Inmitten eines länglichen, von düsterem Licht erfüllten Saals schritt eine blonde Frau auf und ab. Das einzige Geräusch, das die Stille durchschnitt, war das schleifende Rascheln ihres Kleidersaums, der hin und wieder die Steinfliesen streifte.
Sie wanderte mit bedächtigen Schritten durch die Schatten, die Fingerspitzen aneinandergelegt und in Gedanken versunken. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, doch die Silhouette ihres Körpers wurde von den feurigen Bodenluken erhellt, die sich alle paar Meter entlang der Saalwände auf dem Boden auftaten. Es waren Fenster zu den Höllenkreisen, in denen die Sünder aller Dimensionen für den Rest ihres unsterblichen Nachlebens verrotten sollten.
Wann immer die Frau eine dieser Luken passierte, streckten sich ihr schwärzlich verkohlte Arme entgegen und Augen aus von Leid gezeichneten Gesichtern schauten flehend zu ihr empor. Die Bewegungen der Sünder waren langsam und wirkten seltsam aufeinander abgestimmt. Manchmal erinnerten sie die Frau an ein wogendes Grasmeer, das sich ganz dem Willen des Windes beugt.
Für gewöhnlich empfand die blonde Frau die Dekoration ihres Thronsaals, die auf den Einen oder Anderen durchaus makaber wirken könnte, als unterhaltsam. Doch an diesem Tag interessierte sie sich nicht für all das süße Leid. Heute musste sie die Feuer in den Herzen ihrer ranghöchsten Generäle schüren, damit sie bereit wären, wenn der große Moment Einzug halten würde.
Um einen steinernen Tisch verteilt, der nur unweit des unheiligen Thrones errichtet worden war, saßen jene Generäle, die die höllische Armee Unterstadts befehligten. Sie bekamen sich untereinander selten zu Gesicht, ja, man konnte beinahe sagen, eher so gut wie nie. Voneinander gehört hatten sie zwar, doch dass sie sich alle versammelt unter einem Dach aufgehalten hatten, war mehrere Jahrhunderte her. Eigentlich waren sie zu siebt, doch heute fehlten drei von ihnen.
Keiner der Generäle glich äußerlich den anderen, doch sie alle teilten etwas ganz Bestimmtes: Angst. Es konnte einfach nichts Gutes bedeuten, wenn man persönlich zur Herrin aller Dämonen zitiert wurde.
Ihre Blicke folgten der Frau. Jeder von ihnen schien darauf zu warten, dass ihre Herrin den Grund für die dringende Einladung offenbaren würde. Die stellte sich in diesem Moment an das Tischende, das zu ihrem Thron zeigte. Doch selbst an ihrer neuen Position herrschte Dunkelheit, sodass man lediglich die Hände der Frau sehen konnte, mit denen sie sich nun auf der Steinplatte abstützte. Vor ihr stand eine leere Tonschale, deren Zweck man nur erraten konnte. Doch was es damit auf sich hatte, sollten ihre Gäste bald erfahren.
»Nun-«, begann sie, »- da es wohl keine Nachzügler geben wird, scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen, das Treffen für eröffnet zu erklären. Es überrascht mich, zu sehen, dass nur vier meinem Aufruf gefolgt sind. Wo sind Lord Dash'ezred, Lord Ko-Negrath und Fürstin Kadhmarel?«
Ein dürres, grauhäutiges Wesen in einer Kutte erhob sich. Auf eine trügerische Art wirkte es gebrechlich, beinahe wie ein alter Mann. Es hatte einen breiten Kiefer, Ohren, die mit dem Schädel verwachsen waren und anstelle einer Nase zwei Löcher, die Nüstern ähnelten. Doch das Bizarrste war seine Augenpartie: Dort, wo Augen hätten sein sollen, endete der Schädelknochen des Dämons und ging in eine Art formlosen, dunklen Rauch über, durch den man das Innere seines Kopfes betrachten konnte.
