Inzwischen war ein bisschen Zeit vergangen und die Verletzten hatten sich alle von dem Seelenkampf erholt. Die Situation hatte sich beruhigt und die Rate der Höllenwesen, die beim Geleit angegriffen hatten, war zurück gegangen. Justin lief mit einigen Akten die Treppen der Gilde hoch und kam an den Zwillingen vorbei. Er öffnete die Tür zum Sensenmann. Mittlerweile war Justin ausgelernt und ein treuer Gehilfe.
In der Gilde stießen Cedric und Henrik miteinander an und genehmigten sich ein Glas Wein. "Wie schön, endlich wieder mit dir zusammen zu sitzen und einen Wein zu trinken." lobte Henrik erfreut, überschlug die Beine und lehnte sich entspannt zurück. "Das kann ich nur zurück geben." erwiderte Cedric und nahm einen weiteren schluck. Wenn es sich ergab, kam Cedric seinen Bruder immer in der Gilde besuchen und trank einen Wein mit ihm.
Es klopfte an der Gildentür und Henrik gewährte der Person Einlass. Ein junges Mädchen mit langen schwarzem Haar trat vorsichtig hinein und hielt etwas in ihren Armen fest, vermutlich waren es Akten. Sie sah sich nervös um, als sie sie das erste Mal in der Gilde und von der Aufmachung beeindruckt. Das Mädchen blickte zur Gilde hinauf und fragte: "Hallo, ist der Gildenführer da?"
Henrik schaute hinunter. "Guten Tag, der Gildenführer ist anwesend. Ich komme zu Ihnen herunter, warten Sie kurz." Henrik lief die Treppen hinunter und stellte sich vor das Mädchen. Er stockte, als er sie sah, aber verbeugte sich vornehm. "Gestatten, Henrik Dronner, der Gildenführer." Er musterte sein Gegenüber und war innerlich angespannt. Das Mädchen schien sich zu freuen, als sie diesen Namen hörte, jedenfalls funkelten ihre Augen auf. "Mein Name ist Alma Corenzola."
Henriks Blick wurde starr, als er diesen Namen hörte, während Alma freudig lächelte. "Was wünschen Sie?" erkundigte sich Henrik weiter und Alma gab ihm vorsichtig das, was sie in der Hand hatte. Es war ein Bild, auf welches er eine schüchterne Frau mit langem braunen Haaren so trug, als würde er sie über die Hochzeitsschwelle tragen. Beide sahen sehr glücklich zu diesem Zeitpunkt aus. "Das ist meine Mutter, sie hat mir dieses Bild gegeben und sagte, ich soll mich nach den obersten Gildenführer erkundigen, welcher Henrik Dronner heißt." Nervös linste sie zur Seite, war aber glücklich, während Henrik regelrecht geschockt auf das Foto sah. Er war sprachlos und wusste nicht, was er sagen sollte. Cedric belauschte die Situation und lief langsam die Treppen hinunter, ohne dass es einer mitbekam. "Ich bin so glücklich, dass ich dich kennen lernen darf und weiß, wer mein Vater ist!"
Alma grinste und entblößte ihre zwei spitzeren Eckzähne, ähnlich wie bei Henrik, welcher aufgrund der vielen Beweise wusste, dass sie nicht log. Er war nach wie vor sprachlos und konnte nicht realisieren, dass dieses Mädchens, welches gerade vor ihm stand, seine Tochter ist. Alma streckte die Arme aus und fragte: "Darf ich dich vielleicht umarmen? Ich wollte dich schon so lange immer einmal kennenlernen." Sie kam einen Schritt näher, aber abweisend wies Henrik sie zurück und trat nach hinten. "Nein." entfuhr es ihm erschrocken und Alma zuckte zusammen. Ihr Mundwinkel verzog sich nach unten und die Enttäuschung überkam sie. "Ist okay..." murmelte sie und senkte den Kopf. Cedric begutachtete die Situation kritisch und verschränkte die Arme dabei. "Und was genau möchtest du jetzt von mir?" hakte Henrik emphatielos nach und Alma kränkte diese Aussage. Sie hielt sich den rechten Arm und war bestürzt. "Ich verstehe, dass es dich überrascht." sagte sie traurig und Henrik nickte, bevor ihm ungeschickt aus dem Mund ein Satz entwich, welcher Alma beinahe zum weinen brachte. "Was soll ich denn jetzt mit dir machen? Ich kann mit dir nichts anfangen."
