Sonntag
Musuko klingelte bereits das dritte Mal am Haus seiner Mutter. Mikel stand neben ihm und hielt die Brötchentüte in der Hand, während Musuko den Schlüssel zum Haus seiner Mutter aus der Tasche hervorholte.
"Mutti wird doch nicht an einem Sonntagsbrunchtag draufgehen!" Er drehte das Türschloss auf.
"Gehen wir mal nicht von aus." murmelte Mikel. "Genau, aber wer soll dann die Brötchen, die für Mutti waren, essen?"
Währenddessen lagen Shadia und Tomas, nur von der Decke umhüllt, auf ihr Bett und das heller werdende Licht weckte Shadia langsam auf. Ihr Blick, der langsam klarer wurde, fiel auf den Wecker, welcher 9:07 anzeigte. Sie schreckte auf.
"Verflixt! Ich habe vergessen den Wecker zu stellen!" Ihr Ausruf riss Toms aus den Schlaf. "Was?" nuschelte er verschlafen. "Mein Sohn kommt heute zum frühstücken vorbei beziehungsweise sollte schon da sein!" Sie schlüpfte in Unterhose und Unterhemd. Dabei vernahm sie bereits die Treppe und kurz darauf Musuko, der laut an der Tür klopfte.
"Mutti? Lebst du noch?" Shadia rollte mit den Augen.
"Typisch." dachte sie und zog sich in der Eile eine graue Stoffhose an.
"Nein, Musuko! Du redest mit einem Geist!" Enthuastisch öffnete Musuko die Tür.
"Cool! Kann ich jetzt auch die Dinge, die du ka-" Seine Stimme brach ab, als er Tomas in Shadias Bett erblickte. Peinlich berührt stand Shadia vor ihm und Musuko knallte die Tür wieder zu.
"Sorry! Wir gehen den Tisch decken!" rief er und spurtete die Treppe zu Mikel hinunter.
"Herrenbesuch." wisperte Musuko nur.
"Oh."
Fünf Minuten später standen Shadia und Tomas im Wohnzimmer vor dem gedeckten Tisch. "Guten Morgen." gähnte Tomas und sah zu dem Ehepaar, welches bereits am Tisch saß. Shadia umklammerte ihr rechtes Handgelenk.
"Sorry, dass ich das jetzt verpennt habe." Musuko stand auf und lief zu seiner Mom rüber.
"Wollen wir kurz in die Küche gehen?" bot er an und beide liefen in die Küche, während Tomas mit Mikel still schweigend im Wohnzimmer blieb.
Musuko und Shadia standen in der Küche. Kaum war sich Musuko sicher, dass keiner zuhörte, drückte er seine Mom an sich.
"Freut mich, dass ihr zwei endlich zueinander gefunden habt." Shadias Augen funkelten. "Danke dir." wisperte sie und erwiderte die Umarmung.
"Wie lange seit ihr schon glücklich miteinander?" hakte Musuko nach und blickte seine Mutter an. "Gestern." gab sie beschämt zu und Musuko zuckte nur mit den Schultern.
"Besser spät als nie!" Er legte den Arm um seine Mutter und zusammen liefen sie zurück zum Wohnzimmer. Dort schwiegen sich Mikel und Tomas immer noch an.
"Du darfst gerne mit frühstücken. Ich habe extra einen Teller mehr aufgedeckt." erwähnte Musuko und setzte sich neben Mikel. "Danke Musuko."
"Es heißt Musu-" Er stockte und starrte zu seiner Mutter rüber, die sich ans Tischende gesetzt hatte.
"Er hat mich nicht mehr Marvin genannt! Mutter, behalte ihn!" Shadia lachte laut auf.
"Mit Vergnügen." Sie sah zum stolz blickenden Tomas, der rechts von ihr saß. "Aber ich muss ihn nicht Stiefvater nennen, oder? Und Timothy ist jetzt auch nicht mein Stiefbruder." Abwinkend hob Tomas eine Hand. "Nein, muss du nicht." Erleichtert atmete Musuko aus und schnitt sich ein Roggenbrötchen auf.
Tomas und Shadia genossen ihr gemeinsames Glück zu zweit. Musuko freute sich für seine Mutter, dass sie doch noch mit ihrer Jugendliebe zusammen gekommen war und Glück in der Liebe erfuhr.
Ein paar Monate zogen ins Land und Tomas stand im Badezimmer seines Hauses. Er kämmte das wenige Haar zurecht und trug ein Parfüm auf. Lächelnd sah er in den Spiegel, bis das Haustelefon ihn aus den Gedanken riss. Er spurtete zum Flur und hob ab.
"Hallo Clara! Schön, dass du dich meldest!"