»Meine Herrin, Lord Dash'ezred wurde vor drei Tagen während Eures Angriffs auf das Reich der Engel getötet«, erklärte er mit heiserer Stimme, ohne den Blick von der Tischplatte zu nehmen. Kurz herrschte Schweigen, dann gab die Frau einen enttäuschten Laut von sich.
»Bedauerlich. Und was wisst Ihr über den Verbleib Kadhmarels, Lord Yesh'eluc?«
Der Dämon straffte die Schultern. Das Folgende zu sagen, schien ihm schwerzufallen.
»Sie verweigert sich Euren Diensten, nachdem - nachdem wir uns aus Oberstadt zurückziehen mussten.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Die Stille, die diesmal eintrat, war deutlich bedrohlicher. Erst nach einigen Augenblicken, in denen jeder der Anwesenden bemüht darum war, nicht durch eine ungewollte Bewegung aufzufallen, regte sich die Frau am Tischende.
Sie stieß hervor: »Ist das so? Ein mutiger Schritt, das muss ich ihr lassen. Dann werde ich ihr wohl in nächster Zeit einen Besuch abstatten, um zu schauen, wie ihr das Verrätertum bekommt.«
Niemand wagte es, etwas zu sagen. Der fahle Dämon nahm wieder auf seinem Stuhl Platz, worüber er froh zu sein schien. Doch seine Herrin war noch nicht fertig und sprach das Wesen an, das neben ihm saß.
»Abgesandte Lilith! Ich weiß um Eure Beziehungen zur Loge. Wo verweilt Lord Ko-Negrath?«
Die Angesprochene, eine hochgewachsene, menschenähnliche Frau, erhob sich. Sie war von den Schultern ab bis zu den Füßen in einen schwarzen Reiseumhang gehüllt, der keinerlei fremde Blicke zuließ. Ihr Antlitz jedoch imponierte durch ein spitzes Kinn, Ohren, die wie Speerspitzen durch ihre farblosen, hüftlangen Haare stachen, flammenfarbene Augen und unnatürlich blutleere Haut. Schwarze Linien, die ein Narbengeflecht auf ihren Wangen verdeckten, zogen sich von ihren Mundwinkeln über ihre Wangenknochen bis hoch zu ihren Augenwinkeln, von wo aus sie nach oben zu zwei gebogenen, pechschwarzen Hörnern wanderten.
Die anderen Generäle musterten sie. Keiner von ihnen kannte Lilith persönlich. Der Sukkubus war erst vor sieben Jahrhunderten in das Gefolge ihrer Herrin eingetreten. Dennoch verursachte die Tatsache, eine derart bekannte Dämonin wie Lilith unter ihnen zu wissen, in allen ein seltsames Gefühl. Vielleicht war es aber auch die Fähigkeit Liliths, Gefühle zu manipulieren. Aber wer wusste das schon?
Auch sie hielt den Blick auf den Tisch gerichtet, während sie sprach.
»Er starb durch das Schwert des Anführers der Erzengel. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, antwortete sie mit überraschend samtiger Stimme.
Aus den Schatten heraus sah man eine unwirsche Handbewegung.
»Wenn er gegen den überschätzten und in die Jahre gekommenen Michael nicht besteht, dann hat er es auch nicht verdient, unter uns zu wandeln.« Damit wandte sie sich ihrem dritten General zu. Als seine Herrin das Wort an ihn richtete, lächelte der Angesprochene.
»Neelkazoth der Ungewollte!«
Ein riesiger Dämon stand bei der Nennung seines Namens so umständlich auf, dass sein Stuhl umfiel. Bei seiner Statue und Größe wirkte das Möbelstück beinahe wie ein Kinderstuhl. Muskelpakete bedeckten jeden Zentimeter seines grotesken Körpers. Sein Unterkörper war menschlich, doch ab dem Beckenkamm wurde sein Körperbau zu dem eines Wolfs. Fell hatte er nicht, dafür durchzog ein dichtes, rotes Adernetz seine schwärzliche Haut. Am eindrücklichsten jedoch war der Kopf des Dämons. Tiefe Narben verunstalteten seine Wolfsschnauze, ein Auge war nahezu zweigeteilt und daher völlig erblindet. Lefzen umspannten ein Maul voller schiefstehender, ellenlanger Reißzähne, die im Laufe der Jahre schon vielen Engeln das Gesicht zerfleischt hatten.
