Es erging Tiffany in den nächsten Tagen besser und sie wollte Viktorius von ihrem Vorschlag erzählen. Freudig begrüßte er sie und auch wenn es ein bisschen schambehaftet war, erzählte er ihr sofort von seinen persönlichen Erfolgen. "Ich war duschen und koche regelmäßig! Mir geht es gerade gut!2 Er war richtig stolz und Tiffany brachte es zum lächeln. Umso mehr strahlte sie, als sie sich ins Gedächtnis rief, dass sie mit dafür verantwortlich war, wie es ihm ging. Sie konnte ihn nicht heilen, aber eine Stütze sein. Bei seiner guten Laune traute sie sich kaum, ihm zu erzählen, wie es ihr ergangen war. Beim hinsetzen im Wohnzimmer bemerkte sie, dass er am kochen war.
"Soll ich dir was auffüllen?" fragte er freudig und Tiffany antwortete: "Nur, wenn es keine Probleme darstellt." Viktorius schüttelte den Kopf und reichte ihr einen Teller Suppe mit Möhren, Gemüse, Kartoffeln. Sie dankte.
"Wie geht es dir?" fragte er ruhig und Tiffany nahm erst einen Löffel, bevor sie aß.
"Ehrlich gesagt, erging es mir die Tage nicht gut, aber ich bin auf dem Weg der Besserung. Was ich dich fragen wollte.... Ich meditiere gelegentlich. Wollen wir das mal zusammen machen?" Er blickte zu ihr. "Meditation? Das habe ich noch nie gemacht. Da musst du mir zeigen, wie das geht." meinte er ein bisschen fragend und Tiffany freute sich über die Zustimmung. "Mache ich."
Sie half beim abräumen des Geschirrs und Viktorius bekam einen Einfall. "Ich habe dir das Haus noch nicht gezeigt, komm mit! Wir sitzen immer nur im Wohnzimmer oder der Küche." Wortlos folgte Tiffany ihm durch das Gebäude. Gegenüber des Wohnzimmers befand sich ein zweites großes Zimmer. Im Obergeschoss gab es drei Zimmer, eines war das alte Schlafgemacht seiner Eltern, eines gehörte ihm. Viele Zimmer waren ungenutzt. "Ich weiß, für eine Person ist das Haus eindeutig zu groß. Meine Vorfahren, die es gebaut haben, hatten mehr Familienmitglieder, da war ein großes Haus sinnig, aber nicht mehr zu meiner Zeit." erklärte er und Tiffany bemerkte, dass die Räume trotzdem gepflegt aussahen. Ihr Blick blieb in seinem simplen Zimmer hängen, weiterhin eingerichtet, wie schon vor Jahren. Viktorius hegte ein großes Interesse an Tiffanys Vorschlag. "Du hast von der Meditation erzählt. Lass uns das ausprobieren. Zeig es mir bitte." sagte er aufgeregt und über dieses Interesse freute sie sich. Sie fragte nach einer Kerze und Viktorius brachte ihr eine. Beide setzten sich auf dem Boden und Tiffany erklärte es so, wie Berta es ihr einst gezeigt hatte.
"Tief ein und ausatmen. Mache dich frei von allem. Komme langsam im Hier und Jetzt an. Deine Gedanken sind frei." Viktorius tat, wie sie es ihm sagte und er merkte eine innere Ruhe, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Sie meditierten zehn Minuten und lösten diesen Zustand. "Es ist egal, wie lange. Es geht darum, sich frei zu machen, kurz alles zu vergessen." erklärte er weiter und Viktorius nickte.
"Es war eine... neue Erfahrung." gab er kund und musste dies erstmal auf sich wirken lassen. Er bliess die Kerze aus und beide setzten sich auf die Stühle im Wohnzimmer. "Du kannst überall meditieren. Es muss nicht der kalte Boden sein." schmunzelte sie und Viktorius nickte zustimmend.
Beide saßen zusammen am Tisch und stille kehrte ein. Unsicherheit breitete sich in Tiffany aus und die Gedanken kreisten durch den Kopf. Sie war gedanklich bei den letzten Tagen und wollte diese Wunde, die sie trug, endlich heilen. Es fiel ihr schwer die passenden Worte zu finden und sich auszudrücken, aber sie wollte Viktorius davon erzählen. "Viktorius...", Er blickte zu ihr. "Du hattest mich doch nach meiner Mutter gefragt." fuhr sie fort und er erinnerte sich.
