Ihre erste Anlaufstelle führte sie zu Musuko, dem sie von dem Vorfall berichtete. Er saß auf dem Sofa, hörte ihr zu und ihm blieb der Mund offen stehen.
"Den ramme ich meine Tattoomaschine in den Arsch! Schade, dass Mutti nicht mehr da ist. Die hätte ihn unter die Erde gebracht, da glaub mal dran." Heather lachte auf. "Ich schreibe heute noch meine Kündigung und dann suche ich mir was neues. Mit meiner Erfahrung werde ich sicher in anderen Büros genommen." erklärte sie selbstsicher und erzürnt. Musuko hörte ihr zu.
"Hatte ich genauso gehandhabt. Du warst dort aber wirklich eine lange Zeit. Von Beginn deiner Lehre bis jetzt. Über 30 Jahre? Hast du nicht sogar Auszeichnungen dafür bekommen?" hinterfragte er verblüfft und Heather nickte. "Ja, die hängen auch bei mir in der Wohnung. Ich hatte auch gedacht, bis zur Rente da zu bleiben, aber nicht unter diesen Umständen." Es wurde still und Musuko sah kleine Tränen Heathers Gesicht runterlaufen. Ihre Wut schwand und all der Kummer vergangener Zeiten kam zutage.
"Ich vermisse Sarah. Es fühlt sich so unwirklich an, dass sie nicht mehr ist und ich diesen Betrieb hinter mir lasse. Es steckt so viel Erinnerung darin, Gefühle. Man kannte mich. Ich habe mich hochgearbeitet und war eine wichtige Säule für den Betrieb." Musuko reichte ihr ein Taschentuch in welches sie schnäuzte.
"Bei dem jetzigen Chef und deiner zukünftigen Kündigung würde es mich nicht wundern, wenn die Firma den Bach runtergeht." meinte er kalt.
"Ich hoffe eigentlich nicht. Mir liegt was an den Menschen dort und eigentlich auch dem Betrieb."
"Du kannst nicht an die Anderen denken. Du kannst es sowieso nicht beeinflussen. Natürlich möchte man nicht, dass es lieben Menschen schlecht geht, aber in erster Linie muss man an sich selbst denken."
Seine Worte waren direkt und Heather hörte zu weinen auf. Er seufzte.
"Und ja, ich weiß, dass du einfach nett bist. Trotzdem." Heather ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen.
"Du hast ja Recht." gab sie leise zu und spürte Musukos Arm um ihre Schulter. Sie lehnte sich zu ihm rüber und putzte ihre Nase sauber.
"Ich hoffe, ich finde was." murmelte sie. "Du hast selbst gesagt mit deinem Talent nimmt man dich locker. Und wenn nicht. Du bist finanziell gut aufgestellt." Er strich über ihre Schulter und sah sie ermutigend an.
"Ich hoffe es."
Heather schrieb ihre Kündigung und verließ den Betrieb im stillen. Die Kollegen dankten ihr und von diversen Personen bekam sie eine Kleinigkeit zum Abschied, aber die große Verabschiedung blieb aus. Sie war eineinhalb Monate arbeitssuchend, bis sie im Büro eines anderen Unternehmens eine Arbeitsstelle fand.
Sarah starrte auf das Wasser des Sees, der ihr ein Bild von ihrem Grab zeigte. Sie erblickte ihren Cousin Hannes mit seiner Partnerin. Er war mit Heather der einzige nahestehende, der ihr Grab regelmäßig besuchte. Timothy war nur zu ihrer Beerdigung gekommen und hatte ihr Grab nie wieder aufgesucht. Sie starrte gedankenverloren auf das Grab und lachte kurz auf.
"Was für ein dummer Tod. Das war anders nicht von mir zu erwarten." Sie schmunzelte darüber, aber verzog ihre Mundwinkel nach unten. Das Bild verschwand und sie stand auf.
"Ich sollte weniger auf mein Grab gucken." murmelte sie zu sich selbst. Planlos lief sie durch den Garten Eden und blieb bei einem Baum stehen. Mit dem Rücken lehnte sie sich an diesen und beobachtete die Menschen um sich herum.
"Jetzt habe ich so viel Zeit, aber anstellen kann ich damit nichts." Sie seufzte und starrte nur geradeaus.