In Almas Augen sammelten sich Tränen und auch Cedric konnte nicht fassen, was Henrik von sich gegeben hatte. Anscheinend war sich Henrik nicht einmal bewusst, was er eben kaltherzig von sich gegeben hatte. Alma war komplett getroffen. "Ich wollte immer wissen, wer mein Vater ist. Warum sagst du sowas?!" Kurzerhand drehte sie sich um und lief die Gilde tonlos hinaus. Cedric hatte das Gespräch mitbekommen, war genauso schockiert wie Alma und rannte ihr hinterher. Er ließ Henrik ganz alleine zurück, welcher beiden mit gemischten Gefühlen hinterher sah und dann auf die Fotografie blickte.
Cedric fing Alma nach der Gildentür ab. "Bitte warte!" rief er und Alma drehte sich traurig zu ihn um. "Hallo, Sie sind?" fragte sie leise nach und ihr Gegenüber verbeugte sich. "Cedric Dronner, ich bin der Bruder von Henrik." Beide sahen sich an und Alma nickte. "Ich habe das Gespräch von eben mitbekommen und konnte dich nicht einfach stehen lassen. Was Henrik gesagt hat, hat auch mich schockiert." Mitfühlend sprach er mit ihr. "Mich hat es sehr getroffen. Ich kann es nachvollziehen, dass er überrascht war, immerhin steht nach einiger Zeit plötzlich jemand vor ihm und sagt, er wäre der Vater dieser Person. Trotzdem rechtfertigt es nicht das, was er erzählt hat! Ich bin nur bei meiner Mutter groß geworden und kannte meinen Vater bis eben nicht, weil Mutter mir nie erzählen wollte, wer er ist. Deshalb hatten wir manchmal Streit, weil ich unbedingt wissen wollte, wer er ist." Alma versuchte sich zu beherrschen, während Cedric ihr aufmerksam zuhörte. "Henrik ist sehr ungeschickt mit dem Umgang von Gefühlen anderer. Ich musste diese Erfahrung auch bereits machen. Wenn er aber erstmal versteht, dass er was falsch gemacht hat, dann tut es ihm auch wirklich leid. Ich werde mit ihm reden." Bei Cedric fühlte Alma sich mit ihren Sorgen gerade sehr gut aufgehoben. "Danke." murmelte sie betrüb, als Cedric sie vorsichtig umarmte. "Ich freue mich, eine Nichte zu haben." sagte er lächelnd und strich über ihre Schulter. Dieser Satz brachte Alma kurz zum grinsen, bevor sie sich verabschiedete.
Währenddessen saß Henrik auf dem Sitz des Gildenführers und musterte das Bild mit gesenkten Blick. Er schien an früher zu denken, als sein Bruder ihn aus dem Gedanken riss. Cedric setzte sich zu seinem Bruder. "Und?" erkundigte Henrik sich gedankenverloren und wurde etwas streng von Cedric gemustert, welcher die Arme verschränkte. "Sie ist traurig und enttäuscht.", fing er kalt an und Henrik war nicht erfreut, das zu hören. "Alma hat mir erzählt, dass ihre Mutter sie alleine groß gezogen hat und beide manchmal Streit hatten, weil sie wissen wollte, wer ihr Vater ist, aber ihre Mutter es nicht erzählen wollte." Henrik schluckte, als er das hörte und senkte den Kopf. Ihm schien bewusst zu werden, was er angestellt hatte. "Das wollte ich nicht. Hätte ich das nur nicht gesagt oder mich damals getrennt." Er hatte sichtbare Schuldgefühle und Cedric wurde hellhörig. "Erzähl mir bitte mehr." bat er und legte den Finger ans Kinn. Henrik hielt das Foto weiterhin in die Hand.
"Vor 20 Jahren war ich mit einer Smeralda Corenzola zusammen. Sie war still, schüchtern, emotional und hatte Vertrauensprobleme. Man kam nicht leicht an sie ran und von sich hat sie wenig erzählt, besonders wenn es ihr nicht gut ging. Sie kam irgendwann von alleine mit ihren Problemen zu einem." Als Cedric die Beschreibung hörte, bekam er schon kein gutes Gefühl, da Cedric nicht anders gewesen war und Henrik mit seiner aufgeschlossenen Art solchen Personen unbewusst wehtun konnte. Er hörte seinem Bruder weiter zu.
"Wir haben uns kennengelernt, als ich sie mit einer Weinflasche sah und konnte nicht anders, als sie darauf anzusprechen. Zusammen haben wir diesen verköstigt und ich fand sie interessant. Deshalb wollte ich sie nicht gehen lassen und schlug ein weiteres Treffen vor. Nach und nach kamen wir uns näher und schließlich waren wir ein Paar.", Er lächelte kurz. "Eines Abends war sie bei mir in der Gilde und wir haben den ein oder anderen Wein zu viel getrunken. Je nachdem kam eines zum anderen." Cedric verstand schon, was sein Bruder damit sagen wollte. "Wenige Wochen später war es sehr stressig in der Gilde, ich war gereizt und aus einer dummen Laune heraus, haben wir uns gestritten, wie wenige Tage zuvor auch schon. Ich habe mich dann von ihr getrennt." Henrik schlug die Hand vors Gesicht und biss die Zähne zusammen. "Wenn ich doch nur gewusst hätte, dass sie Alma bereits unter ihrem Herzen trug!" Er seufzte traurig und nahm einen schluck Wein.