»Meine Herrin?« Seine Stimme war von einem dunklen Donnergrollen hinterlegt.
»Habt Ihr Eure Armee ausgeweitet, so wie ich es Euch vor achtzehn Wintern befohlen hatte?«, wollte die Frau am anderen Tischende von ihm wissen. Der Dämon nickte und erklärte voller Ehrerbietung: »Natürlich, meine Herrin. Wir zählen stolze Zweitausend. Die Ungeborenen nicht mitgerechnet.«
»Zweitausend Volkodlak? Nicht schlecht.« Die Frau nickte ihrem Gefolgsmann zu und holte im Anschluss tief Luft, um nun endlich den Grund zu offenbaren, weswegen sie ihre Untergebenen hier versammelt hatte.
»Meine treuen Diener. Ihr alle wisst, dass meine Pläne in Oberstadt nicht so aufgegangen sind, wie ich es mir gewünscht hätte. Dazu beigetragen haben unter anderem meine Schergen, von denen mich einer mehr enttäuscht hat als der andere.« Ihre Stimme nahm einen gefährlich ruhigen Unterton an. Im Dunkel konnte man erkennen, wie sie den Kopf wandte und hinter sich sah. Ein Ring aus Feuer, der beim Verklingen ihrer Worte um den hinter ihr liegenden Thron herum entstanden war, erhellte zwei Gestalten, die geknebelt und obendrein mit silbernen Ketten gefesselt waren. Beide saßen dem Herrscherstuhl zu Füßen und blinzelten in den Feuerschein, der ihre stumme Pein soeben enthüllt hatte.
Die blonde Frau wandte sich um und ging mit bedächtigen Schritten auf ihre beiden Schergen zu, denen mit einem Mal die Angst in die Gesichter geschrieben stand. Als ihre Herrin den Kreis aus Feuer betrat und sich zu ihren Generälen umwandte, konnte man zum allerersten Mal ihr Gesicht erkennen.
Selene lächelte.
»Heute will ich einen Blutpakt mit euch allen schließen. Er verpflichtet euch dazu, mir in der Stunde der Vollstreckung beizustehen.«
Die Dämonenherrscherin beugte sich zu dem Mann hinab, der zu ihr aufschaute. In seinem Blick stand die pure Angst.
Ohne Vorwarnung drückte sie ihm den Finger seitlich ins Auge, sodass der Augapfel heraussprang und nur noch an einem dünnen Faden hing. Der Mann bäumte sich in seinen Fesseln auf, aber der Knebel reduzierte seinen Schmerzensschrei auf ein dumpfes Wimmern.
Mit einem Ruck riss Selene das Auge ab und ließ es in ihrer Handfläche kreisen. Dasselbe tat sie mit der Frau, die dabei noch schrillere Laute ausstieß als der Mann.
Als es getan war, schloss sie die Hand um ihre Trophäen und kehrte zum Tisch zurück, wo sie sie in die Tonschüssel fallen ließ. Sobald die Augäpfel in der Schale zum Stillstand gekommen waren, begann diese sich wie von selbst in Sekundenschnelle mit Blut zu füllen.
Zufrieden nickte Selene, ehe sie einen letzten, verachtenden Blick über die Schulter warf.
»Das geschieht, wenn man mich enttäuscht!«, zischte sie. Daraufhin erlosch der Feuerring um ihren Thron und ihre beiden Schergen wurden wieder in Dunkelheit gehüllt. Das Einzige, was nun noch von ihrer Anwesenheit zeugte, waren Schmerzenslaute. Doch das war nichts, woran sich irgendwer hier stören würde.
Selene wollte fortfahren, wurde aber von ihrem vierten und letzten General unterbrochen. Es war ein von Kopf bis Fuß verhülltes Wesen, über dessen Körper an der ein oder anderen Stelle immer wieder Ungeziefer huschte, die in seinem Fleisch zu hausen schienen. Mal waren es Moskitos, dann Fliegen und im nächsten Moment eine Horde langbeiniger Spinnentierchen. Seine genaue Gestalt war nur zu erahnen.
