Sobald das Rotieren stoppte, wurde mir, Klassiker, entsetzlich übel. Würgend beugte ich mich vornüber. Dieses gottverdammte Teleportieren. Nighton verstaute seinen Teleporter und betrachtete mich, resigniert den Kopf schüttelnd.
»Dass dir aber auch jedes Mal schlecht wird. Ich kann das nicht verstehen. Ist es wirklich so schlimm für dich?«
Unter einer weiteren Würgattacke zeigte ich ihm als Antwort einen Mittelfinger.
»He«, machte Nighton gespielt streng und drückte meine Hand runter. »Nicht hier in Oberstadt, sonst wirst du noch gekreuzigt.«
Erschrocken sah ich auf zu ihm, aber in seinen Augen stand bereits ein Funkeln, das mir sagte, dass das nur ein Scherz gewesen war. Also grummelte ich, drückte eine Hand auf meinen Oberbauch und richtete mich auf. Erst dann ließ ich den Blick durch den leeren Himmelsturm schweifen. Ein unangenehm vertrautes Gefühl überfiel mich bei der bekannten Umgebung. Wie seltsam, wieder hier zu sein.
Ehrlich gesagt hatte ich nicht nochmal damit gerechnet, je nach Oberstadt zurückzukehren. Plötzlich bereitete mir der Gedanke, den Turm zu verlassen, Sorgen. Das schien Nighton zu spüren, der zwar schon einige Schritte in Richtung des Portals vorgelaufen war, aber noch einmal stehenblieb, mir einen fragenden Blick zuwerfend.
Zögernd verschränkte ich die Arme und versuchte zu erklären: »Was, wenn mich die Engel nicht hierhaben wollen? Was, wenn sie genauso reagieren wie die Dämonen gestern?« Nighton holte tief Luft, ehe er die Hände in die Hosentaschen schob und auf mich zukam.
»Werden sie nicht. Die unbeseelten Dämonen wurden aufgestachelt, ich weiß nicht, von was, aber für gewöhnlich begegnen sie keinem Menschen mit solchem Hass. Mach dir keine Sorgen. Außerdem bin ich dabei, und nur die wenigsten wissen, dass ich nicht gerade auf dem Zenit meiner Macht bin. Sie werden es nicht wagen, dir blöd zu kommen. Und, nicht zu vergessen, du hast einen guten Ruf hier bei den meisten. Nun komm.« Er schickte mir ein beruhigendes Lächeln. Kurz haderte ich noch mit mir, aber ich war einfach viel zu neugierig auf das, was der Seher mir sagen wollte. Also riss ich mich zusammen, erwiderte mit etwas Mühe sein Lächeln und setzte mich in Bewegung.
Ich folgte Nighton zum Portal, das sich wie von Geisterhand öffnete. Er ließ mir den Vortritt. Warum, das sollte ich direkt erfahren dürfen.
Tja. Leute, ich sage euch, als ich nichts Böses ahnend aus dem Turm hinaus ins Freie trat, hätte ich am liebsten wie ein Gnu auf der Flucht vor Löwen den Rückzug angetreten. Leider befand sich Nighton hinter mir, der das zu verhindern wusste. Er stellte sich mir einfach wie ein Poller in den Weg und schüttelte mit vielsagender Miene den Kopf. Ich schaute wild den Kopf schüttelnd zu ihm auf, doch er ergriff mich nur unbarmherzig an den Schultern und drehte mich zu dem um, was mich die Flucht hatte ergreifen lassen.
Eine unzählbare Schar aus Engeln stand im Halbkreis auf dem Vorplatz des Himmelsturms. Ihre innere Linie wurde von der Himmelswache gehalten, die in ihren blau-silbernen Rüstungen mit den goldenen Ornamenten dastand wie Statuen. Etwa zehn Meter von mir entfernt wartete Greah, der blonde Engel, der die Wache anführte. Sie warf sich stolz in die Brust, als mein Blick sie streifte. Neben ihr ragte Michael in seiner absolut Michael-typischen Plattenrüstung auf. Er stützte sich auf sein Zweihänderschwert und schaute mir mit mindestens genauso viel Ehrerbietung entgegen.