"Ich würde mit ihr reden und mich aufrichtig entschuldigen. Deine Aussage hat sie sehr verletzt." erzählte Cedric und redete auf Henrik ein. "Was du gesagt hast, ging nicht. Arbeite daran, wie du mit den Gefühlen anderer umgehst. Es wäre nicht das erste Mal, dass du mit deinem Verhalten jemanden verletzt." Mit einer gewissen Strenge und einem ernsthaften Tonfall sprach er mit Henrik darüber, welcher an ihren jahrelangen Streit denken musste und Henrik nickte. Er hatte ein schlechtes Gewissen. "Würdest du mir bitte einen Gefallen tun?" bat er und schaute Cedric an, welcher leicht verwundert nickte. "Könntest du bitte meinen Platz in der Gilde vorerst übernehmen? Ich versuche mit Alma zureden."
Er stand auf und richtete seinen Mantel. Sein Bruder bejahte seine Bitte und Henrik dankte. "Ich versuche nicht zu lange wegzubleiben!" Dabei lief er die Treppen runter, als Cedric ihn noch einmal aufhielt. "Nimm dir ruhig so viel Zeit, wie du brauchst." Henrik beherzigte diesen Tipp und lief die Gilde hinaus.
Schließlich stand Henrik vor einer Wohnungstür und klopfte nervös. Die Tür wurde ihm von einer Frau mit langen braunem Haar geöffnet. Ihre Augen schimmerten grün und wurden von einer Brille umrandet. Sie trug ein weißes Hemd und eine schwarze Jeans. Die Frau war etwas größer, knapp über 1,80cm und schlank.
"Hallo, Henrik, was möchtest du?" fragte sie kühl nach und Henrik fragte mit gesenkten Kopf, ob er reinkommen dürfte und blickte Smeralda schuldig an. Sie nickte und beide standen im Wohnzimmer. Er musterte die Stube und Smeralda setzte sich auf ein Sofa, gebaut aus Holzpaletten. "Ist Alma da?" fragte er vorsichtig nach und Smeralda nickte. "Sie ist eben heimgekommen und hat geweint. Ich musste sie erstmal trösten, als sie mir erzählt hat, was in der Gilde passiert ist. Wie konntest du sowas sagen?" Auch Smeralda war sichtlich sauer auf Henrik, welcher die Hände zu Fäusten ballte und zur Seite blickte. "Deswegen bin ich hier, es tut mir leid." sagte er schuldbewusst und Smeralda sagte nichts dazu, sondern schaute nur verletzlich zu Boden. In ihr kamen Erinnerungen von früher hoch.
Henrik kam ihr ein wenig näher und es tat ihm immer mehr leid, als er sich Smeraldas Worte durch den Kopf gehen ließ und sich vorstellte, wie Alma weinend in den Armen ihrer Mutter lag. "Warum hast du mir nie erzählt, dass du ein Kind von mir erwartest?" hakte er neugierig nach und Smeralda zuckte leicht zusammen. "Die Trennung hat mich sehr verletzt und ich hatte lange damit zu kämpfen. Ich konnte es einfach nicht, immerhin habe ich mich dir anvertraut und du hast dich rücksichtslos aus einer Laune heraus getrennt. Das habe ich damals nicht verstehen können."
Henrik hatte Schuldgefühle, dass er Smeralda emotional so wehgetan hat. "Wenn ich nur gewusst hätte, was ich damit anrichte. Ich habe später gemerkt, was für einen Fehler ich begangen habe, aber ich musste immer zu an dein Gesicht denken, als wir uns getrennt haben. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich genauso wenig wie du getraut, wieder zu dir zu kommen. Wärst du damals aber zu mir gekommen, dann hätte ich dazu gestanden!" erzählte Henrik ruhig und war betrüb über die ganze Situation. Smeralda hörte seinen Worten zu, bevor sie jedoch relativ kühl meinte: "Warum stehst du jetzt nicht zu deiner Tochter? Sie ist in ihrem Zimmer." Damit verwies sie auf eine verschlossene Tür und Henrik war kurz starr bei Smeraldas Worten. Sie hatte Recht, wenn er sagte, er hätte damals zu dem Kind gestanden, wenn sie schwanger wieder gekommen wäre, warum dann nicht jetzt auch? Nervös näherte er sich dieser und klopfte. Es kam keine Antwort und Henrik konnte nachvollziehen, wenn Alma ihn nicht sehen wollte. Er versuchte es noch einmal und hörte schließlich ein genervtes: "Komm rein!" Henrik zuckte zusammen und merkte, dass Alma nicht gut auf ihn zu sprechen war. Unsicher trat er hinein und schloss die Tür hinter sich. Nachdem Henrik in Almas Zimmer gegangen war, konnte Smeralda ohne, dass es jemand mitbekam, ihre Tränen wegwischen.
