Gina fand sich am frühen morgen beim Tod ein, der sie bereits erwartete. "Begib dich zu Mutter Natur." bat er und Gina öffnete die Seitentür, um in den Garten Eden einzutreten. Mutter Natur erwartete Gina bereits und saß auf dem Gras ihres Waldes. Gina setzte sich Mutter Natur gegenüber hin und die Bäume um sie herum schufen eine Atmosphäre, als wäre dieser Stelle geschaffen für Picknicke oder Gespräche wie diese. Mutter Natur und Gina grüßten sich gegenseitig mit einer leichten Verneigung.
"Ich habe von Gevatter Tod erfahren, was vorgefallen ist, würde aber gerne deine Meinung hören wollen." Mutter Natur hörte gebannt Ginas Sichtweise zu. "Ich habe seine Schwester gehört und als Tod konnte ich ihre Worte nicht verstehen. Es war als-", "Würde man klarstellen wollen, dass man Recht hat und auch nur diese eine Meinung richtig ist?" setzte Mutter Natur den Satz fort und Gina nickte energisch. "Ja!" Mutter Natur legte die Hände auf die Oberschenkel. "Gina, als Wesen wie wir es sind, haben wir eine Distanz zu wahren. Wir wissen, was sich im Universum abspielt, aber wir sind keine Menschen. Was sie denken, fühlen und für richtig erachten, ist manchmal nicht in unserem Verständnis. Selbst mich überraschen meine Geschöpfe mitunter." Sie schmunzelte und lächelte. "Außerdem ist es nicht deine Aufgabe, die Meinung eines anderen zu ändern. Ebenso wenig ist deine Meinung die einzig richtige. Wenn du etwas in all den Jahrhunderten gelernt hast, dann doch sicherlich, dass das Leben nicht nur aus schwarz und weiß besteht-" "Sondern aus vielen Graustufen." fügte Gina leise hinzu. Sie verstand immer mehr, was sie für einen Fehler gemacht hatte. "Ein Mensch wie Heather Willers es ist, hätte es viel besser getan, hätte sie eine tröstende Hand an ihrer Seite gehabt." Gina nickte und senkte den Kopf. Dass Mutter Natur den Namen der Person kannte, wunderte sie nicht. Immerhin hatte Mutter Natur sie geschaffen. "Ich habe nun verstanden." sagte Gina und hoffte, dass die Belehrung vorüber sei, aber dem war nicht so. "Wir sind noch nicht fertig." erklärte Mutter Natur höflich.
"Das letzte Mal, dass du bei mir warst, aus Lehrgründen, war zu deiner Jugendzeit. Erinnerst du dich?" erkundigte sie sich und Gina überlegte.
"Ja, mit 15,16 muss das gewesen sein. Der weiße Tod hatte mich zum Seelengeleit eines Tieres dabei. Das war eins meiner besonderen Momente hier gewesen." erinnerte sich Gina und Mutter Natur kicherte.
"Ja. Ich weiß noch, wie du mir vertraulich erzählt hast, wie einsam du dich beim Tod fühlst. Du wolltest lieber hier bleiben und warst nicht erfreut, als es zurück ging. Es war nicht verwunderlich, als du nicht zu ihm zurück gekehrt bist, als du deine Lehre angefangen hast. Selbst da erwähnte ich ihm gegenüber kein Wort. Es war immerhin ein Versprechen. Wobei es mir zugegebenermaßen nicht leicht fiel, es ihm zu verschweigen. Vor allem, als er nach deiner Lehrzeit besorgt hierher kam." Gina horchte auf. "Er war besorgt?" Wenn sie an den Empfang dachte, als sie wieder bei ihm war, fiel es ihr schwer, dies zu glauben.
