Schweren Blickes sah er auf das Haus, in welches er seit Jahrzehnten gelebt und welches nun leer war. Neben ihm stand Gamia, die einen kleinen Karton bei sich trug.
"Na dann lass uns." sagte sie mit einem seichten Lächeln, überreichte Niklas den Karton, um mit ihrer Sense ein Portal zu öffnen. Gemeinsam ließen sie die menschliche Welt hinter sich und zogen ins Totenreich.
Der Tod betrat den Garten Eden und wurde bereits von Mutter Natur erwartet. Sie setzten sich an der Lichtung gegenüber voneinander hin. "Wie geht es dem Totenreich?" fragte Mutter Natur und legte die Hände auf die Oberschenkel.
"Ein weiteres Gildenmitglied, Herr Serptes, wurde erlöst. Meine Gehilfen stehen der Gilde zur Seite." erwähnte der Tod und sah Mutter Natur nicken. "Die Menschen fangen an, sich den Umständen anzupassen. Es ist sehr faszinierend." erwähnte Mutter Natur und ihre Finger strichen über das Gras.
"Es werden noch Jahre vergehen bis die Menschheit von der Erde weicht. Der Rest ist ganz von dir abhängig." fügte sie hinzu und sah in die leeren Augenhöhlen des Sensenmannes.
"Ich gebe den kleinen Engeln nach und nach eine Hülle. Es gibt nicht mehr viele kleine Engel im Garten Eden." erwähnte sie. Dabei wich ihr Blick nicht vom Tod ab. "Warst du schon mal wieder in der Hölle?" erkundigte sich dieser und bekam ein Kopfschütteln als Antwort.
"Die Hölle benimmt sich. Es besteht kein Bedarf diese zu besuchen." Ihr Gesicht war entspannt. "Ich weiß, dass sich die Hölle an den Plagen der Welt ergötzt. Sei es die Naturkatastrophen, die aussterbenden Tiere, die Krankheiten. Soll die Hölle dies ruhig tun." Während sie den letzten Satz sprach stand sie auf und streifte ihr Kleid mit den Handflächen zurecht. Der Tod tat es ihr gleich.
"Nun denn, ich danke dir für deine Zeit. Dein Besuch ist mir immer willkommen." Sie kam näher und strich über die Kapuze der Robe.
"Du bist immer im Totenreich willkommen." entgegnete der Tod und umfasste ihr Handgelenk. "Bis zum nächsten Mal."
Acht Jahre später
13.10.1738
Heather stand vor der Klingel von Musukos Wohnung. Ihre Haare waren fast vollständig ergraut, das Gesicht hatte Falten dazu bekommen, aber sie wirkte trotzdem Jahre jünger. Eine silberne eckige Brille zierte mittlerweile ihre Augen. Ihr Blick schweifte zu Musukos ehemaligen Tattoostudio, welches zu einem Kunst-Atelier umfunktioniert wurde. Musuko verdiente sich mit Zeichnungen seinen Unterhalt. Tätowieren tat er nur noch selten auf Anfrage und weniger zeitintensive Motive. Heather klingelte und wurde von Musuko hineingebeten. Er ging die Treppe weniger schnell wieder hoch, wie früher noch.
Oben angekommen erwartete Mikel sie bereits. Musuko und Mikels sahen sich mit den Jahren immer ähnlicher. Ihr schwarzes Haar verlor an Glanz und bei Mikel wurde es zunehmend dünner. Auch Mikel trug seit geraumer Zeit eine Brille. Nachdem die Bücherei sich nicht mehr halten konnte und schließen musste, fing Mikel einen Bürojob im Home-Office an.
"Alles Gute zum 25.ten Hochzeitstag!" beglückwünschte Heather die beiden Herren und umarmte sie freudig. Alle drei wollten die Umarmung anfangs nicht lösen. Sie begaben sich in das Wohnzimmer, wo bereits selbstgebackener Brownie und aufgebrühter Tee auf dem Tisch stand. Bevor sie sich setzten zückte Heather einen Umschlag aus ihrer Tasche.
"Ich weiß, ihr habt gesagt keine Geschenke, aber eine Kleinigkeit musste schon sein. Es ist immerhin der 25.te Hochzeitstag."
Bescheiden nahm Musuko diesen entgegen.
"Warum habe ich damit gerechnet?" seufzte er und öffnete den Umschlag unter Mikels Aufsicht.
