Johannes und Sarah sahen sich öfters. Ihre Gespräche wurden tiefgründiger, die Treffen länger. Beide saßen in Sarahs kleinen Garten. Sarah trug eine dicke Winterjacke und rauchte ihre Zigarette zu Ende.
"Mir tut meine Kollegin schon ein bisschen leid, sie in letzter Zeit oft alleine zu lassen. Mein Vater möchte nur so viel vorbereiten, bevor ich den Laden gänzlich übernehme." erzählte sie nebenbei und Johannes kommentierte: "Dann bist du Frau Chefin Sarah Krachten." zerknirscht lächelte Sarah.
"Ja, zweite Chefin reicht mir aber auch." Johannes wollte sie gerade etwas fragen, aber Sarah drückte die Zigarette aus und stand auf.
Beide verabschiedeten sich voneinander an der Haustür und nachdem Sarah diese schloss, blickte Johannes nachdenklich zu ihrem Wohnort. Er machte sich unsichtbar für die Menschen, nahm seine Sense zur Hand und verschwand zurück in die Totenwelt.
Heather fuhr um halb zehn Uhr morgens zur Arbeit und stellte ihr Auto beim Parkplatz der Bäckerei ab. Sie lief das kurze Stück zum Büro, blieb aber stehen, als sie den Krankenwagen vor dem Büro sah. Sie schwankte kurz nach hinten, als die Vorstellung ihres Bruders, wie er nachdem Unfall versorgt wurde, in ihr hochkam. An der Seite stehend erblickte sie Sarah, die sich in ihren linken Zeigefinger biss. Langsam kam Heather auf sie zu und fragte: "Was ist passiert?"
Sarah erschrak und zuckte deutlich zusammen. "Du bist´s, mensch, puh." Sie seufzte laut. Heather sah in ihr Gesicht und bemerkte, dass Sarah mit allen Mitteln versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. "Geh rein. Ich komme nach." murmelte Sarah und ungerne betrat Heather das Büro. Ihre Gedanken waren bei ihrer Kollegin und diese Gedanken raubten ihr die Konzentration. Mit der Teetasse in der Hand las sie die E-Mail zweimal durch, um den Inhalt zu verstehen. Beim beantworten fehlten ihr die Worte und sie schrieb einen Text, mit dem sie nicht zufrieden war. Es genügte und nach senden der Mail bemerkte sie Sarah das Büro betreten.
Tränen rangen ihr Gesicht hinunter.
"Sorry." hauchte sie und öffnete das Fenster. Ein kalter Windhauch durchfuhr das Büro und Heather zitterte. Sarah suchte ihre Zigaretten.
"Warum war der Notarzt da?" hakte Heather ruhig nach und Sarah sah zu ihr, die Zigarette unangezündet in der Hand. "Vater hatte eine Herzinfarkt. Ist im Büro umgekippt." Sie zündete die Zigarette an und lehnte sich mit den Armen auf die Fensterbank. Heather stand auf, lief zu ihrer Kollegin und strich über ihren Rücken. Die Thematik mit dem Herzen erinnerte Heather an Damians Herzproblem, seinen Herzanfall vor ihren Augen. Eine unliebsame Erinnerung. Sarah wischte sich die Nase an ihren Pullover sauber und rauchte die Zigarette bis zum Schluss auf. An ihren Finger zeigten sich deutliche Bissspuren wieder.
"Was mach ich jetzt nur?" wisperte sie und stützte das Kinn an der Handfläche ab. "Wie wäre es damit, es ruhiger angehen zu lassen?" schlug Heather vor. "Nein, das geht nicht. Ich bin doch die stellvertretende Chefin. Gerade jetzt, der Betrieb braucht mich." Heather hob eine Augenbraue. "Du bist ein Mensch. Dinge passieren und du darfst auch mal fehlen. Und wenn es nur ein, zwei Tage sind." Sarah schüttelte den Kopf.
"Wer kümmert sich dann um alles?"
"Willst du dir ab sofort nie wieder Urlaub erlauben?" hakte Heather gestochen scharf nach und Sarah verstummte. "Mein Vater war ebenfalls Chef einer Firma und der Laden ist auch nicht abgefackelt, wenn er Urlaub hatte." Sarah senkte den Kopf.
"Stimmt auch wieder... Trotzdem! Vater hat mir alles gezeigt und jetzt kommt alles so plötzlich und auf einmal, es überfordert mich." Ein lauter, langgezogener Seufzer entfuhr ihrer Kehle und sie schlug die Hände über den Kopf.
"Ich kann diesen Laden nicht übernehmen." Tränentropfen fielen auf die Fensterbank. Heather holte ihr ein Taschentuch. "Danke." Sarah schniefte in dieses und stopfte es in ihre Hosentasche. "Ich denke es wäre das Beste, wenn du dich zurück nimmst und dir eine Pause genehmigst. Und wenn du dich nur für heute überreden lässt. Dein Vater liegt im Krankenhaus. Du solltest zu ihm." sprach Heather ihr eindringlich ins Gewissen.