"Er kam zuerst zu mir, in der Hoffnung, dich hier bei mir zu finden. Anfangs konnte ich ihn beruhigen, indem ich den Verdacht hegte, dass dir die Lehre viel abverlangt und du danach zurückkehren würdest. Als dem nicht so war, änderte sich die Besorgnis in Wut über das gebrochene Versprechen. Ich konnte ihn und dich verstehen. Es wäre damals besser gewesen, wenn ihr damals ein Gespräch geführt hättet, wie ihr euch fühlt. Auch der Tod hatte mit Problemen zu kämpfen, die er sich nicht unbemerkt anmerken ließ." Gina hob eine Augenbraue.
"Mit welchen denn?" fragte sie neugierig nach und wartete Mutter Naturs Antwort ab. "Er erlaubte mir, dir dies bei Gelegenheit mitzuteilen, ansonsten würde ich schweigen." erwähnte Mutter Natur und Gina bewunderte ihr tugendhaftes Verhalten. "Mit einem Kind generell und einem Kind mit deinem Wesen, war der Tod überfordert. Du kamst als fünfjähriges Kind zu ihm und warst lebensfroh. Er hatte das Gefühl, dir nicht das geben zu können, was du brauchst, dich einzukerkern und nicht für dich da sein zu können. Er fragte sich, warum er dich nicht als volljähriges Mädchen erschaffen ließ." Gina konnte nicht glauben, dass der Tod so gefühlt hatte. Während sie sich eingesperrt fühlte, dachte er, dass er sie einkerkert obwohl dies gegen sein Interesse war. Sie hätten nur miteinander reden müssen. "Er hat dir sicher nie erzählt, warum er dich so erschaffen ließ, wie du bist. Im Gegensatz zu Justin bist du ein Freigeist." Gina nickte.
"Ich weiß, warum ich geschaffen wurde, aber nicht wieso ich so bin, wie ich bin." Mutter Natur fing zu kichern an und legte den Finger ans Kinn. "Eventuell hatte ich da meine Finger im Spiel, hihi. Er kam mit seiner Bitte eines Gehilfen zu mir und dem Himmelsfürst. Er wollte lediglich, dass er eine hübsche weibliche Hülle wie die meine wollte, was mir schmeichelte. Ich schlug den freien Willen vor und dich als kleines Kind zu erschaffen. deiner Charakterentwicklung wegen und um dich von klein auf an zu lehren. Und weil ich dich geschaffen habe, gab ich dir zusätzlich die Fähigkeit, Leben geben zu können." Gina kam das Gesicht ihrer Tochter in den Sinn.
"Eine Zeit lang dachte ich, ich könnte als Sensenmann keine Kinder bekommen. Vor allem als es mit Fritz wenige Jahre nicht klappen wollte." Sie sahen sich lächelnd an. "Danke, dass du mir meine Tochter geschenkt hast." kam es aus Gina heraus, ohne darüber nachzudenken. Beschämt sah Mutter Natur zur Seite. "Danke, aber ich habe damals nur meine Aufgabe erfüllt."
"Trotzdem danke. Rede das nicht klein! Vielleicht war es deine Aufgabe, aber du hast sie wundervoll erfüllt. Er muss so viel Arbeit dahintergesteckt haben." fuhr Gina ihre Lobensworte fort und Mutter Natur errötete. Höflichst verneigte sie sich.
"Ich danke dir vom Herzen." Sie strich sich ihr langes Haar zur Seite. "Ich war schon immer bescheiden wenn es um meine Fähigkeiten ging. Arroganz und Überheblichkeit bringt einen nur zu Fall. Der Himmelsfürst war überheblich und hat mich klein gehalten. In Wirklichkeit hatte er angst vor mir und unterdrückte mich deshalb." erklärte Mutter Natur in einem wohlwollenden Ton, der es angenehm machte, ihr zuzuhören.