»Was ist das für ein Pakt? Was plant Ihr?«, fragte er argwöhnisch. Selene hob eine Augenbraue an. Sie war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, also ließ sie sich Zeit mit ihrer Antwort. Normalerweise hätte sie solch eine Frechheit nicht geduldet, aber sie sah ein, dass es kaum zielführend wäre, ihre Heerführer zu vernichten.
»Mein Plan beinhaltet viele kleine Schritte, die schlussendlich zum Ziel führen werden. Das erste große Ziel wird sein, einem bestimmten Gefallenen seinen Körper zurückzugeben. Der letzte Versuch vor einigen Monaten mag gescheitert sein, aber inzwischen weiß ich, was zu tun ist«, erklärte sie, während sich ein dunkles Glitzern in ihren Augen einnistete.
Aufgeregtes Flüstern brach unter den Anwesenden aus, das von Selene unterbrochen wurde. Auf- und abschreitend betonte sie: »Ich gebe zu, dass es kein leichtes Unterfangen wird, denn ich brauche das menschliche Blut des gefallenen Yindarin. Und ihr alle wisst, was das bedeutet.«
Blicke wurden gewechselt. Lilith war die Erste, die sich regte. Sie zog abschätzig einen Mundwinkel hinab und schnaubte: »Das Kind hatte so viel Potenzial und verschenkt es einfach an Euren Schergen. Apropos. Wo ist er? Warum steht er nicht unterstützend an Eurer Seite?«
Alle schauten auf die Dämonengöttin, die nicht besonders begeistert über den Themawechsel wirkte.
Eine merkwürdige Stille trat ein, in der Lilith den Kiefer anspannte, als hätte sie die Vermutung, etwas Falsches von sich gegeben zu haben.
Selene beendete die Ruhe, indem sie das Kinn anhob und mit emotionsloser Stimme antwortete: »Seit den Geschehnissen war es mir nicht möglich, zu ihm durchzudringen. Er verweilt noch in Oberstadt und hilft dem Feind. Es bedarf einiger ... Anpassungen, um ihn zurück auf unsere Seite zu bewegen. Aber das ist kein Ding der Unmöglichkeit. Wichtig ist vor allem vorerst, an das Mädchen heranzukommen. Für die Großen Fünf. Sie werden mir helfen, Oberstadt in die Knie zu zwingen, damit ich an das Zentrum gelangen kann.«
Lord Yesh'eluc legte den Kopf schief und erkundigte sich ernst, während er mit seinen spitzen Nägeln auf dem Tisch trommelte: »Und wie gedenkt Ihr das umzusetzen, Herrin? Nun, wo Euer Scherge in Oberstadt weilt und sich nicht in greifbarer Nähe aufhält, um Eure Befehle durchzusetzen? Was, wenn er weiterhin als Yindarin seine schützende Hand über das Mädchen hält, und zwar aus eigenem Interesse? Nach alldem, was wir über deren Beziehung wissen, die eine unerwartet abartige Richtung eingenommen hat, wäre das doch nicht allzu abwegig, oder?«
Selene schnaufte hochmütig und ließ den Blick in die Ferne schweifen.
»Ja, es wird sicher nicht einfach, an sie heranzukommen. Aber ich habe Mittel und Wege. Und der Yindarin wird auch kein großes Hindernis werden. Ich sage euch: Ehe ein halbes Jahr vergangen ist, werde ich ein Yindarin sein und alle Dimensionen mit Schrecken übersäen.«
Wieder herrschte Stille, diesmal jedoch war sie von Erstaunen und dem Keim der Aufregung erfüllt. Voller Tatendrang knurrte der Volkodlak: »Wen wollt Ihr mit ihrem Blut erwecken, meine Herrin?«
Ein eisblaues Funkeln glomm in Selenes Augen auf. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie öffnete den Mund.
»Jenen, den die verschiedene Kriegsherrin vor nicht allzu langer Zeit in die Hölle verbannte.«