Im Totenreich traf Gamia auf ihren Onkel vor seiner Wohnung. Sie berichtete ihm, dass Niklas bereits Kuchen geordert hatte. "Gut, dass du mir das sagst.", entgegnete er und richtete seinen Zopf. "Hast du noch einen Moment Zeit zum reden?" Seine Nichte nickte. "Klar."
"Wir können auch Seelen zusammen geleiten." ergänzte Frederic.
Um nicht vor der Tür stehen bleiben zu müssen lud Frederic Gamia in seine Wohnung. Die gesamte Wohnung versprühte seinen Charme. Viele Einrichtungsgegenstände waren in schwarz gehalten. Es gab einen kleinen Altar für seinen erlösten Ehemann und die Vorliebe zur Musik zeichnete sich in dem Plattenspieler ab, wie auch den Platten verschiedener irdischer Bands. Sie saßen sich auf dem schwarzen Sofa gegenüber.
"Ich habe letztens richtig faszinierende Motive bei Menschen gesehen! Es gibt richtig tolle Bilder, die einige unter ihrer Haut tragen." schwärmte er und Gamia überlegte kurz, was er meinen könnte.
"Redest du von Tattoos?"
"Ja! Es gibt so viele Styles und Motive! Ich hätte auch gerne eines. Ein düsteres, passend zu meinem Stil." Gamia lehnte sich seitlich an die Sofalehne und überlegte.
"In meiner Nähe gibt es ein paar Tätowierer. Vielleicht ist einer dabei, der dich zufrieden stellen kann." Frederic strahlte und hatte sich auf sein neues Vorhaben festgefahren. "Ich werde unbedingt schauen. Begleitest du mich dann?" Seine Bitte konnte Gamia nicht abschlagen. "Natürlich."
Impulsiv umarmte er Gamia, die fast nach hinten auf das Sofa gedrückt wurde.
"Apropos Menschenwelt. Lass uns losziehen, Seelen geleiten." Er stand vom Sofa auf und nahm seine Sense zur Hand. Gamia tat es ihm gleich und begaben sich zur ersten Seele.
Wie sich herausstellte war es vom Vorteil, zu zweit zu sein. Die erste Seele besaß einen bösen, verdorbenen Charakter. Der Mensch manipulierte seine Mitmenschen um ihnen zu schaden und eigene Vorteile zu erlangen. Sein Charisma versuchte er selbst bei den Seelengeleitern anzuwenden. Gamia und Frederic ließen sich nicht beirren. Beide verrichteten ihre Aufgabe kompromisslos und ohne zögern. Zu zweit umfassten sie eine Sense, die von Frederic, und geleiteten die fluchende Seele in die Hölle.
Ihre nächste Seele war friedlicher. Ein alter Schlachter, der in seinen letzten Augenblicken besondere Reue zeigte.
"Ich musste es tun. Mein Vater hat diesen Beruf bereits ausgeübt und mir wurde immer gesagt, die Tiere hätten ein gutes Leben. Womit hätte ich sonst mein Geld verdienen sollen? Die Mehrheit der Menschen macht es seit Jahren so." Gamia hörte dem Mann zu, der Mitgefühl zu den Tieren entwickelt hatte.
"Mutter Natur verzeiht dir. Sie weiß um die Umstände dieser Welt." Ein Laster fiel von der Seele des Mannes und er war bereit, dem Geleit in den Garten Eden zu folgen.
Gamia und Frederic standen vor dem Haus des Mannes, dessen Seele sie geleitet hatten. "Niklas schlachtet auch. Ich konnte dem nachempfinden." Sie sah sanftmütig zu ihren Onkel. Dieser legte die Hand auf seine Schulter und sie beschlossen, das Seelengeleiten für heute ruhen zu lassen.
