Viktorius war 26 Jahre alt und verweilte immer noch daheim. Am heutigen Morgen, den 12.3, wachte er als Erster in der Früh auf und klopfte an der Zimmertür seiner Mutter.
"I-ich würde Frühstück machen. Soll ich für dich aufdecken?" fragte er hinter der Tür, bekam aber keine Antwort. "Dann schläft sie noch." meinte er seufzend und deckte für sich, frühstückte in Ruhe, bevor er sich vornahm, das Wohnzimmer zu putzen. Nach getaner Arbeit sah er auf die Uhr, es schlug 10. Er bekam den spontanen Einfall seiner Mutter das Frühstück an das Bett zu bringen. Eine herzliche Geste seiner Seite, die er selten tätigte, da die Bindung zu ihr nicht die Beste war. Er goss einen Tee auf und belegte zwei Brotscheiben für sie, bevor er mit dem Tablett zum Schlafzimmer seiner Mutter lief. Um die Tür zu öffnen stellte er das Tablett kurz zur Seite und betrat das Schlafzimmer.
Starr wurde sein Blick und er wich zurück, als er den leblosen Körper von Klarissa erblickte.
"Warum? Warum hat der Tod meine Mutter und nicht mich geholt?" Er ließ die Tür ins Schloss fallen und nahm geknickt das Frühstück, stellte es in die Küche und vegetierte vor sich hin. Er wusste nicht, was er nun tun sollte und fühlte sich leer. Es war, als wäre sein letzter Anker im Leben entrissen worden, auch wenn er es nicht gerne zugab, die Strenge seiner Mutter, eine Routine im Haushalt zu haben, hatte ihm Halt gegeben. Jetzt war er komplett alleine. Niemand, der sich um ihn kümmerte und keinen, der für Viktorius einen Wert hatte. Viktorius fühlte nichts und seine Gedanken kreisten um den Körper seiner Mutter. Irgendwo kam Freude in ihn auf. Nie wieder müsste er sich ihren niederschmetternden Kommentaren ergeben.
Er bekam das Bild nicht mehr aus dem Kopf und konnte nicht anders, als zu ihrem Schlafgemach zu gehen. Genauestens beobachtete er ihren Körper, sie sah aus, als würde sie schlafen und schien nicht lange tot zu sein. Mit den Finger strich er über ihr Haar. "Wonach geht der Tod, wem er als nächstes holt? Geht er überhaupt nach etwas vor oder entscheidet er wahllos, wenn er es denn entscheidet." murmelte er fragend und nahm Klarissas Hand. Er weinte nicht um sie und dachte kurz, sie würde gleich wieder ihre Augen aufschlagen, nach unten gehen und frühstücken.
"Wo bleibe ich nun nur?" fragte Viktorius sich, welcher bis zu ihrem Tode nichts von dem Testament wusste. Er bekam Angst, dass er auf der Straße, in den Gossen landen würde, aber diese Vorstellung grauste ihn weniger, je mehr er daran dachte, wären die Slums doch der perfekte Ort für seine niedere Gestalt.
Es verging ein Tag, bis Viktorius die Kraft fand, dem örtlichen Bestatter Herr Krachten darüber in Kenntnis zu setzen. Dieser kam zügig mit Kutsche und Sarg. Viktorius sah, dass er eine Frau und ein kleines Mädchen dabei hatte.
"Sie ist gestern verstorben." murmelte Viktorius und Herr Krachten kümmerte sich mit seinem Gehilfen um die Verstorbene. Herr Krachten erklärte ihm, was auf ihm zukäme und dass er zum Bestattungsinstitut kommen sollte, um alles zu besprechen. Mit letzter Kraft tat Viktorius dies. Er hörte dem Bestatter mehr zu, als dass er selber was sagte und ließ ihn machen, wenn es um das weitere Verfahren von Klarissas Hülle ging. Hellhörig wurde er, als das Testament erwähnt wurde. "Ich erbe all dies?"
Ein Hoffnungsschimmer breitete sich in ihn aus und er realisierte, dass er in dem Haus weiterleben konnte, auch wenn er nicht mehr leben wollte.