"Weiß du, meine Mutter und meinen Vater kannte man im Dorf. Vater war Beamter im Dorf und für seine freundliche Art angesehen. Jeder kannte Thompson Dronner mit seiner Frau Delia. Ich erinnere mich, dass ich acht Jahre alt war, als alles langsam zusammenbrach."
Sie seufzte und sah zum Tisch. Die Tränen versuchte sie zu kontrollieren. "Mutter war schwanger, aber sie verlor es ganz plötzlich. Der Arzt hat damals alles getan, um sie zu retten. Ich erinnere mich an die Hektik daheim und das Geschrei, das Blut... Es wäre ein Mädchen geworden..."
Bei den Erinnerungen an früher zitterte Tiffany und die Augen von Viktorius weiteten sich vor Mitgefühl. Ihre Stimme bibberte und sie brauchte einen Moment, um weitererzählen zu können. "Mama war danach nicht mehr dieselbe. Ich habe mitbekommen, wie sie Vater anfangs emotional von sich weggestoßen hat, sie alleine schlafen wollte und ich erinnere mich an einem Streit am Abend, dass sie ihn nicht mehr sexuell an sich rangelassen hat. Ich erinnere mich, wie sie oft wütend vom Markt kam..." In ihr kam eine Erinnerung vergangener Zeiten wieder hoch.
Tiffany war acht Jahre alt, alleine daheim und hörte ihre Mutter die Tür hinter sich zu knallen. Sie sah, wie ihre Mama wütend die Tür runterrutschte. "Sie alle sollen aufhören, darüber zu reden!" kreischte sie und wedelte wild mit den Händen umher. Tiffany bekam dies mit und kam ängstlich zu ihr. "Was ist los?" fragte sie unsicher und Delia biss die Zähne zusammen. "Sie sollen alle aufhören zu fragen!" zischte sie, bevor sie ihre Tochter bemerkte und versuchte zu lächeln, aber es wirkte mehr, wie eine Irre.
"Deine Schwester ist tot und alle reden mit mir darüber..." Dabei strich sie über Tiffanys Wange, welche zusammenzuckte. "Ich weiß, dass ich eine schlechte Mutter bin, die nicht einmal ihr Kind lebend zur Welt bringen kann? Ich weiß, dass ich als Frau versagt habe!" Das wutentbrannte Verhalten ihrer Mama machte Tiffany große Angst.
Viktorius fehlten die Worte und er hörte ihr weiter zu. "Wenige Jahre später ist Mutter furchtbar krank geworden. Es fing schleichend an, sie war erschöpfter, wie sonst und hatte öfters Kreislaufprobleme. Der Arzt empfiehl zuerst Ruhe, irgendwelche Medikamente, doch es schlug nicht an. Zu diesem Zeitpunkt hat Vater bereits seine Arbeit zum Teil niedergelegt, um bei ihr sein zu können, außerdem lernte ich zu dem Zeitpunkt Berta Sezenson kennen. Sie hat von unserem Problem erfahren und uns geholfen, obwohl sie selber eine Familie hat, hat sie sich für uns die Zeit genommen. Berta hat mir viel gezeigt und erklärt, was meine Mutter nicht mehr konnte." Dankbar dachte sie an Berta, die für sie wie eine zweite Mutter und beste Freundin war.
"Sie hat uns im Haushalt geholfen, wenn sie konnte, war hauptsächlich aber zur Behandlung von Mamas Leiden da. Berta konnte die Schmerzen lindern, aber nicht die Ursache beheben. Damals erklärte sie uns, dass sich ihr Körper selbst zerstörte. Ich habe bis heute keinen richtigen Namen für dieses Leiden gefunden..." Tiffany seufzte und war zutiefst bedrückt. Sie kam zum Teil der Erzählung, der ihr besonders schmerzte.