"Ich wollte immer so viel unternehmen. Warum habe ich das nie gemacht?" Ihr fiel ein Portal auf, welches sich öffnete und ihre Augen weiteten sich, als sie den Rotschopf erblickte. Die Röte stieg ihr ins Gesicht und sie vermied den Blickkontakt. Sie lief um den Baum herum und hoffte, er hätte sie nicht gesehen. Sarah wollte großen Schrittes gehen, bis sie hinter sich den Baum vernahm und ein: "Hey, ich habe deine Seele geleitet. Wie wäre es mit einem hallo?" Sie zuckte zusammen, drehte sich um und sah Johannes, der kopfüber am stämmigen Ast hing. Er hatte die Arme verschränkt und sein Oberteil rutschte nach unten, wobei die Sicht auf seinen Bauch frei wurde. Er vollführte eine Drehung und landete vor Sarah auf die Füße. Sein Blick war verhalten.
"Ha-hallo.", Sarah hob leicht die Hand zur Begrüßung.
"Du hier?" Er nickte.
"Eltern besuchen. Kannst ja mitkommen, dann lernst du meine Mutter kennen." Er klang wortkarg und Sarah wusste, worauf er anspielte. Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit.
"Ich ähm..." Sie senkte den Kopf und nahm ihren Mut zusammen.
"Johannes... Es tut mir so leid, wie ich dich behandelt habe. Ich habe fiese Dinge gesagt, obwohl ich es so gut mit dir hatte. Und obwohl ich so gemein war, hast du mich vor einem kränklichen Tod bewahrt. Ich war nicht fair gegenüber dir und deiner Mutter. Jetzt wo ich tot bin und alles mehr verstehe, glaube ich dir. Du bist kein Spinner." Vorsichtig lächelte sie ihn an und Johannes blieb ihr Satz mit seiner Mutter im Kopf. Er lockerte seine verschränkte Haltung.
"Du warst scheiße zu mir und hast beschissene Dinge gesagt, aber dich an Krebs sterben zu lassen konnte ich nicht. Der Tod war ziemlich sauer deswegen." Seine Worte lösten etwas in Sarah aus. Es war ein Gefühl der Reue, indem sie sich bewusst wurde, was für eine tolle Person sie vor sich hatte.
"Es tut mir so leid. Kannst du mir verzeihen?" Sie schaute ihn in die Augen und erhoffte, dass er die von ihr erwünschten Worte sagen würde, aber dies tat er nicht.
"Wenn du dies meiner Mutter ebenfalls sagen würdest, könnte ich dies in Erwägung ziehen." Er blickte sie gestochen scharf an und Sarah ließ sich die Worte im Kopf zergehen. Sie fasste sich den Mut und nickte.
"Okay, ich begleite dich zu deinen Eltern und werde mit deiner Mutter reden." Zum ersten Mal nach ihrem Konflikt sah Sarah Johannes lächeln.
"Dann folge mir!" bat er und sie lief ihm mit einem gewissen Abstand hinterher.
Johannes klopfte an der Tür, die sich ihm offenbarte und erblickte seine Eltern als erster. Die Aufmerksamkeit fiel sofort auf Sarah, die hinter Johannes langsam zum Vorschein kam. Jorina erkannte sie sofort wieder. Ihre Begrüßung war, wie die von Sarah, leise und verhalten. Jeremy sah Sarah fragend an und grüßte sie mit einem fragenden: "Guten Tag?"
"Ich bin Sarah." stellte sie sich leise vor, aber seine Eltern verstanden sie. Die Stimmung war angespannt und keiner wollte etwas sagen. Sarah biss die Zähne zusammen und ging einen Schritt auf Jorina zu. Sie krallte sich an ihr weißes Oberteil.
"Ich möchte mich für die Worte entschuldigen, die ich getätigt habe. Ich habe gemeine Dinge über eine Person geäußert, die ich nicht kenne." Sie musterte Jorina und ihr fiel neben der Ähnlichkeit zu Johannes, ihre wärmende Ausstrahlung auf. Es tat ihr umso mehr leid, dieser Frau unrecht getan zu haben.
Jorina dachte über ihre Worte nach und schaute Sarah lächelnd an.
"Es ist okay. Ich nehme deine Entschuldigung an."
Sarah fiel ein Stein vom Herzen und dankte Jorina. Sarahs Augen funkelten und sie verabschiedete sich von Jorina. Johannes brachte sie aus dem Raum und als beide weg waren, meinte Jeremy kritisch: "Du bist zu gutmütig. Ich verzeihe ihr das noch nicht." Darüber schmunzelte Jorina.
"Groll bringt niemanden weiter und wenn Johannes ihr verzeihen kann, mit ihr glücklich ist, warum nicht?"
Johannes stand mit Sarah im Garten Eden nahe der Tür zu seinen Eltern. Mit runterhängenden Armen stand er vor ihr.
"Ich finde es gut, dass du dich entschuldigt hast."
