Ablenkung suchte Heather auf ihrer Arbeit. Ihre Kollegin war bereits da, als sie das Büro betrat. Bei der Kollegin sah es chaotisch aus. Zettel türmten sich. Mit sicherem Abstand zum PC und den Dokumenten stand ihre Kaffeetasse mit der Aufschrift Tuesday Loading auf einem Beistelltisch. Die haselnussbraunen Haare waren ungekämmt. Auf der linken Seite trug sie einen stümperhaften Zopf. Rechts hingen nur vereinzelte lose Strähnen. "Ist es schon wieder diese Zeit?" hakte Heather seufzend nach und ihr gegenüber nickte. Die grünen Augen auf dem Rechner fixiert.
"Chefe ist nicht da. Da bleibt die Abrechnung an mir hängen. Halt mir bloß die Kunden von Leib heute." Sie nahm einen kräftigen Schluck Kaffee und machte sich an die Arbeit. Nach drei Stunden streckte sich Heathers Kollegin hörbar. "Störts dich, wenn ich am Fenster rauche?" erkundigte sie sich und hatte bereits die nicht angezündete Zigarette im Mund.
"Mach, mich solls nicht kümmern. Lass das nur nicht die Kolleginnen wissen." Die Kollegin öffnete das Fenster und ließ die erste Frühlingsluft hinein. Der Rauchgeruch wehte Heather um die Nase. "Wie steht es um deinen Bruder?" fragte sie und Heather unterbrach ihre Arbeit. "Ich war gestern dort. Nichts Neues. Ich bete jeden Tag für ihn."
Heather lief zur Kaffeemaschine und stellte sich einen Tee an. "Ach ja, du glaubst an den Himmelsfürst." erinnerte sich ihre Kollegin und nahm einen Zug. "Es hat mir immer geholfen und es klingt verrückt, aber ich hatte immer das Gefühl, er hilft tatsächlich." Ihr Gegenüber hörte nur zu und rauchte ihre Zigarette zu ende. Sie ließ das Fenster kurz zum lüften offen und setzte sich dann wieder an die Abrechnungen. "Schön, dass du mir Gesellschaft leistest, Sarah." dankte Heather matt lächelnd. Sarah nickte. "Klar doch. Mag dich nicht alleine lassen. Nicht zu diesen Zeiten." Im vorbeigehen verabschiedete sich eine ihrer Kolleginnen, die kurz am Türrahmen stehen blieb. "Sarah? Darfst mir auch gerne ein paar hundert mehr überweisen." scherzte sie, aber Sarah seufzte nur.
"Erstens habe ich deine schon fertig und zweitens wird das dem Chef nicht gefallen. Der findet das sowieso raus." In ihrer Stimme lag eine Gereiztheit, die sie noch beherrschen konnte. "Schönen Feierabend nachher."
Während Sarah die Abrechnungen tätigte bearbeitete Heather die Bestellungen und nahm Telefonate entgegen. Ihr wäre es lieber gewesen, sie hätte gar nicht mit Kunden reden müssen. Ihre Gedanken kreisten um ihren Bruder und mehr Negativität konnte sie nicht gebrauchen. Es klingelte und Heather meldete sich wie gewohnt mit: "Gründlandbäckerei, Willers, guten Tag."
"Bin ich da im Büro?!" ertönte die patzige Stimme eines älteren Herren und Heather verzog bereits den Blick. "Ja, mit wem spreche ich da?"
"Kreson. Ich bin doch jetzt im Büro, ja?" Heather fasste sich an die Stirn. "Ja, sind Sie."
"Gut, dann will ich ihnen mal was sagen! Ich hatte heute Besuch von meinen Enkeln und hab Kuchen gekauft und mein Apfelkuchenstück hatte nur ein kleines Apfelstück aufm Kuchen. Das ist doch kein Apfelkuchen, das ist Verarsche!" Heather blieb einen Moment ruhig, um das Gesagte zu verarbeiten. Ihr gingen viele Gedanken durch den Kopf. "Was interessiert mich, dass seine Enkel zu Besuch sind? Ist das sein ernst?" Die Stille missfiel dem Kunden.
"Da sagen sie nichts oder?! Wenn das Stück jetzt meine Enkelin gehabt hätte, die hätte doch geweint!" Heather biss die Zähne zusammen. Sarah hörte auf zu tippen und linste zu Heather. "Hören Sie, das ist unglücklich gelaufen. Ich werde das absprechen und sollten sie wieder Kuchen kaufen, bekommen sie natürlich einen Rabatt."