"Du darfst dir aber bewusst sein und dich dafür loben, was du kreiert hast." erinnerte sie Gina und Mutter Natur schmunzelte. "Du bist wie Gevatter Tod. Er hat mir auch immer geschmeichelt." Ruhe zwischen beiden kehrte ein und Mutter Natur fragte Gina: "Der Tod bat mich, mit dir eine Lehrstunde über das Leben zu halten. Gibt es etwas, dass du wissen möchtest?" Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. "Was macht für dich das Leben aus?" hakte Mutter Natur daraufhin nach und Gina stockte für einen Moment, bevor sie antwortete. "Das Leben ist das Ergebnis des Zusammenspiels von Körper und Seele. Ein biologischer Prozess. Endet dieser, tritt der Tod ein." Ihre Antwort war schnell aufgesagt, als wäre diese einstudiert.
"Das stimmt, aber Leben kann man nicht nur aus biologischer Sicht betrachten. Es gibt auch eine ethische. Leben definiert sich für jeden anders. Würdest du sagen, dass du am Leben bist?" Irritiert schaute Gina Mutter Natur an.
"Ja? Ich bin vielleicht kein Mensch, aber ich habe Gefühle wie diese, habe eine Familie, einen Charakter und durchlebe Erlebnisse. Gute wie Schlechte." antwortete sie selbstverständlich und Mutter Natur lächelte stolz. "Genau das ist es. Für den einen ist um die Welt reisen Leben, für die anderen ist es auf dem Sofa liegen und lesen. Jeder lebt anders und wie er es für richtig erachtet. Wer das Leben verstanden hat, versteht auch den Tod."
"Ich bin der lebende Tod." kommentierte Gina schmunzelnd und Mutter Natur lachte, wobei sie die Hand vor den Mund hielt. Nachdem wieder Ruhe einkehrte fasste Mutter Natur ihr Schlusswort. "Ich denke du hast das Leben verstanden. Für mich ist die Lehrstunde beendet, wenn du keine Fragen mehr hast." Gina schüttelte den Kopf. "Ich habe keine Fragen mehr." Mutter Natur lächelte. "Erfreulich. Es steht dir frei, ob du zurück zu Gevatter Tod kehren möchtest oder du noch hier verbleibst." Beide erhoben sich aus ihrer knieenden Sitzposition.
"Ich denke, ich werde noch ein bisschen bleiben." Darüber freute sich Mutter Natur.
"Schön. Folge mir."
Seite an Seite liefen sie durch den Garten Eden und Gina konnte mit eigenen Augen sehen wie die Seelen an diesem Ort lebten. Ihnen kamen mehrere Venefica entgegen, die meisten waren nackt wie bei ihrer Geburt. Gina bemerkte ein Pärchen, welches sich öffentlich und hemmungslos der Lust hingab. Unberührt lief Mutter Natur an ihnen vorbei. "Wenn es dir beliebt fühl dich frei, im Wasser zu baden." bot sie an und verwies auf den See. Beide kamen zu einem großen Baum, welchen Mutter Natur bestieg. Gina folgte ihr und sie setzten sich auf einen stämmigen Ast. Von oben konnten sie einen Teil des Gartens erblicken. Ein Rotkehlchen flog auf Mutter Natur zu und machte es sich auf ihren Haar gemütlich. Sie ließ es seelenruhig dort verweilen.
"Ist der Tod der Tiere Seelen geleiten?" erkundigte sich Gina und Mutter Natur bejahte. "Schade. Ich hätte ihn gerne noch einmal gesehen." Vom Baum aus hatten beide ein hütendes Auge auf den Garten. Sie sahen ein Ehepaar, das mit ihren jugendlichen Sohn durch den Garten lief. "Die Seelen aus dem Himmel haben ihren persönlichen Ort. Viele verschlägt es aber in die Natur dieses Gartens." erklärte Mutter Natur und beobachtete die Familie noch einen Moment, bis sie ihr Augenmerk auf Gina richtete. "Weiß du, alle nennen mich Mutter Natur, weil ich all dies geschaffen habe. Mir ist es jedoch vergönnt, ein Kind zu bekommen, wie es bei den Menschen der Fall ist. Natürlich habe ich einen ähnlichen Schmerz gespürt, als der Himmelsfürst aus mir entwuchs, aber ich habe nie eine Schwangerschaft durchleben dürfen. Es ist mir nicht möglich. Wäre es das, hätte ich dich gerne als meine Tochter gehabt."
