens. Ein erwachsener Mann versuchte sich als Löwenbändiger aufzuspielen. Dies machte das Tier aggressiv und er griff den Menschen an. Der weiße Tod erblickte Gina, als der Löwe zu einem tödlichen Hieb ansetzte. Drei weitere Männer kamen mit Schusswaffen dazu und schossen auf den Löwen. Eine Kugel versetzte ihn den Todesstoß. Gina geleitete die Seele des Mannes, der weiße Tod die des Löwen.
"Die Menschen werden definitiv über die Grausamkeit des Löwen berichten. Dem Mann wird keine Schuld treffen.", mutmaßte der weiße Tod, als er mit Gina redete. "Dabei ist es ein Raubtier. Nur weil Menschen die Welt in der Hand haben, heißt das nicht, dass sie Herr über alles sind." Er blickte zu Gina, die monoton die blutige Leiche musterte. "Die Menschen herrschen nicht über diesen Planeten. Am Ende des Tages sind sie selber ganz klein." Sie kehrten zurück zu ihren jeweiligen Orten.
Mutter Naturs Pause war kurz gewesen. Nach dieser war sie wieder in den Stress wie schon zuvor gefallen. "Ich muss schnell alles nacharbeiten." keuchte sie und in ihrer Eile machten sie Fehler. Manchen Hüllen fehlten Körperteile, andere waren deformiert. Der weiße Tod sah dies und ergriff ihre Hände. Mutter Natur hielt inne. "Das ist nicht der Sinn einer Pause!", sagte dieser klar und deutlich. "Nach einer Pause sollte man erholt mit neuer Energie weitermachen. Der Himmel soll weniger Seelen erschaffen und dir nicht so viel aufbürden!" Vor Sorge wurde der Gehilfe lauter. Mutter Natur senkte den Kopf. "Es ist leider nicht so einfach." murmelte sie.
"Du hast doch eine gute Bindung zum Himmel und ihr habt die Welt erschaffen, dann könnt ihr sie nach euren belieben gestalten!" warf ihr Gehilfe ein, aber Mutter Natur löste nur den Griff und wandte sich an die Hülle. "Es ist schon in Ordnung so, wie es jetzt ist." hauchte sie und der weiße Tod wusste, dass Mutter Natur ihm eigentlich zustimmte, doch etwas hinderte sie daran, dies in die Tat umzusetzen. Der weiße Tod konnte nur dabei zusehen, wie sich Mutter Natur weiter kaputt arbeitete, während die Glockenuhr immer mehr von Dornen umrankt wurde.