"Rabatt?! Auf Apfelkuchen ohne Äpfel? Wie unkooperativ sind sie gefälligst? Erst mir son scheiß andrehen und trotzdem noch Geld beim nächsten Mal verlangen. Wenn ich keinen Gutschein bekomme schmeiße ich ihnen den Kuchen wieder aufm Tresen. Also das Kaffee und Kuchen mit meinen Enkeln haben sie schon ruiniert!" Heather wusste nicht, was sie sagen sollte und ohne, dass sie es wollte, legte sich ein Schalter in ihr um.
"Wissen Sie was? Ihre Sorgen, dass keine Äpfel auf den Apfelkuchen sind hätte ich auch gerne mal. Ich werde mit den Verkäuferinnen reden und beim nächsten Mal bekommen Sie dann zwei Kuchen umsonst, mehr auch nicht. Und dann hoffe ich für sie, dass dann auch Äpfel aufm Kuchen sind." Sarah sah in das Gesicht von Heather und sah ihr die glasigen Augen an. Der Mann am anderen ende war perplex über Heathers Worte.
"Stellen sie mich umgehend zum Chef durch." verlangte er und Heather sah zu Sarah, die nur die Hand ausstreckte. Einen Teil des Gespräches konnte sie mithören. "Gib her." flüsterte sie und Heather sagte nur schnell: "Ja, meine Chefin ist direkt neben mir. Ich gebe sie ihnen. Schönen Tag." Damit überreichte sie Sarah das Telefon.
"Krachten, guten Tag. Was gibt es für ein Problem?" fragte Sarah munter und der Kunde ratterte los. "Ihre Arbeitnehmerin Willers." Und er erzählte von dem Kuchenstück und der unkooperativen Willers. Sarah musste sich bei jedem Wort das Lachen verkneifen und saß grinsend vor Heather. Die saß wie ein Häufchen Elend auf ihren Bürostuhl. Sarah verzog das Gesicht, als der Kunde meinte, Heather hätte ihm gesagt, dass ihr das egal sei, was mit seinem Kuchen sei und er keine Entschädigung bekäme. Sarah zeigte einen symbolischen Vogel und Heather schmunzelte kurz. "Stopp. Ich saß neben Frau Willers und habe gehört, was sie gesagt hat und ich bin ehrlich, dann hatten Sie jetzt ein misslungenes Stück. Sonst war doch alles in Ordnung, oder? Sagen sie beim nächsten Mal nett und freundlich, was mit dem Kuchen war. Unsere kooperativen Verkäuferinnen werden ihnen sicher eine angemessene Entschädigung zukommen lassen. Einen schönen Tag wünsche ich. Schüß."
Sie legte schneller auf, als er antworten konnte und Sarah prustete los vor lachen. Heather versuchte zu lachen, aber sie fing an zu weinen. Sarah hielt inne. "Woah, Heather, ist doch alles gut?" Sarah rollte mit ihren Bürostuhl zu Heather und strich über ihren Arm. "Der Opa war dumm. Du hast doch keinen großen Ärger von mir bekommen und wegen so einem Kauz würde ich nicht weinen. Sonst halten die sich noch für die Sieger der Diskussion."
Heather wurde ein Taschentuch gereicht und sie schniefte laut. "E-es ist nur alles zu viel gerade und dann kommt da noch so ein dummer Kunde an. Ich wünschte ich hätte seine Sorgen." Sie nahm sich ein zweites Taschentuch und stand auf. "Ich bin kurz auf Klo." "Grüß die WC-Ente." scherzte Sarah und Heather lächelte müde.
Heather kehrte nach kurzer Zeit zurück und setzte sich wieder an ihren Platz. "Aber ich fand es toll, wie du zu mir standest." gab Heather kund und Sarah lächelte gerissen. "Selbstverständlich doch. Ich habe das ja mitbekommen. Und als er den Chef sprechen wollte, sah ich meinen Moment gekommen." Sie tat, als würde sie eine Heldenpose nachahmen. Heather kicherte über die verrückte Art ihrer Kollegin. "Naja, rein theoretisch bin ich auch die Chefin. Zumindest die vertretende Chefin, wenn mein Vater, so wie diese Woche, nicht da ist."