Darin befand sich ein Gutschein für ein Wellness-Wochenende zu zweit.
"Mensch Heath, dankeschön." Musuko war peinlich berührt, freute sich aber darüber. Sie setzten sich und bedienten sich an dem Brownie. Heather lobte diesen begeistert und nahm noch ein zweites Stück.
"Wie habt ihr den Tag bis jetzt verbracht?" erkundigte sie sich. Das Ehepaar sah sich lächelnd an. "Entspannt. Wir haben länger im Bett gelegen und gekuschelt. Wir hatten von vorneherein gesagt, nichts großes und Präsente auch nicht unbedingt. Dass es schon 25 Jahre sind, kommt uns trotzdem surreal vor." Musuko schmunzelte, blickte seinen Gatten lächelnd an und gab ihn einen Kuss. Grinsend beobachtete Heather das Szenario. "Ich bin immer noch froh über deinen Arschtritt von damals. Du hattest Recht, ich hätte es bereut." gestand Musuko und entlockte Heather ein stolzes Grinsen. "Hehe, hab's dir doch gesagt. Gern geschehen. Auf hoffentlich weitere 25 Jahre."
Nach ihrem Besuch fuhr Heather am Friedhof entlang und parkte auf dem Parkplatz. Sie nahm die Blumensträuße die auf dem Beifahrersitz lagen und lief auf dem Friedhof. Ihre erste Anlaufstelle war das Grab von Sarah, welches sie vom Unkraut befreite. Sie kam an Shadias Grab vorbei und grüßte ihr kurz, legte einen Strauß nieder und zog weiter zu Damians Grab. Dieses ließ sie vor Ablauf ein einziges Mal verlängern. Sie konnte sich noch nicht vollständig von ihm trennen. Sie legte die Blumen nieder und sprach mit ihren Bruder, als würde er vor ihr stehen. Dabei rollte eine kleine Träne ihre Wange hinunter.
Zeitgleich auf dem Friedhof befand sich Vicky am Grab ihrer derweil beide verstorbenen Väter. Die Jahre sah an ihrem Aussehen an und sie wirkte älter, wie sie war. Mürrisch mit einem Hauch von Wehmut sah sie auf das Grab, auf welchem eine Engelsstatur stand mit der Aufschrift: Unvergessen
"Wir hätten viel mehr Zeit zusammen haben können." murmelte sie und verließ den Friedhof mit verschränkten Armen.
Auf dem Friedhof tummelte sich Gina vor einem Grab. Das Grab gehörte zu einer jungen Dame, die ganz plötzlich aus dem Leben gerissen wurde und dies nicht verarbeiten konnte. Gina stand in Kutte und mit Sense vor ihr. "Ich bin jetzt bereits für das Leben nach dem Tod. Ich konnte in der Einsamkeit viel nachdenken und bin zu dem Entschluss gekommen, dass all dies seine Richtigkeit hatte." Der Geist mit blonden Haar senkte den Kopf und kam einen Schritt auf Gina zu. Die Sense berührte ihren Geist und ließ diesen in den Garten Eden geleiten. Lächelnd blickte Gina diesem hinterher. Zufrieden sah sie auf die Akte und kehrte in den Garten Eden zurück. Sie unterrichtete den Tod über die Geisterfrau. Ihre Worte wurden abgenickt. In der Gilde traf sie auf Johannes, der durch seine menschliche Seite langsam älter aussah. Neben ihm saß Niklas, der sich angeregt mit ihm unterhielt.
Beide verstanden sich gut und tauschten sich regelmäßig aus. Mitunter begaben sie sich gemeinsam in die Menschenwelt, um der Totenwelt entfliehen zu können. Gina lief grüßend an ihnen vorbei, verließ die Gilde und kam in die gemeinsame Wohnung von ihr und Fritz an. Fritz war nicht daheim und Gina setzte sich an den schwarzen großen Schreibtisch im Wohnzimmer, um Akten zu bearbeiten. Sie nahm eine Akte von dem Stapel, die Feder zur Hand und schlug die erste auf.
"Caitlyn Steppender, Todesursache Krankheit." murmelte sie vor sich her und bearbeitete die Akten im zügigen Tempo. Die Akten verblieben auf dem Tisch und würden mit der Zeit von ihr und Fritz bearbeitet werden.