Zu Klarissas Beerdigung kamen viele Dorfbewohner ihres alters, hauptsächlich Frauen mit ihren Männern. Viktorius fühlte sich nicht wohl in ihrer Gegenwart. Für ihn waren sie Heuchler, wie sie über Klarissa redeten, als sei sie eine tolle Frau erster Klasse gewesen, obwohl er wusste, dass sie oft in bösen Zungen über sie redeten. "Jetzt ist sie wieder bei ihrem Geliebten." hörte er eine schniefende Frau. Er mochte es nicht, wenn sie zu ihm kamen und ihn bemitleideten, wie schon bei der Beerdigung seines Vaters. Sie wurde direkt neben ihrem Mann beerdigt und Viktorius blickte auf ihr Grab herab.
"Ich würde gerne auch dort unten liegen..." murmelte er und verließ den Friedhof. Er hatte das Gefühl, dass die Menschen ihn bemitleidend ansahen, aber sobald sie sich abwandten, zogen sie das verachtende Gesicht wie immer.
Viktorius legte sich nach der Beerdigung in sein Bett und verblieb dort. Jetzt gab es niemanden mehr, der ihm etwas vorschreiben konnte. Er lebte ganz alleine, konnte frei über alles entscheiden. Trotzdem fühlte er sich, als hätte man ihn den Boden unter den Füßen entrissen.
Das Leben von Viktorius entglitt aus den Fugen. Er pflegte sein äußeres Erscheinungsbild kaum noch. Seine Haare wuchsen schnell und wurden länger, bis sie zu seiner Hüfte reichten. Da er sie kaum kämmte, waren sie verknotet und zerzaust. Wenn es hoch kam, duschte er einmal die Woche. Die Kleidung wechselte er, bis auf die Unterwäsche, alle paar Tage. Er war froh, dass er täglich zum Zähne putzen kam. Um das Haus sorgte er sich gut und kam alle paar Tage zum putzen. Es war für ihn zur Gewohnheit geworden. Den Kontakt zum Dorf mied er. Wenn er dringend was brauchte lief er zum Markt und kaufte so, dass es für mehrere Tage hielt. Heute war er auf dem Markt unterwegs und automatisch wichen die Menschen zur Seite, immer mit einem angeekelten oder verachtenden Blick.
"Was will der denn hier?" flüsterte eine Frau ihrer Begleitung zu und eine andere Frau rümpfte die Nase, bevor sie lautstark fragte: "Was stinkt hier denn so abartig?" Sie wollte, dass Viktorius es hörte und lächelte dabei. Leise dankte Viktorius dem Metzger und lief schnells möglichst Heim, nur hielt ein Trauerzug ihn auf. Schwarz gekleidete Personen kamen ihnen entgegen und er ließ sie passieren. Er vernahm weinende Personen.
"Thompson war ein guter Bürger dieses Dorfes. Seine Taten werden nie vergessen." hörte er die Menschen reden und er lief mit hängenden Kopf auf sein Haus zu. Ein paar Dorfbewohner sahen ihm hinterher, darunter eine Frau, die weiter vorne beim Trauerzug mitlief. Sie verlor sich ein wenig in ihren Gedanken, bis eine schwarzhaarige Frau sie an die Hand nahm. "Du läufst noch wo gegen." mahnte diese und die Frau nickte einfach nur.
Der Trauerzug neigte sich dem Ende zu und auch die Besucher verließen nach und nach das kleine Haus in Marktnähe. Übrig blieben zwei Frauen, die Anwohnerinnen des Hauses, wie es schien. Das Geschirr vom Besuch lag gestapelt neben dem Waschbecken und beide Frauen saßen sich am Holztisch in der Küche gegenüber. Beide trugen schwarze Kleider. Die Ältere von beiden, über 50 Jahre, hatte gewelltes, mittellanges, schwarzes Haar, gekämmt zu einem Mittelscheitel. Ihre Augen funkelten hellblau und ihr Lächeln besaß etwas wohltuendes, etwas friedliches. Ihr Gegenüber war jünger, wahrscheinlich Mitte 20. Ihr Haar war ebenfalls zu einem Mittelscheitel gekämmt, aber es war braun, glatt und lang. Die Augen strahlten in einem dunkleren grün. Sie wirkte, als würde sie träumen und Trauer spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder. Sie war ein Kopf größer als die Schwarzhaarige und beide waren von zierlicher Gestalt.