Sie liefen durch Brütteln, eine Stadt nahe von Niklas Hof. Es war nur eine kleine Autofahrt entfernt oder eine kurze Teleportation. "Orte sind für Todeswesen nur zum Sterbezeitpunkt einer Person relevant, aber trotzdem fühlt sich die Umgebung bereits heimisch an." merkte Gamia an und lief neben ihren Onkel her, welcher von Passanten schräg angeschaut wurde. Ihm fielen die Blicke auf sein Make-up und Outfit auf. Sein Outfit bestand aus einem schwarzen Pullover mit rock, Stiefeln und einem kleinen Mantel. Eine Gruppe Jugendlicher lief langsam an ihn vorbei und lachte dabei. Frederic ignorierte dies gekonnt. Sie kamen an verschiedene Läden vorbei und Frederic schwärmte über die Köstlichkeiten der Menschen.
"Ich dachte, du seist es bereits gewohnt, aber du wirkst immer noch fasziniert." schmunzelte Gamia und sah dem ganzen durch die Jahre unberührt entgegen. Sie hatte durch Niklas schon einiges gesehen und probiert.
"Ja, aber es gibt doch immer was Neues zu entdecken." Gamia lachte bei Frederics Freude.
"Am besten sind die süßen Speisen." merkte Frederic an, als sie an einer Bäckerei vorbeiliefen. Das nächste Geschäft erlangte die volle Aufmerksamkeit von Frederic und er sprintete regelrecht dahin. Gamia lief schneller, um Schritt halten zu können.
"Ein Tattoo Studio!"
Er stellte sich vor dem Fenster und musterte die Bilder von mythischen Gestalten. "Sowas schwebt mir vor. Schau mal, Gamia!" Gamia begutachtete die Motive, die bevorzugt in schwarz-weiß gehalten worden.
"Schick sehen sie aus." Frederic war kaum zu bändigen und lief zur Eingangstür. "Ich gehe da jetzt rein!"
Die Klingel ertönte und Musuko warf mit seiner Mutter einen Blick auf die Tür.
"Hattest du noch einen Termin?" fragte Shadia und Musuko warf einen Blick auf die Uhr. "Ja, aber erst um 16 Uhr von einer Stammkundin." Beide sahen zu Frederic und Gamia. Besonders Shadia begutachtete beide.
"Guten Tag, ich bin Frederic Dronner und hätte gerne ein Tattoo." Peinlich berührt stand Gamia dahinter und Musuko fühlte sich überrumpelt. Der Überrumplung machte er kompetent Raum.
"Guten Tag, freut mich. Haben Sie schon Erfahrung mit Tattoos?" Frederic schüttelte den Kopf. Musuko nickte. "Ok, passen Sie auf. Das ist meine Karte. Ich bin aktuell zeitlich eingeschränkt. Melden Sie sich darunter, damit wir über das Motiv und Termin sprechen können." Frederic sah die Karte an und nickte. "Einen schönen Tag wünsche ich." verabschiedete sich Musuko und Frederic drehte sich lächelnd um. Gamia folgte ihm und für einen Moment traf sich ihr Blick mit dem von Shadia. Kaum hatten beide den Laden verlassen, sah Musuko Shadias Gesichtsausdruck.
"Woah, was ist los?"
"Das Mädchen kam mir bekannt vor. Erinnerst du dich an die besondere Abholung?" Sie verschränkte leicht die Arme und Musuko kam drauf, was seine Mutter sagen wollte.
"Ohhh! Du hast wieder deine Kräfte eingesetzt! Hab ich jetzt den Tod als Tattookunden? Cool!" Shadia fing zu lachen an. "Vermutlich."
Beide lachten und Musuko sah dem entspannt entgegen, Todeswesen als Kunden zu haben. Seine Mutter wusste, dass er das interessant findet. Shadia verabschiedete sich ebenfalls von ihrem Sohn, bevor der nächste Termin kam. "Wir sehen uns dann Sonntag. Ich habe für Mikel auch alles besorgt, was du mir geschrieben hast. Bis dann."