Fritz kam vom Seelengeleit heim und sah die neuen Akten bereits auf dem Tisch liegen. Es war ein kleiner Stapel, den man gut zu zweit bearbeiten konnte. Gina hatte seine Heimkehr vernommen und kam aus dem Schlafzimmer. Sie trug ein langes schwarzes Shirt, welches einst Fritz gehörte. Zur Begrüßung gab es einen Kuss.
"Wie war es?" erkundigte sie sich, während ihr Gatte seinen Mantel ablegte. "Kann mich nicht beklagen."
Während er dies sagte kam er Gina näher und verfing sie in einen Kuss. Dieser wurde immer intensiver zu einem Zungenkuss. Seine Hände fuhren unter ihr Shirt und strichen über ihre Taille. Dicht an dicht schmiegten sie sich aneinander und liefen eng umschlungen ins Schlafzimmer.
Das Ehepaar wachte nackt nebeneinander liegend auf. Im Bad konnten sie sich anzüglichen Spielerein nicht entziehen. In ihrer kurzen Hose und einem bauchfreien Top stand sie vor ihm. Mit einem schelmischen Grinsen stand er vor ihr, zog sie an sich um sie zu küssen und ließ sie dabei seine Latte spüren. Sie gab ihm einen Klaps auf dem Arsch und wandte sich aus dem Kuss.
"Lass uns. Die Seelen können nicht warten." Sie schmunzelte und Fritz folgte ihr.
Ihre ersten zwei Seelen geleiteten sie zusammen. Es war ein Pärchen, welches bei einem Unfall verstarb. Gina geleitete den Älteren der Beiden und sowohl sie wie auch Fritz vernahmen ähnliche Worte von den Seelen.
"Ich möchte meinen Liebsten oben wiedersehen." Gina schloss ihr Seelengeleit ab.
"Das werdet ihr." flüsterte sie und wandte sich an Fritz, der seine Akte gerade schloss. Gina wollte zu ihm, aber sie hielt inne. Dies bemerkte Fritz.
"Ist etwas?" Eine richtige Antwort blieb aus und er erahnte bereits, was vor sich ging.
"Ein Suizid?" fragte er und zur Antwort öffnete Gina ein Portal. "Ja!" brachte sie schnell heraus und ging durch dieses. Im letzten Moment folgte Fritz ihr.
Beide standen in der Gartenhütte eines Mannes, der einen Strick in der Hand hielt, auf einen Stuhl stieg und den Strick am Balken befestigte: Gina und Fritz konnten nur dabei zusehen, wie er sich die Schlinge um den Hals legte, den Stuhl wegstieß und das Leben aus ihm wich. Gina geleitete seine Seele und wiegte Tugenden und Sünden ab. Sie vernahm die Stimme des Mannes.
"Hat es geklappt? Bin ich in der höheren Ebene aufgestiegen?" Gina hörte seine Worte, aber reagierte nicht auf diese. Seine Frage erinnerte sie an den Vorfall der Sekte mit über 900 Todesfällen. Sie vermutete etwas ähnliches.
"Ich werde nicht zu den Menschen gehören, die die geplante Vernichtung der Welt akzeptieren und auf den Tod warten. Nur wer sich widersetzt wird frei sein. Darum nehme ich diesen Weg. Die Anderen sind alle brainwashed." Gina vernahm jedes einzelne seiner worte und dachte darüber nach. Schließlich geleitete sie seine Seele in das nächste Leben, schlug die Akte zu und wandte sich an Fritz.
"Vermutlich war er ein Verschwörungstheoretiker. Es gab sie schon immer und wird sie immer geben. Besonders die jetzigen weltlichen Umstände sind gefundenes Fressen für sie." Sie wandte sich von dem Körper ab.
"Dagegen können wir nichts tun. Genauso wenig wie bei Mord. Sich einzumischen ist verboten und würde Konsequenzen nach sich ziehen." erwähnte sie ohne eine Miene zu verziehen.
"Wir hatten schon Todesgeister die bei einer Mordserie zur Polizei gehen und ihnen stecken wollten, wer der Mörder sei. Es lässt sich erahnen, dass eine Person die plötzlich behauptet den Mörder zu kennen, nicht allzu vertrauenswürdig wirkt. Zum Glück blieb es da bei ein zwei Fällen." Sie und Fritz verließen die Gartenhütte durch ein Portal und begaben sich weiter zu einem Krankenhaus.