"Danke, dass du mich an diesem Tag begleitet hast, Berta. Du hast mir viel Kraft gegeben." dankte die Jüngere und Berta nickte mit einem sanften Lächeln. "Ich helfe dir, wo ich nur kann. Das habe ich schon immer getan und werde ich weiterhin tun, Tiffany." Dabei ergriff sie Tiffanys Hand, welche beruhigt hochblickte. "Wie lange bist du schon bei uns? Ich glaube seit meinem 8.ten Lebensjahr... seit Mutter damals..." Sie brach ihren Satz ab und Berta strich über ihre Hand. "Es ist in Ordnung. Wir kennen uns schon lange, ok?" meinte sie beruhigend und Tiffany nickte. "Jetzt kann Vater wieder bei ihr sein." munterte Tiffany sich selber auf und Berta fügte hinzu: "Mutter Natur hat ihn einst erschaffen und nun wieder zu sich in die Erde geholt. Er hat seine Spuren hier hinterlassen." Dabei sah sie Tiffany so an, als würde sie sagen wollen, dass Tiffany das war, was er auf der Welt hinterlassen hatte.
Für einen Moment herrschte Stille, bevor Berta aufstand. "Ich setze einen beruhigenden Tee auf." Kurz darauf standen zwei Teetassen auf dem Tisch. Tiffany hatte sich zurückgelehnt. "Der Mann vorhin... Er sah so... traurig aus." murmelte sie und dachte an Viktorius. Berta erinnerte sich an die Situation. "Das Dorf redet schon länger schlecht über ihn, besonders seit seine Mutter verstorben ist. Sie beschimpfen ihn und lästern über ihn. Von Eden ist sein Familienname, seiner Familie gehörte das größere Haus. Ich vermute, er lebt alleine dort, mehr kann ich dir aber nicht sagen. Ich werde keine falschen Aussagen über einen mir unbekannten Menschen machen." erzählte Berta und blickte in Tiffanys Richtung, die auf dem Tisch sah und genauestens zugehört hatte. Sein Erscheinungsbild ging ihr nicht aus dem Kopf. "Er wirkte, als würde es ihm nicht gut gehen. Warum hilft ihm denn keiner und warum reden sie nur schlecht über ihn?" fragte Tiffany sich mit hängendem Kopf und Berta versuchte ihr eine Antwort darauf zu geben.
"Es ist nicht das Problem der Menschen. Sie fühlen sich gut, wenn sie wissen, anderen geht es schlechter, als ihnen selbst und damit das so bleibt, um sich zu bestätigen, tun sie solch niederträchtigen Dinge, um die Person klein zuhalten. Warum schaust du nicht einmal nach ihm?" Sanft fragte Berta und Tiffany stockte. Irgendwie wurde sie nervös, aber gab Berta Recht. Es war ihr lieber, als nichts zu tun und sie wollte nicht so sein, wie die anderen Dorfbewohner, die nichts taten, als ihn zu erniedrigen.
Tiffany wachte am nächsten Tag früh auf. Berta war die Nacht über bei ihr geblieben, schlief aber noch. Im Bd kämmte Tiffany ihr feines Haar und nahm links, wie auch rechts je eine Strähne zur Hand, welche sie flechtete und am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammen band. Sie nahm sich ein schlichtes Kleid in rosefarben aus ihrem Schrank, welches Rüschen am Ausschnitt und den kurzen Ärmeln hatte.
14.4.742, mehr als eine Woche war es schon her, dass Tiffanys Vater tot ist und sie ihn leblos gefunden hatte. Als sie in den Spiegel blickte sah sie sein Gesicht in ihrem. Ihr wurde oft gesagt, dass sie ihrem Vater ähnelte. Ein Seufzen entfuhr ihr. "Tut mir leid, dass ich all deine Wünsche zu Lebtagen nicht erfüllen konnte, wie dir einen guten Mann an meiner Seite vorzustellen oder mit einer eigenen Familie glücklich zu werden."
Sie senkte den Blick und verließ das Bad. In der Küche stand immer noch das Geschirr von gestern. Sie gab sich einen ruck, es abzuwaschen, bevor es weitere Tage dort stehen blieb. Berta wachte gerade auf, als Tiffany fast fertig war. "Ich hätte dir dabei doch geholfen." murmelte sie noch verschlafen, aber Tiffany winkte dankbar ab und Berta begab sich in das Badezimmer. Derweil lief Tiffany durch das Haus und räumte Kleinigkeiten zur Seite. Ihr Blick fiel dabei auf eine Porträtzeichnung von ihrem Vater. Ein staatlicher, für die Zeit, großgewachsener Mann mit selbstbewussten Charakter. Daneben hing ein Porträt ihrer Mutter. Eine liebliche Frau mit langem Haar. Die Zeichnung in schwarz-weiß waren aus jüngeren Zeiten ihrer Eltern gewesen.