Gamia gab die Akten in der Gilde bei Johannes ab. Dieser dachte gelegentlich an Sarah. Sein Vater war dem Konflikt zwischen beiden ebenfalls destruktiv eingestellt gewesen. Er ermutigte seinen Sohn, indem er mitteilte, dass nicht alles gut endet.
Johannes dankte Gamia und sie konnte sich in den Feierabend verabschieden.
Die Nacht brach immer schneller über den Tag hinein und es dämmerte in der Menschenwelt.. Von der Küche aus sah Niklas zur Scheune. "Jetzt beginnt die Zeit, wo man abends nicht mehr viel machen kann." Er seufzte und rührte die Ravioli um. Die Tür riss ihn aus den Gedanken.
"Bin zurück." rief Gamia und nach einem Begrüßungskuss erzählte sie von ihrem heutigen Tag.
"Und wie wars bei Jakob?" Sie lehnte sich an den Holztisch. "Er hat mich gefragt wie ich mich so halten konnte und war knatschig drauf. Er fing erneut mit Selbstmitleid an. Oh und er hat deinen Vater als komisch bezeichnet, aber im negativen." Gamia hob beide Augenbrauen. "Ich hatte nie viel Kontakt zu ihm, aber das macht ihn nicht sympathischer." Sie setzte sich und beobachtete Niklas dabei, wie er die Ravioli aß. Sein Angebot was abzubekommen hatte sie abgelehnt. "Weiß du, wo er das Alter erwähnte dachte ich an seine Todesdaten und mir fiel auf, dass langsam alle die ich kenne, Menschen, sterben. In solchen Momenten kommt mir das Dasein als Halbtodesengel wie ein Fluch vor." Er schob den leeren Teller zur Seite. Gamia öffnete bereits den Mund, aber Niklas hielt sie mit einer Handbewegung auf. "Ich weiß schon, was du sagen möchtest. Keine Sorge, ich verabscheue mich nicht selbst. Ich frage mich nur, wieso Menschen ewig leben wollen? Ist das Leben nicht so besonders, gerade weil es nicht endlos ist?", Gamia schloss den Mund und lächelte.
"Ich denke Menschen wollen ewig leben, weil sie angst vor dem Tod haben und nichts verpassen wollen." fuhr Niklas fort und Gamia nickte. "Sicherlich sind das die häufigsten Gründe." Niklas erinnerte sich an eine frühere Aussage von Gamia. "Du erwähntest mal, du könntest meine Todesdaten sehen." Gamia überlegte.
"Ja, es ist ewig her. Ich verdränge das immer." Sie stützte das Kinn an den Handballen ab. "Die Todesdaten sind wohl nur auf deine menschliche Seite bezogen." mutmaßte sie. Eine genaue Antwort wusste sie nicht. "Und was passiert dann mit mir?" Seine Freundin zuckte mit den Schultern. "Vielleicht wirst du ja ein vollwertiger Todesengel." Ein Schmunzeln folgte.
"Hm, das würde ich nicht wollen. Lass uns das Thema wechseln und im Moment leben." Er stand auf und zog Gamia zu sich. Ein Kuss auf die Wange folgte und sie kuschelte sich nah an ihn. Ihre Lippen wurden eins und Niklas Finger spielten mit ihren Haaren. "Ich liebe dich." hauchte er in ihr Ohr und Gamia verspürte ein Gefühl der Verborgenheit.
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Frühling 1713
"Wie schön, dass du dich schon immer freust, wenn du den Termin hast." Heather streifte die Jacke ab und setzte sich neben Musuko. "Ich weiß nicht, ich werde immer weniger nervös, je öfters ich es mache. Ich weiß was auf mich zukommt und kenne das bereits." Sie beobachtete Musuko, der sich über das Tablet beugte. "Außerdem fühle ich mich bei meinem Tätowierer wohl." Sie lächelte und Musuko versteckte, dass er sich geschmeichelt fühlte, aber es misslang. Das Aufleuchten seiner Augen verriet ihn.