Gina grinste und wurde leicht rot. "Das schmeichelt mir, danke." Sie sahen stolz zueinander. Gina dachte an die Vorstellung, Mutter Natur als leibliche Mutter zu haben, bis ihr ein anderer Gedanke in den Kopf kam.
"Wie geht es den kleinen Engeln?" Mutter Natur lächelte. Mittlerweile hatte sich ein zweites Rotkehlchen auf ihrer Schulter niedergelassen.
"Ich bot ihnen eine Hülle an. Bis zum Schluss möchten sie aber ihre Aufgabe erfüllen. Danach darf ich ihnen eine Hülle geben. Eine Bitte, die ich natürlich respektiere." Wie gerufen kamen zwei kleine Engel auf sie zugeflogen.
"Da sitzen niedliche Vögel auf Ihnen." merkte ein kleiner Engel an und Mutter nickte vorsichtig, um den Vogel auf ihren Kopf nicht zu stören. "Ich habe noch Platz frei." bot sie an, zeigte ihre freie Schulter, auf welcher es sich beide Engel gemütlich machten.
"Wir haben Ihnen eine Seele mitgebracht." sagten die Engel fast synchron und Mutter Natur nahm das helle Licht mit ihren Händen entgegen. "Ich danke euch. Ich werde der Seele später eine Hülle geben." Sie lächelte den identisch aussehenden zwei Engeln zu. Gina begutachtete Mutter Natur und stand aus ihrer sitzenden Position auf. "Ich werde mich verabschieden. Es hat mir große Freude bereitet bei dir gewesen zu sein." Mutter Natur sah zu Gina. "Mich hat es genauso erfreut. Grüß den Tod von mir." Gina öffnete ein Portal und befand sich daraufhin wieder beim Sensenmann.
Erwartungsvoll sah er sie an. "Konntest du etwas von Mutter Natur mitnehmen?" fragte er sie und Gina nickte. "Ja. Sie lässt übrigens Grüße ausrichten."
"Erfreulich." Der Tod schrieb an seinen Akten und Gina beobachtete ihn dabei. Sie dachte an Mutter Naturs Worte und fasste sich den Mut.
"Sie hat mir von der Zeit vor meiner Lehre erzählt." Der Tod legte die Feder zur Seite und richtete den verdeckten Schädel auf Gina. Er wusste genau, was sie meinte und er war froh darüber, dass sie das Thema ansprach.
"Ich habe nie gedacht, dass du dich damals überfordert gefühlt haben könntest. Ich habe immer nur daran gedacht, dass du mich vernachlässigst und ich mich einsam fühle." sagte Gina mit verschränkten Armen und der Tod stand auf. Er lief zu Gina und stellte sich ihr gegenüber hin. "Es tut mir leid. Hätte ich dir die Aufmerksamkeit gegeben, die du verdienst, wäre es wohl nie dazu gekommen, dass du gehst. Ich kann dich verstehen, dass du gegangen bist. Ich hatte selber schuld an diesem Zustand und hätte dir nicht böse sein sollen." erklärte der Sensenmann und umfasste Ginas Schultern.
"Ich wollte danach nicht wieder gefangen sein wie vorher bereits." Gina sah zur Seite. Der Tod strich über ihre Arme, ergriff ihre Hände und forderte sie daraufhin zu einem Tanz auf. Einen Tanz wie vor mehreren hundert Jahren und vor ihren inneren Auge sah sich Gina in eines ihrer weißen Kleider, die sie immer trug. Beide wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber in diesem Moment war es ihnen egal.