"Ich sollte erst meinem Onkel Bescheid geben." Auf Heathers Worte ging sie nicht ein. Sarah griff nach ihrem Handy, das auf dem Schreibtisch lag und kontaktierte ihren Onkel Tomas. Dieser meldete sich schnell.
"Bestattungsinstitut Krachten."
"Hey Onkelchen."
"Sarah? Was rufst du mich so früh an? Was lastet dir auf der Seele?"
"Vater ist heute morgen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er hatte einen Herzinfarkt."
"Wie? Der soll keinen Unsinn anstellen. Ich habe ihn schonmal gesagt, der soll nicht vor mir auf dem Tisch liegen!" Sarah versuchte zu lachen.
"Ich mache heute früher Feierabend und dann gehen wir ihn besuchen. Ich hole dich ab. Bis später. 16 Uhr würde ich sagen."
"Ok, bis später." Sarah legte auf und setzte sich.
"Darf ich dich bitten, heute bis 18 Uhr zu bleiben? Um 16 Uhr werde ich abgeholt." Sie sah zu Heather, die neben Sarahs Schreibtisch stand.
"Klar doch. Du hättest oder hast dasselbe für mich getan."
"Danke." Sarah umarmte Heather. "Bis 16 Uhr bin ich ja noch da. Wir machen uns das heute gemütlich. Soll ich uns Pizza zum Mittag bestellen?" erwähnte Sarah und Heather lächelte über die Idee. "Gerne."
Sarah nahm sich mit der Arbeit zurück und überließ einige Aufgaben Heather. Ab 16 Uhr war Heather alleine. Sie aß das letzte Stück Pizza, das bereits kalt war und hoffte für Sarahs Vater alles Gute. Kurz nach Feierabend begab sich Heather zu ihrem Auto und linste auf ihr Handy. Sie suchte die passende Musik für die Heimfahrt. In ihrer Messenger-App erschien eine Nachricht von Sarah. Heather klickte auf den Chat und las die Nachricht.
Dad hat es nicht geschafft.
Heather lehnte sich zurück. "Verdammt." Sie verweilte den Moment im Auto, um Sarah einen längeren Text zu schreiben. Auf diesem bekam sie vorerst keine Antwort. Bis 22 Uhr geduldete Heather sich und kurz bevor sie ins Bett ging kam eine Antwort von Sarah zurück. "Danke dir. Ich komme morgen irgendwann zur Arbeit. Fang bitte wie gewohnt an." Heather legte das Handy zur Seite und begab sich ins Bett.
Sarah betrat das Büro am nächsten Tag um 12 Uhr. Ihre Haare waren ungekämmt. Jede Beileidsbekundung winkte sie mit einem schnellen Danke ab. Sie sagte Heather schnell Hallo und begab sich in das Büro ihres Vaters. Heather folgte ihr. "Schließ bitte die Tür." bat Sarah, nachdem sie Heather bemerkte.
Sarah war dabei, das Büro aufzuräumen. Die wichtigsten Dinge ließ sie bestehen. Sie setzte sich auf den Bürostahl. "Eigentlich hatte Vater ein Fest geplant, wo er seinen Ruhestand verkündet." Leise schmunzelte sie, um das Schreckliche zu verstehen. "Heather, du bist meine beste Kollegin hier. Ich muss das jemanden vertraulich erzählen." seufzte Sarah und Heather setzte sich Sarah gegenüber vom Schreibtisch hin. Sarah holte tief Luft, bevor sie Heather von ihren Lastern erzählte. "Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, diesen Betrieb weiterzuführen. I-ich glaube dafür bin ich nicht der Typ. Das kann ich nicht. Wie soll ich das alleine schaffen?"
"Wer sagt, dass du das alleine musst?" Irritiert sah Sarah Heather an und langsam realisierte sie es. "Ja! Ja genau! Was hältst du davon, meine persönliche Assistentin zu werden? Du nimmst mir einige Arbeit ab, wie Vorstellungsgespräche oder andere Dinge. Natürlich würde ich deinen Lohn dementsprechend erhöhen." Ihre Augen bekamen ein wenig Leben zurück und Heather musste gut über diese Worte nachdenken.
"Mit deinen Stunden bekommen wir das auch alles hin." versicherte Sarah guten Mutes und an ihren flehenden Gesicht sah Heather, dass Sarah auf ein Ja hoffte. "Hm, na gut. Ich bin es ja gewohnt in irgendeiner Beziehung zu Geschäftsführern zu stehen. Sei es als Tochter, Schwester oder jetzt Kollegin." Heather seufzte und Sarah lief um den Schreibtisch herum, um ihre Kollegin zu drücken.
"Danke, dass du mir eine Last abnimmst. Ich werde dir zeigen, was du wissen musst. Die Details besprechen wir noch. Ach, wenn ich dich nicht hätte." Eine kleine Träne vor Erleichterung rollte Sarahs Gesicht hinunter. Über Heathers Lippen stahl sich ein erfreuliches Lächeln. "Dann bin ich zukünftig deine rechte Hand?" Sarah nickte. "Genau, meine persönliche Assistentin." Heather freute sich, ihre Kollegin lächeln zu sehen. "Weiß du, meine Mutter war auch eine Zeit lang die vertraute Sekretärin meines Vaters."