Henrik begutachtete ihr Zimmer, unteranderem das Bett, gebaut aus Holzpaletten. Alma saß an ihrem Schreibtisch und hatte Henrik den Rücken zugedreht. Er gesellte sich zu ihr und musterte sie. "W-was machst du da Schönes?" fragte er und musterte sie. "Ich schreibe Tagebuch." antwortete sie kalt und schrieb weiter, dabei fiel Henrik etwas auf. "Bist du Linkshänderin?" Nickend sah sie zu ihm und Henrik schmunzelte. "Ich auch." Alma schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr.
"Worüber schreibst du denn?" erkundigte Henrik sich und versuchte es weiter, mit ihr ins Gespräch zu kommen. "Damit kannst du doch sowieso nichts anfangen." erwiderte sie und erinnerte Henrik an seine Aussage in der Gilde. Daraufhin sah er geknickt zu ihr und bekam weitere Gewissensbisse. "Wenn du es aber so unbedingt wissen möchtest.", Damit nahm sie ihr Tagebuch zur Hand und drehte sich zu Henrik. "Liebes Tagebuch, erinnerst du dich daran, wie ich immer meinen Vater kennenlernen wollte? Heute habe ich ihn kennengelernt und wünschte, ich hätte es nie. Ich kann meine Mutter verstehen, warum sie mir nie von ihm erzählen wollte." Damit legte sie ausdruckslos das Tagebuch zur Seite und schaute zu Henrik. Alma machte ihm gerade ein richtig schlechtes Gewissen und traurig fing er an zu erzählen. "Mein Verhalten in der Gilde tut mir unfassbar leid und ich weiß, dass es nicht wieder gut zumachen ist. Mir ist bewusst geworden, was ich für einen Fehler gemacht habe und entschuldige mich aufrichtig bei dir." Schuldbewusst verbeugte er sich und redete weiter auf sie ein. "Ich stehe dazu und bin stolz, dass es dich gibt. Wenn ich ehrlich bin hätte ich mir keine schönere Tochter vorstellen können." Er meinte diese Worte ehrlich und sah zu ihren langen glänzenden schwarzem Haar oder die grünen Augen, welche von ihrer Brille noch betont worden. Er erkannte sowohl Smeralda als auch sich selber in ihr wieder. Daraufhin wurde ihm erst wieder bewusst, dass dies sein eigen Fleisch und Blut war und er nun ein Vater war. Auf einer Seite konnte er dies immer noch nicht ganz glauben, doch erfüllte der Gedanke ihn langsam mit Stolz.
Seine Worte beeindruckten Alma gar nicht. "Wenn du denkst, dich mit diesen Sätzen einzuschleimen, bist du bei mir an der falschen Adresse. Sie sind bedeutungslos und du möchtest damit nur erreichen, dass ich dir verzeihe." Komplett kalt warf sie Henrik diese Worte an den Kopf und wendete nicht eine Sekunde den Blick von ihm ab. Henrik merkte, dass er sie sehr schlimm getroffen haben musste und sagte eine Weile nichts. Gerade kam er nicht bei ihr weiter und wollte sie vorerst in Ruhe lassen. Er warf einen letzten Blick auf die verschiedensten Notizen an ihrer Wand, bevor er sich verbeugte. "Es ist in Ordnung, ich lasse dich in ruhe. Wenn du doch noch reden möchtest, kannst du gerne in die Gilde kommen. In der nächsten Zeit werde ich immer Abends da sein. Es tut mir nach wie vor leid und ich kann mich oft genug bei dir entschuldigen." Mit glanzlosen Augen und geknickten Kopf verschwand er aus ihrem Zimmer.
Alma sagte kein Wort mehr, schaute ihm hinterher, bis er gegangen war und wandte sich dann wieder ihrem Tagebuch zu. Henrik stand noch für eine Weile bei Smeralda. "Ich habe mit ihr geredet und mich entschuldigt, aber sie war nicht sehr erfreut. Trotzdem danke, dass wir noch einmal reden konnten und ich bereue auch dir gegenüber mein Verhalten." Er umfasste entschuldigend ihre Hände und schaute sie direkt an. Für einen Moment sahen sich beide an, bevor Smeralda die Hände wegzog, den Kopf senkte und sich umdrehte. "Bitte geh jetzt." Henrik verabschiedete sich und verschwand zurück zur Gilde.