"Alles Gute zum Geburtstag. Ich habe eben auf die Uhr gesehen und mir gedacht, dass du sicher schon Feierabend hast." Ein leichtes Schmunzeln war zu hören. "Ja, hab ich. Sag mal, was gibt es neues bei dir? Du meldest dich so selten." Ein bisschen Traurigkeit lag in seiner Stimme. Clara versuchte sich rauszureden.
"Ach ja, die Arbeit und Haushalt, Freundschaften pflegen. Ich habe seit kurzem übrigens einen Freund. Wir überlegen zusammen zu ziehen."
"Oh das freut mich. Du kannst ihn mir gerne einmal vorstellen. Wo wir bei diesem Thema sind. Ich bin seit ein paar Monaten mit Shadia zusammen. Sie kennst du noch, oder? Vom Fukkatsu Be-"
"Das ist nicht dein Ernst?" unterbrach ihre Stimme seinen Satz.
"Hat Mama dir nichts bedeutet? Sie würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, dass du deine Jugendliebe liebkost!" Tomas Sprachlosigkeit über die Worte seiner Tochter ließen ihn den Hörer leicht sinken lassen.
"Sie ist doch weiterhin deine Frau! Du hast immer zu mir gesagt, Liebe überdauert den Tod! Sorry, aber für mich ist das, als würdest du Mutter fremdgehen." Ihre Worte gingen nicht sprachlos an ihm vorbei. "Außerdem ist man in deinem Alter langsam zu alt für neue Liebschaften?" Bei ihrer letzten Aussage nahm Tomas ihr den Wind aus den Segeln.
"Würdest du nicht im Alter Liebe, Glück und Aufmerksamkeit haben wollen? Egal ob jung oder alt, ich darf genauso eine neue Liebschaft führen wie du jetzt und es ist auch kein fremdgehen. Wenn es Claudia missfällt soll sie mich heimsuchen!" Seine Stimme wurde lauter und Clara erhob ebenfalls die ihre.
"Hoffentlich tut sie das auch demnächst! Wehe du planst noch sie zu heiraten!" drohte Clara und Tomas ließ ihre Worte nicht an sich heran.
"Wenn wäre das immer noch meine Sache!"
"Mich brauchst du dann aber nicht einladen!" Ihre Aussage verletzte Tomas. Er hielt einen Moment inne, bevor er weitersprach. Er klang traurig.
"Möchtest du überhaupt noch Kontakt haben? Ich habe das Gefühl, du meldest dich bewusst so wenig. Hab ich dir unbewusst Unrecht zugefügt, dass du mich nicht magst?" In Tomas nährte sich die Hoffnung, mit Clara ein klärendes Gespräch zu führen und sich wieder zu versöhnen. Diese Hoffnung wurde durch einen Satz zerbrochen.
"Melde dich nie wieder bei mir!" Mit diesen scharfkantigen Worten legte Clara auf und ließ Tomas am anderen Ende des Hörers mit gebrochenen Herzen stehen. Er steckte das Telefon zurück in die Ladestation. Er musste erst realisieren, was eben geschehen ist, bevor er es aussprechen konnte. "Meine Tochter hat den Kontakt zu mir abgebrochen." Die Erkenntnis setzte ein und er konnte an seinem Geburtstag, selbst bei Shadia, nur an Claras letzte Worte denken. Immer wieder stellte er sich die Frage, wie es zu diesem Familienverhältnis kommen konnte.
Mitgenommen lag er auf Shadias Sofa und sprach sein Leid aus. "Sie war schon immer auf ihre Mama fixiert, aber dass sie jetzt sogar den Kontakt abbricht, hat mich getroffen. Zu ihren Brüdern hat sie auch kein Kontakt mehr." Er lag auf der länglichen Seite des Sofas und hatte die Hände vor die Brust gefaltet.
"Ich würde gerne zu ihr fahren und das klären, aber ich weiß, sie würde mir kein Gehör schenken. Ich hoffe, dass mir noch meine Söhne bleiben. Was meinst du wie froh ich bin, dass Timothy sich langsam wieder gefangen hat? Damals dachte ich, er entgleitet mir auch noch." Er grub sich weiter in das Sofa ein und blieb dort liegen. Vegetierend sah er zur Decke hoch.
"Hättest du gedacht, dass eine falsche Entscheidung solche Auswirkungen haben kann?"
Shadia saß neben ihm und strich über seine Hand.
"Vielleicht mag sie falsch erscheinen, aber war sie nicht lehrreich? Sie war gewiss nicht richtig, aber genauso wenig vergeudet. Und am Ende des Tages hast du trotzdem bekommen, wonach dein Herz sich gesehnt hat." Tomas neigte den Kopf zu Shadia, die ihn lächelnd ansah.