Berta kam aus dem Bad und brühte einen Tee auf. "Ich werde nach dem Frühstück wieder Heim laufen, zu meinem Mann und den Kindern. Sie wussten aber, dass ich hier bin. Eigentlich bin ich ja immer hier, wenn ich nicht daheim bin." schmunzelte Berta mit dem Tee in der Hand und Tiffany gab ihr lächelnd Recht.
"Oder im Wald, bei deiner Meditation." ergänzte Tiffany und Berta korrigierte: "Meiner Erdung mit Mutter Natur." Tiffany nahm sich auch einen Tee und beide Frauen tranken diesen in Ruhe aus. Kaum war Berta gegangen, vegetierte Tiffany vor sich hin und beobachtete ein wenig das Treiben im Dorf aus dem Fenster hinaus, bevor sie an diesem sonnigen Tag das Haus, in welchem sie mit ihrem Vater gewohnt hat. Während sie durch den Markt lief, kamen vereinzelt Dorfbewohner auf sie zu und sprachen ihr Beileid aus. "Ich kenne ihren Vater auch noch von früher, wir tranken mal ein Bier zusammen." "Mein Beileid." "Ich erinnere mich noch an seine Zeiten, als er im Dorf für Ordnung gesorgt hat." Sie bedankte sich beschämt bei jedem einzelnen, dabei wollte sie nur in Ruhe gelassen und nicht mit seinem Tod konfrontiert werden. Zudem hielten die Menschen sie von ihrem eigentlichen Ziel ab und als sie endlich alleine gelassen wurde, begab sie sich vom Marktplatz zum Haus von Viktorius.
Ihr war egal, ob sie jemand sehen würde und nervös klopfte sie mit dem Türklopfer an. Viktorius saß gerade in der Küche und aß ein Brot, als er das Klopfen vernahm und zusammenzuckte. Er fragte sich, wer das sein könnte, bekam er selten Besuch, nur der Zusteller klopfte gelegentlich. Es war ihm egal und er aß weiter, doch es klopfte erneut und lustlos stand Viktorius nun doch auf, um nachzusehen. Er öffnete die Tür langsam und Tiffany wollte schon wieder gehen, als sie das öffnende Schloss vernahm. Der Türspalt war schmal und mit der Hand umfasste Viktorius den Türrahmen. Für einen Augenblick musterten sich die Beiden nur. Tiffany musterte Viktorius Augenringe, die ungekämmten Haare, während er beobachtete, wie sie die Hände zusammen faltete. Augenkontakt hielt er keinen und was er sagen sollte wusste er ebenfalls nicht.
"D-darf ich bitte reinkommen?" fragte Tiffany und ergänzte entschuldigend: "Guten Morgen." Sie war nervös, während Viktorius sich nur umdrehte und die Tür offen ließ. "Ist mir egal." war seine einzige, monotone Antwort. Es interessierte ihn nicht, ob sie wieder ging oder hineintrat, sie ihn ausraubte. Am liebsten wäre es ihm, wenn sie ihn ermorden würde. Unsicher schloss Tiffany die Tür hinter sich. Zum ersten Mal sah sie das Haus und empfand es als zu groß für eine Person, aber sie war überrascht, wie gut es gepflegt war, im Gegensatz zu Viktorius selber, welcher mittlerweile wieder in der Küche saß und sein Brot verzerrte. Sie entschloss, sich zu ihm zu setzen. Es war still. Tiffany saß ihm mit gefalteten Händen gegenüber.
"Nimm was du brauchst." flüsterte Viktorius schulterzuckend und vermutete, dass sie Wasser wollte, doch dankend lehnte sie ab.
"I-ich wollte fragen, wie du heißt." sagte sie ruhig und das Interesse überraschte ihn. "Viktorius von Eden." war die eintönige Antwort, nach ihren Namen fragte er jedoch nicht. Eigentlich wusste er, wie man sich sozialisiert verhielt, aber er hatte weder Kraft noch Lust dazu, auf glückliche Miene zu machen, wie er es jahrelang getan hatte. Darum stellte sie sich selber vor.
"Ich heiße Tiffany Dronner."