"So, einmal Motiv angucken." Heather musterte das Motiv. Es war ein Blumenmotiv, welches sie mit Musuko ausgearbeitet hatte. Sie gab die Ideen vor, er zeichnete. Anfangs wollte sie nur Blumen, aber Musuko fehlte der besondere Pfiff.
Das Motiv waren Blumen, in der Mitte befand sich ein Auge und die Blumen darunter waren zerfallen. Musuko druckte die Vorlage aus und fixierte sie an Heather auf den linken Oberarm. Musuko bereitete alles vor und Heather setzte sich derweil auf die Liege. "Hast du im Büro jetzt mehr zu tun seitdem du deine Sonderstellung hast?" hakte Musuko nach und durch seine Ablenkung merkte Heather erneut nicht, dass er bereits anfing.
"Es geht. Aktuell sind wir ja langsam wieder in der Saison. Bald kommen wieder die ganzen Sommertouristen."
"Ich hasse den Sommer. Ich schmelze, meine Kunden schmelzen, mein Tablet schmilzt." Heather schmunzelte über seine Ausdrucksweise. "Hast du denn viele Kunden im Sommer?"
"Bei mir hält es sich in Grenzen. Viele sehe ich im Sommer gar nicht und anderen ist egal, ob Winter oder Sommer ist. Hauptsache Tattoo stechen lassen. Wenn es zu heiß wird schließe ich den Laden und verschiebe Termine. Einmal bei meinem Lehrmeister erlebt, der bei 27 Grad ein Tattoo gestochen hat. Der Kunde ist ihm danach umgekippt. Ich nehme mir auch gerne Urlaub in den Sommermonaten." Musuko fokussierte sich auf das Stechen. Heather krallte sich an ihr T-Shirt, als es unangenehmer wurde.
"Und für die Woche von 13. Oktober nimmst du dir auch Urlaub, oder?" hakte sie nach. "Ja, zwei satte Wochen. Hat Mikel sich auch eingetragen. Ein bisschen nervös bin ich schon." gab er offen zu.
"Wehe du machst einen Rückzieher!" mahnte Heather. "Nein, werde ich nicht. Ich bin nur allgemein nervös wegen dieser neuen Lebenssituation dann. Ich bin dann gebunden."
"Ach, das wird schon. Mutter hat immer gesagt, viel ändert sich nicht. Außer Name vielleicht und die Steuerklasse." Musuko lächelte.
"Mikel möchte, dass alles perfekt ist an diesem Tag. Er plant soviel. Es gibt zum Beispiel keinen Junggesellenabschied. Na gut, mit wem sollen wir auch feiern?", Er lachte. "Trotz der Nervosität freue ich mich auf den Tag. Mikel hat sicher auch ein paar Sorgen, aber bis jetzt kaschiert er es gut."
"Ich bin auch noch auf der Suche nach einem passenden Outfit." gestand Heather. "Mutter hat sicher was da. Schreib ihr mal. Ich meine Menschen anzukleiden kann sie gut. Ok, die Menschen sind tot und meistens bekommt sie die Kleidung von den Angehörigen, aber sie kann sicher helfen." riet Musuko ihr und Heather merkte sich das für später.
Heather bewunderte das fertige Motiv und dankte Musuko. "Immer wieder gerne. Es ist mir eine große Freude, dich zu tätowieren. Wann hast du das nächste geplant?" Sehnsüchtig erwartete er bereits den nächsten Termin.
"Wenn mir die nächste tolle Motiv-Idee in den Sinn kommt." Schelmisch grinste Musuko. "Da kann ich sicher nachhelfen." Die Freunde schmunzelten und saßen einen Augenblick zusammen.
"Meine Mutter hat sicher eine hübsche Auswahl an schwarzen Sachen, außer Särge oder Urnen. Denk dran, ihr zu schreiben." merkte Musuko an und Heather holte ihr Handy hervor. "Mache ich sofort." Der nächste Kunde betrat das Studio und Heather verabschiedete sich von ihren besten Freund.