"Und dann hatten sie den klassischen Office Sex?" Heather kicherte peinlich berührt. "Nein, woran denkst du nur? Die haben das anfangs verheimlicht so gut es ging, aber du weiß ja, die Gerüchteküche. Erst als Mutter schwanger wurde, hat er dazu gestanden und sie geheiratet." Sarah fing an, weiter die Habseligkeiten ihres Vaters einzusammeln. "Mein Vater war nie ein Freund von Xaver Willers. Er hat einmal Kuchen bei uns bestellt und die Bezahlung der Rechnung hat ewig gedauert." Heather schmunzelte. "Ja, über nicht pünktliche Zahlungen oder vergessene, falsche Lohnzahlung haben früher einige geklagt. Darauf hat mein Bruder später akribisch drauf geachtet, dass alle rechtzeitig ihren richtigen Lohn erhalten." Beide Frauen lächelten sich an. "Den Bock abgeschossen hat dein Vater, als er zu meinem nach meiner Geburt sagte, dass er nie eine Tochter haben wollen würde, weil man mit Mädchen nicht so viel machen könne, wie mit Jungs. Tja, sein Karma hat er ja bekommen." Heather starrte Sarah an. Ihr Gesicht spiegelte die Fassungslosigkeit wieder.
"Was?" Sie senkte den Kopf. "Ja. Zum Glück hat Vater dich nie mit Xaver über einen Kamm gescherrt. Das hätte ich ihm auch weiß gemacht." Aufmunternd lächelte Sarah, aber Heather war nicht danach.
"Oh man, ich wusste, dass er mich nicht sonderlich lieb hatte, aber ich dachte immer, das käme, weil ich ein Spätzünder war. Dass er aber nie ein Mädchen wollte und er Probleme mit deinen Dad hatte, war mir neu." Sarah bemerkte Heathers Trübsal.
"Das wollte ich jetzt nicht. Tut mir leid." Heather raffte sich zu einem lächeln auf.
"Ist okay. Das bestätigt nur, dass er ein Arsch war." Beide fingen zu lachen an. "Wenn du mich entschuldigst, ich habe noch zu tun. Wir wollen ja nicht unsere Arbeit vernachlässigen." Lachend lief Heather in den Nebenraum und setzte sich an den PC. Sarah holte derweil den nächsten Karten heraus und räumte ein Foto von ihrem Vater mit ihrer Mutter ein, wie beide vor der Bäckerei standen.
"Jetzt könnt ihr zusammen im Himmel Brötchen backen."
Vor den Kollegen lächelte Sarah munter wie sie es oft tat. Sie verließ das Büro mit einem lauten Schüß und fuhr heim. daheim schob sie eine Tiefkühlpizza in den Ofen und füllte sich einen starken Schnaps ein, den sie mit einem Softdrink mischte.
Nebenbei ließ sie ihre Lieblingsmusik, Pop und Hip Hop, laufen. "Auf dich, Dad." murmelte sie und leerte das erste Glas zügigs. Es blieb nicht bei einem und zwei weitere Gläser folgten. In ihrer Betrunkenheit nahm sie ihr Handy zur Hand und las sich die Nachrichten durch. Darunter waren viele Kollegen, die ihr Beileid aussprachen. Sarah antwortete jedem mit einem einfachen Danke. Dabei bemerkte sie, dass Heather ihr weder in ihrer Nachricht noch persönlich das Beileid ausgesprochen hat.
"Sie hats verstanden." murmelte Sarah betrunken. Sie sah die Nachricht ihres Onkels, der um Rückmeldung bat. Sarah schrieb, dass sie morgen vorbeikäme. Johannes tippte sie einen stumpfen Text, in dem stand, dass sie erstmal alleine sein will, ihr Vater verstorben und sie betrunken ist. Über das Empfinden, wie sie darüber denken würde, wenn sie wieder nüchtern ist, konnte sie jetzt nicht denken. Sarah gab sich den Abend vollständig den Alkohol hin.
Das Klingeln an der Haustür weckte sie und das Erste, was sie nachdem aufwachen verspürte waren unerträgliche Kopfschmerzen. Sie sah auf ihre Handyuhr, die 15:40 anzeigte und drei verpasste Anrufe, allesamt von ihrem Onkel. Sarah schreckte hoch und spurtete die Treppe hinunter zur Tür. Mit zitternden Händen öffnete sie diese und erblickte ihren Onkel.
"Na endlich. Bist du gerade aufgewacht?" merkte er an und führte eine Tasche bei sich. "Sorry." Tomas betrat die Häuslichkeiten und beide liefen in die Küche. Dabei bemerkte er die Alkoholflasche und den schmutzigen Pizzateller. "Hast du getrunken? Das erklärt dann so einiges." Sarah nickte nur und setzte sich ihm gegenüber hin.
"Trotz allem müssen wir über die Beerdigung sprechen."