"Deine Mutter sieht nett aus." entgegnete Sarah und Johannes lächelte bei ihren Worten.
"Ja, das ist sie wirklich." Erwartungsvoll blickte Sarah Johannes an und wollte ihn fragen, ob er ihr verzeihen kann, aber sie entschied sich dagegen. Johannes gab ihr auf ihre Frage von selbst eine Antwort.
"Lass schauen, was sich mit der Zeit ergibt. Komplett vergessen werde ich deine Worte nicht, aber ich möchte mich auch nicht daran aufhängen." Er lächelte sie sanft an und Sarah nickte. Sie senkte ihren Kopf.
"Ich kann dich verstehen. Ich würde nicht anders reagieren. Irgendwie bin ich froh, dass ich dies noch mit dir klären konnte." Zum ersten Mal nach langem sahen sich die Zwei entspannt an. Eine Stille fiel über beide her. Diese durchbrach Johannes.
"Na dann. Meine Eltern warten." Er winkte ihr und betrat dann die Tür. Sarah nickte und winkte nur. Sie sah ihn durch die Tür gehen und schaute ihm hinterher.
"Er war so toll und ich Idiotin habe ihn vergrault."
Leise Tränen rollten ihr Gesicht hinunter. "Er war der Beste, den ich je hatte und wegen sowas banalen habe ich ihn wie ein Monster behandelt." Sie wischte ihre Tränen weg, aber das Schuldgefühl blieb. Sie versuchte sich Heathers Worte und was sie nun sagen würde, in den Kopf zu rufen.
"Heath hätte sicher ein paar weise Sätze für mich gehabt." Mit der linken Hand umfasste sie ihr rechtes Handgelenk. "Ich hoffe meiner Heath geht es gut in der Firma. Ich hoffe der Firma geht es gut." Sie setzte sich auf die Grasfläche und ließ das Gras durch ihre Finger fahren.
"Ich wäre gerne noch da unten auf der Erde. Ich habe das Gefühl so viel zu verpassen." Ihr Selbstgespräch wurde durch eine zärtliche Stimme unterbrochen.
"Hast du nicht schon zu viel verpasst?" Sarah blickte zu Mutter Natur in ihrem Gewand. Mutter Natur setzte sich zu ihr. Sarah war eingenommen von Mutter Naturs ruhiger Aura. In ihr lag etwas, was ihr das Gefühl gab, ihr alles anzuvertrauen zu können. "Ich habe dein Selbstgespräch bemerkt. Machst du dir im Leben nach dem Tod noch Gedanken über die Arbeit?" Sarah fühlte sich ertappt und nickte beschämt. "In diesem Gedankenkarusell war ich selbst Ewigkeiten gefangen. Es ist nicht leicht, jahrzehntelange Glaubenssätze, die einen eingetrichtert worden sind, wieder aus dem Kopf zu bekommen. Ich habe lange dafür gebraucht, es zu verstehen und benötigte Hilfe, um diesen Kreis zu zerbrechen. Die Arbeit ist ein irdisches Konzept und sie sollte dich nicht noch im Tode beherrschen. Du bist frei von den irdischen Konzepten. Im Gegensatz zu dir werden sich die anderen weniger Gedanken machen. Die Wenigsten werden dir dein Tun danken und viel bringen wird dir das kaum was." Sarah vernahm Mutter Naturs Worte.
"Eigentlich wollte ich immer viel erleben, reisen und bin dann doch in der Firma steckengeblieben. Dabei hat es mich selbst immer gestört, wenn ich mitbekam, dass Vater viel Zeit in der Firma verbrachte und sich mit Mutter stritt. Ich war kein Stück besser.", Sie winkelte die Knie an. "Eigentlich wollte ich das ganze nie. Ich habe es hingenommen, weil ich dachte ich muss das tun. Immerhin war es ein Familienbetrieb."
"Du bereust das?" fragte Mutter Natur zärtlich und Sarah nickte mit verzerrten Gesichtsausdruck. Sie hielt ihre Tränen zurück.
"Ja!" kam es verzweifelt aus ihr und Mutter Natur nickte. "Kannst du dir das selbst verzeihen?" Lieblich lächelte sie Sarah an. "Es fängt damit an, sich selbst zu vergeben." Sarah japste.
"Ich würde gerne, aber ich kann noch nicht." Mutter Natur nickte. "Es ist in Ordnung. Du hast es selbst erkannt und eingesehen. Dies ist okay. Gib dem Zeit." Sie strich Sarah über das Haar und stand langsam auf.
"Danke." murmelte Sarah und Mutter Natur lächelte aufmunternd.
"Gern geschehen."