"Während Mutters Erkrankung voranschritt, musste ich viel im Haushalt helfen, wenn Vater nicht da war und das beinhaltete auch die Pflege meiner Mutter. Sie war bettlägerig und konnte vieles nicht mehr selber. Sie hat sich auch selber dafür gehasst, dass sie eine Frau über 30 war, aber nichts mehr selber konnte. Das hat sie zu einem aggressiven Menschen gemacht. Mutter hat viel geschrien und irgendwann fingen die Bewohner an, über uns zu reden, dass wir das Schreihaus sind." Zum Ende seufzte sie und Viktorius erinnerte sich an dieses Gerücht.
"Mutter hat uns alle beschimpft, Vater, Berta, mich... Wenn wir ihr Essen brachten hat sie darüber gespottet oder es uns entgegen geworfen. Am schlimmsten war, wenn wir sie hochheben mussten, um die Bettwäsche zu wechseln. Wenn wir, sie dann wieder ins Bett gelegt haben, hat sie sich oft absichtlich eingenässt... Was mir aber wirklich in Erinnerung geblieben ist, war... ihr Körper, ihr entstellter Körper..." Ihre Stimme wurde leiser und grausige Erinnerungen kamen in ihr hoch.
Ängstlich öffnete die 15-jährige Tiffany die Tür zum Zimmer ihrer Mutter und hatte einen Tee dabei, den Berta empfohlen hatte. "H-hallo Mama... Ich habe Tee..." Delia fehlten vereinzelt Haare und mit einem grimmigen Gesichtsausdruck sah sie zu Tiffany. "Bringst du mir mehr von diesem Scheiß? Es hilft doch eh nicht." keifte sie negativ gestimmt, aber trotzdem stellte Tiffany den Tee auf den Nachttisch. Schnell wich sie wieder zurück, da sie Angst hatte ihre Mama würde wieder nach ihr schlagen. "Weiß du, gut, dass deine Schwester tot ist. Ich hätte mich nicht um sie kümmern können..." Delia neigte den Kopf zur Seite. Tiffany war erschrocken über diese Aussage. "Ich habe in meiner Rolle als Frau versagt und jetzt liege ich hier, wie ein alter Mensch und kann gar nichts. Das Leben ist eine große Betrügerei. Jahrelang habe ich geglaubt und so dankt es mir der Himmelsfürst..." zischte sie wütend. Nervös spielte Tiffany an ihren Fingern, als ihre Mutter provozierend bat: "Komm mal her. Möchtest du sehen, was der Himmelsfürst mir angetan hat?" Ihre Stimme wurde lauter und unsicher kam Tiffany näher. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte.
Kaum stand sie nah genug am Bett, riss Delia die Decke hoch, ebenso ihr Kleid und Tiffany konnte sie klar und deutlich, die großen Geschwülste.
"Es werden immer mehr und sie wachsen! Sie schmerzen!! Tiffany!!" schrie sie verbittert und wollte nach der Hand ihrer Tochter greifen. "Du sollst sie mal anfassen! Umarme mich!! Ich bin deine Mutter!!" flehte sie gehässig und wollte aus dem Bett kriechen, um zu Tiffany zu gelangen.
In diesem Moment kam Thompson herein und fragte, was los sei, als er seine Frau halb auf den Boden liegen sah und half ihr zurück auf das Bett. Jedoch wollte sie erst nicht loslassen und kratzte ihn am Arm. "Thompson... Du würdest mich selbst jetzt immer noch ficken wollen, oder?" fragte sie ungehemmt und er stockte, bevor er den Kopf senkte und ruhig sagte: "Ja würde ich..." Eine andere Antwort konnte er nicht geben, ohne sie wieder rasend zu machen.
Tiffany kamen die Tränen und sie schloss die Erzählung. "Manchmal hallen ihre Schreie immer noch in meinem Kopf wieder." hauchte sie und vereinzelt tropften kleine Tränen auf den Tisch. "Kurz bevor sie starb war sie wie früher, wie ich sie kannte, aber die Krankheit hatte ihren Körper grausam entstellt..." Nie würde sie den Anblick ihrer Mutter vergessen, überdeckt von Geschwülsten.
Viktorius war sprachlos und wollte am liebsten etwas sagen, aber er wusste nicht, was und blickte sie nur mitfühlend an. Sie merkte seine Unsicherheit.