"Du findest immer aufmunternde Worte parat. Trotzdem fühlt es sich ein wenig an, als hätte ich Clara verloren, für immer. Ich will nicht sterben und im Streit mit ihr von dieser Welt gehen. Sie ist und wird immer meine Tochter bleiben und ich würde alles für sie tun, wenn es sein muss." Aus ihn sprachen reine Vatergefühle und Shadia strich über seine Hand.
"Ich mag mir nicht vorstellen, was du durchmachst. Ich würde genauso zerbrechen, wenn Musuko den Kontakt zu mir kapern würde. Natürlich hoffe ich, dass ihr euch wieder vertragt, egal wie. Lass dem ein wenig Zeit."
Egal wie viel Zeit verging, der Kontakt zwischen Tomas und seiner Tochter war gebrochen. Sie antwortete ihn nirgends, egal wie er sie kontaktierte. Selbst ihre kleinen Brüder kamen nicht an sie heran. Der letzte der Kontakt zu ihr hatte war Timothy, allerdings brachte das kurze Gespräch nichts zwischen den Geschwistern. Timothys Lehre war mittlerweile abgeschlossen. Tomas wollte ihn aber noch nicht zum neuen Chef des Instituts nennen. Er zeigte und erklärte Timothy die Formalitäten, aber er empfand ihn noch nicht als bereit dazu, die Chefposition inne zu haben. Im Gegensatz zu ihm, ernannte Shadia ab ihren 66zigsten Lebensjahr eine neue Führung. Dafür plante sie ein kleines Betriebsfest.
Heather saß in ihrem Büro und unterhielt sich mit Sarah. "Jetzt bin ich schon über 40, furchtbar." Sarah lehnte sich an die Kommode, auf der die Kaffeemaschine stand. "Mental bist du 25." ergänzte Heather. "Das kommt auch noch dazu! Ich gehöre schon zu den alten Leuten im Club!" Laut seufzte sie. "Mit 25 dachte ich, dass ich in deinem Alter zwei Teenies haben werde. Ich wollte immer Kinder haben, aber es hat nicht mal in der Liebe funktioniert. Mehr wie Dates ist es nie geworden. Naja, wo ich mir die Welt so ansehe, bin ich doch froh drum. Ich hoffe ich muss nie miterleben, wenn die Welt untergeht." Gedankenverloren starrte Heather die geöffnete E-Mail. "Tut sie das nicht schon?" Ein Anruf durchbrach die Stille und Heather hob das Telefon ab.
"Grünlandbäckerei Willers. Guten Tag!" Am anderen Ende meldete sich Shadia.
"Heather! Wie schön, wie geht's?" Sie führten einen kurzen Smalltalk, bevor Shadia ihr Anliegen kundtat.
"Ich brauche Kuchen, für mein Betriebsfest."
Am Tag des Betriebsfest fanden sich alle Mitarbeiter des Fukkatsu Bestattungsinstitut ein. Ebenfalls geladen waren Tomas, Musuko und Mikel, die der Veranstaltung beiwohnten. Die Festlichkeiten fanden in einem kleinen gemieteten Festsaal statt. Zu Anfang verkündete Shadia die neue Führung. Es war eine ihrer langjährigen Mitarbeiterinnen Mitte 40, die gewissenhaft und ruhig arbeitete, dass man sie kaum bemerkte. Bei der Rede flossen sowohl bei Shadia und der neuen Führung Tränen. Tomas kam auf sie zu, gefolgt von Musuko und Mikel. Zuerst nahm sie Musuko unter Tränen in den Arm.
"Es fühlt sich an wie ein Stück Familiengeschichte, das endet. Zum ersten Mal seit vier Generationen geht das Erbe nicht in der Familie weiter." Sie holte ein Taschentuch hervor und Tomas legte den Arm um sie.
"Du wirst aber trotzdem noch da sein, oder?" fragte er und Shadia nickte. "Klar. Ich bin da für Fragen, erledige noch ein paar Sachen im Background, aber für den Rest werde ich leider doch zu alt. Ich merke das schon im Rücken. Tja, Särge aus dem dritten Stock tragen war mal." Sie kicherte leise und strich ihr ergrautes Haar aus dem Gesicht.
"Aber das Schöne ist, dass ich, selbst wenn ich sterbe, am nächsten Tag wieder im Institut sein werde." Bei dieser Aussage lächelte sie. "Hoffen wir aber, dass das noch Jahre Zeit hat." entgegnete Tomas, während Musuko fragte: "Besuchst du mich dann als Geist oder Sensenmann?" Mutter und Sohn lachten herzlichst und Tomas erkannte, dass beide eine außergewöhnliche Bindung hatten.