Sie setzten sich wieder hinter ihre Schreibtische um ihre Arbeit voranzubringen. "Und du übernimmst den Laden irgendwann, Frau Chefin?" hakte Heather nach und druckte die Verteilerlisten aus. "Joah, ja. Ich bin hier ja schon seit meinem Schulabschluss. Erst habe ich im Verkauf gearbeitet und dann bin ich nach dem Tod meines Onkels ins Büro gegangen. Ich hatte sowieso überlegt umzuswitchen, weil ich gar nicht mehr mit den Kunden klar kam. Ich bin einfach zu sehr auf Krawall gebürstet, wenn mich einer dumm anpappt." Sarah lehnte sich zurück, nachdem sie eine weitere Abrechnung geschrieben hatte. "Glaub mir, wäre ich nicht die Tochter vom Chef, wäre ich schon zehnmal geflogen. Oder das war gerade der Grund, warum ich den Kunden auch patzig gegenüber wurde, wenn sie mich angemault haben." Sie zuckte mit den Schultern und sah dann auf die Uhr. "Oh, schon fast Feierabend." merkte sie an und beide Frauen räumten die Sachen auf.
"Ich begleite dich noch rüber in den Laden. Ich werde danach noch weiter an den Abrechnungen arbeiten. Dann ist das weg. Und du gehst nach der Arbeit sicher noch ins Krankenhaus, oder?" Heather räumte die Klemmbretter in einen Korb. "Ja." Sie senkte den Kopf. "Ich hoffe wirklich das Beste für dich und deinen Bruder." wünschte Sarah und nach Übergabe der Listen und Taschen umarmte sie Heather zum Abschied.
Heather hielt nicht erst bei ihrer Wohnung an, sondern fuhr direkt ins Krankenhaus. Dort erfuhr sie zuerst, dass Damians Zustand weiterhin kritisch war. Im Krankenzimmer wurde sie unbemerkt von Gina beobachtet, die jedes einzelne Wort von Heather hörte. "Deine Firma weiß mittlerweile auch Bescheid." erzählte Heather und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. "Bitte werde wieder gesund. Ich bete jeden Tag. Du kennst mich doch." Sie versuchte ihre gewohnt positive Art auszustrahlen. "Es ist egal, wie lange deine Genesung dauern wird, ich komme dich jeden Tag besuchen und werde alles tun, was ich kann. Bitte bleib bei mir. Es ist egal, ob ich mich fortan um dich kümmern darf. Du hast dich jahrelang um mich gesorgt, also wäre es Zeit, dass ich mich um dich kümmere, oder nicht?" Tränen sammelten sich in ihren Augen an und sie umfasste seine Finger. Gina beäugte Heather mit kritischen Blick.
Heather verblieb eine Stunde bei Damian, bevor die Besucherzeit endet und sie das Zimmer verließ. Kaum hatte sie das getan, stand Gina von ihrem Stuhl auf, hielt die Brücke aufrecht und folgte Heather.
Heather begab sich zum Parkplatz und wollte in ihr Auto steigen, doch Ginas Stimme hielt sie auf. "Guten Abend." Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Gina stand in ihrem bauchfreien Top, ihrer Lederjacke und der grauen 3/4 Jeans vor ihr.
"H-hallo, wer sind Sie?" fragte Heather nach und richtete ihren Autoschlüssel mit den vielen Anhängern auf Gina. "Möchten Sie mir damit das Auge ausstechen?" hakte Gina amüsiert nach und Heather sah vom Schlüssel zu Gina. "Wenn es muss." Gina seufzte. "Das wird nichts bringen. Ganz davon ab, dass Sie nicht der Charakter Mensch sind, der dies tun würde." Sie verschränkte die Arme und Heather entgegnete: "Sie kennen mich doch überhaupt nicht." Gina lächelte. "Ich weiß Dinge über Sie, die nicht einmal Sie wissen." Dabei linste sie zu Heathers Sterbedatum. "Ich fühle mich von Ihnen belästigt. Was wollen Sie?" zischte Heather, den Schlüssel fest in der Hand. "Reden. Ich habe Sie gehört, bei Ihren Bruder. Er liegt schwerverletzt im Krankenhaus." Gina löste ihre verschränkte Haltung. "Ja, aber was geht Sie das an?" Gina blieb ruhig gegenüber der aufgebrachten Heather. "Sie haben gesagt, es wäre egal, ob sie ihn pflegen müssten, solange er wieder aufwacht, oder?" Heather zitterte. "Ist das Ihr eigener Wunsch oder auch der Ihres Bruders?" Heather weitete die Augen. "Was meinen Sie?"