"Du musst nichts sagen. Mir ist es wichtiger, dass du mir zuhörst. Ich wollte dir nur davon erzählen, weil du mich gefragt hast und ich abgeblockt habe, weil ich es noch nicht konnte. Ich wollte irgendwie selber damit abschließen, wenn ich es erzähle."
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und es tat ihr gut, es ihm erzählt zu haben. In Viktorius wuchs das Bedürfnis, ihr von seiner Geschichte zu erzählen und er öffnete leicht den Mund, bevor er zu sprechen anfing. "Meine Eltern stellten immer Ansprüche. Dass ich Linkshänder bin war nicht in Ordnung, ebenso nicht, dass ich der Gesellschaft nicht entsprach. Ich hatte keine Arbeit und wurde immer mit dem konfrontiert, was falsch an mir sei. Meine Gedanken wurden nicht verstanden, genauso wenig warum ich so bin, wie ich bin. Es hieß nur, ich soll mehr essen."
Tiffany hatte Mitgefühl für ihn. "Ich würde auch immer nur als Thompsons Tochter gesehen, die vom Schreihaus und viele kritisieren mich, dass ich noch keine Familie habe, dass ich mit meinen 26 langsam zu alt wäre. Nur weil ich einem gesellschaftlichen Standard nicht nachkomme, bin ich komisch." Ihre Worte trafen Viktorius und er empfand ebenso. "Wie ein Außenseiter." fügte er leise hinzu und Tiffany nickte. "Genau." Beide schmunzelten. "Dabei soll doch jeder leben, wie er möchte. Ich bezweifle, dass der Himmelsfürst von allem möchte, dass man heiratet und Kinder hat. Nur weil viele diesen Weg gehen, ist es ein Standard, normal, aber viele andere Wege sind ebenfalls richtig." Die Miene der beiden hellte sich auf, als sie all ihren Frust gegenüber des Dorfes und der Gesellschaft losließen.
"Am schlimmsten ist das Verhalten der Menschen, wie sie über einen reden und wie sie dich behandeln. Sei doch einfach glücklich... Wenn es so einfach wäre." seufzte Viktorius und beide lachten über dieses Verhalten.
Jetzt waren nicht die Dorfbewohner die, die sich über die Andersartigen lustig machten, sondern eben jene, die die Normalität der Gesellschaft belächelten.
Viktorius musterte Tiffany beim lachen und ihm fiel dabei eine Kleinigkeit ins Auge. "Tiffany, ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber mir ist etwas aufgefallen..." Sie stockte und wurde nervös. "J-ja? Was denn?" fragte sie nach und er kam ein wenig näher. "Deine Eckzähne sehen ein bisschen," "Abgeschliffen aus? Ich weiß, deshalb verdecke ich es gerne, auch wenn es kaum auffällt..." Dabei senkte sie den Kopf und Viktorius tat es leid, dass er sie so etwas gefragt hatte. "Weiß du, mein Vater war ein fürsorglicher Mensch, manchmal auch sehr streng. Er sagte immer, er wünscht sich den perfekten Mann für mich, aber vorher müsste ich ihm ihn vorstellen, damit er es absegnen konnte." Darüber versuchte sie, mit Mühen, zu lachen. "Ihm war sein Ansehen leider auch ein wenig wichtig und als meine Zähne wuchsen, fiel auf, dass meine Eckzähne spitz waren. Er bekam Sorge, man würde mich als Blutsauger ärgern und zog sie mir als Kind. Es tat höllisch weh. Meine zweiten Zähne wuchsen allerdings genauso und so feilte er sie ab, damit sie normal waren." Während sie das sagte strich sie über ihre Wange und den besagten Zähnen.
"Das tut mir leid." murmelte er, aber Tiffany schüttelte den Kopf. "Alles gut. Es stört mich kaum." entgegnete sie und redete wieder über das vorherige Thema, was sie damit verknüpfte. "Das ist es, sobald du einen Makel hast, reden sie über dich."
"Die Menschen sind oberflächlich. Sie sollen sich um sich kümmern und nicht über das Leben anderer spotten. Sie führen es noch nicht mal." Die Zwei waren bei diesem Thema auf einer Wellenlänge und vergaßen komplett die Zeit.