"Wissen Sie, ob Ihr Bruder ein Pflegefall sein möchte, der von Ihnen gepflegt wird?"
Über Ginas Worte verlor Heather die Fassung. "W-was? Natürlich weiß ich das nicht, er liegt im Koma! A-aber er würde mich nicht alleine lassen wollen!" Neben Gina verweilte Damians Geist. "Würden Sie es wollen, auf ewig auf jemanden angewiesen zu sein, ewig im Bett am Leben erhalten zu bleiben, damit Ihre Verwandten sie bei sich haben können?" fragte Gina und Heather schluckte. "D-das wäre doch kein Leben..." flüsterte sie und senkte den Kopf. "Jemanden zu pflegen wird irgendwann mehr oder weniger an die eigene Substanz gehen. Warum jemanden am Leben erhalten, der schon gehen und Frieden finden könnte?" Ihre Stimme war klar und eindringlich. "Ich will doch nur meinen Bruder wieder bei mir haben." hauchte Heather und Gina sprach weiter. "Ich will... Es ist Ihr eigener selbstsüchtiger Wunsch, nicht der Ihres Bruders. Warum können Menschen ihre Liebsten nicht gehen lassen? Es hat doch keinen Sinn, einen Körper am Leben zu erhalten." Ihre Worte klangen hart und Heather unterdrückte ein Schluchzen. "Es reicht." Damians stimme ertönte und sein geist lief zu Heather, um sie in den Arm zu nehmen. sie sah ihn nicht, aber sie spürte eine Wärme im Inneren.
"Wir Menschen können nicht einfach loslassen. Davon versteht der Tod nichts." hauchte er seiner Schwester zu und Gina verstummte. "Sie haben sicher noch niemanden verloren, der Ihnen nahestand. Nur deshalb können Sie sowas sagen." vernahm sie Heathers schniefende Stimme und Gina sah die Geschwister vor sich. Gina verschränkte die Arme und neigte den Kopf. "Das ist wohl wahr. Verzeiht, wie ich Sie behandelt habe." Heather war nicht auf eine Entschuldigung erpicht. "Bitte gehen Sie einfach." verlangte sie und Gina sah zu Damian auf, der die Umarmung löste. Er gab Heather einen Stirnkuss, bevor er zu Gina lief. "Irgendwann werden wir uns wiedersehen." flüsterte Gina nicht hörbar und kehrte mit Damian zurück. Heather stieg in ihr Auto und lehnte sich zurück. Ein Gefühl der Beklommenheit kroch in ihr hoch. "Was war das für eine? Man... Warum pampen mich irgendwelche Menschen an? Erst der Kunde, jetzt diese Olle!" Dicke Tränen tropften auf ihre Kleidung. "Ich will Damian wieder bei mir haben." Weinend verblieb sie in ihren Auto und wollte den Motor starten, als die Tränen ihr nicht mehr die Sicht versperrten, aber ihr Auto sprang nicht an.
"Maaannn! Komm du scheiß Dreckskaare!! Nicht du auch noch!!" Selbst nach zwei weiteren Versuchen fuhr ihr Auto nicht los und unter Wut schlug sie mit der Handfläche auf das Armaturenbrett. "Scheiße!!!" brüllte sie, als der Schmerz ihre Hand durchzog. Ihr Gesicht war von Schmerz, Nass und Wut durchzogen. "Ist vielleicht besser so, dass die Karre nicht mehr läuft, bevor ich auch noch einen Unfall baue!! Fahr ich eben Fahrrad!" fluchte sie und eine Kernerinnerung blitzte in Heather auf.
"Dann kaufen wir dir ein Fahrrad, damit du mit Rad zur Schule fahren kannst." Gemeinsam suchten Damian und Heather nach ein geeignetes Unterfährt im Internet.
Eine erneute Welle Tränen fluteten ihr Gesicht und sie bekam Kopfschmerzen durch das lange Weinen. Sie versuchte es, ohne jegliche Hoffnung, ein letztes Mal und der Motor startete. Darüber konnte Heather sich nur gezwungen freuen.
In der Nacht fand Heather wenig Schlaf und mochte am Mittwoch gar nicht aufstehen. Trotzdem tat sie es, um sich auf der Arbeit nicht abmelden zu müssen. Sie fuhr mit Fahrrad zur Arbeit, um sich nicht am Morgen über ihr Auto ärgern zu müssen. Im vorbeigehen trat sie ihr Auto miesgelaunt gegen den rechten Vorderreifen.