Auf dem ganzen Platz war es totenstill, lediglich eine sachte Brise rauschte über uns hinweg. Rechts über dem fernen Meer ging gerade eine von Oberstadts Zwillingssonnen unter und tauchte dabei alles in tiefgoldenes Licht, was dem Ganzen eine feierliche Atmosphäre verlieh. Über den Dächern der Häuser tanzten bereits die Glühwürmchen auf und ab und irgendwo außerhalb waren die heulenden Laute eines Spektralwolfs zu hören. Hoch am Himmel zog noch etwas meine Aufmerksamkeit auf sich. Mehrere geflügelte Schemen waren aufgetaucht, die Kreise ziehend über uns dahinschossen. Das schienen die berüchtigten Seraphim zu sein, an die konnte ich mich noch erinnern. Jene Elite-Engel, denen Penny beizutreten versuchte.
Für einige quälende Momente stand ich also vor dem Portal des Himmelsturms und wurde aus hunderten Augen angestarrt. Diese Art der Aufmerksamkeit hatte ich ja schon immer gut leiden können. Nicht.
Erneut schaute ich hilfesuchend zu Nighton hoch, der nur á la da-muss-du-jetzt-durch-Manier die Schultern anhob und mit dem Kopf in Richtung der Engel ruckte. Hatte er etwa davon gewusst? War die Einladung des Sehers nur ein Vorwand gewesen, um mich herbringen zu können? Wenn ja, dann fand ich das ziemlich frech!
»Angaelis var rys ryead Andyrginsadh! Hereth aen yindarinsin nir eren ether esaeth!«, rief Michael mit donnernder Stimme. Nicht eine Sekunde später schmetterte die Himmelswache ihre Schilde mit deren Unterkanten auf den Boden. Daraufhin sanken alle Anwesenden auf die Knie.
AUF IHRE VERDAMMTEN KNIE.
Vor mir!
Leise wimmernd fuhr ich zum dritten Mal herum und wollte türmen, und zum dritten Mal hielt Nighton mich davon ab. Diesmal schob er mich dabei auch noch ein Stück nach vorne, sodass ich nun mutterseelenallein und völlig überfordert inmitten all der Engel stand, die vor mir, einem Menschen, knieten. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie unangenehm mir das war.
Nervös schaute ich umher. Musste ich jetzt auch noch etwas sagen? Es schien so. Na, dann...
Ich öffnete den Mund. Es gab so viel, was ich hätte von mir geben können, so viel Herorisches, Episches, Anstachelndes. Und was verließ meinen Mund?
»H-Hi...«, piepste ich mit der Überzeugungskraft eines verschüchterten, kleinen Mädchens. Kaum, dass dieses Gestammel meinen Mund verlassen hatte, wünschte ich, ich hätte einfach die Schnauze gehalten. Wie peinlich!
Sekundenlang geschah nichts. Als dann auch noch Michael und Greah es den anderen gleichtaten, war es komplett aus bei mir. Das war mir zu viel, und zwar entschieden.
Nope-di-nope, ich würde mir das nicht länger anschauen. Ohne mich!
Steif drehte ich mich zu Nighton um, der sich die Knöchel seiner Hand an den Mund presste. Offensichtlich versuchte er, nicht zu lachen. Das machte mich wütend. Was gab es denn da zu lachen?! Wieso machte er sich über meine Situation lustig, dazu hatte er kein Recht!
Mein Ärger über seine Reaktion stieg, bis er meine Scham erreichte und sie überlagerte. Dem würde ich zeigen, über wen er hier lachte! Ich war zwar ein Mensch, aber nicht auf den Mund gefallen. Daran hatte ich mich nur erinnern müssen, was mir dank Nightons Belustigung schneller geglückt war als gedacht.
Also schickte ich Nighton einen tödlichen Blick und drehte mich wieder zu den Engeln um, die immer noch vor mir knieten. Mit erstaunlich fester Stimme sagte ich, dabei umhersehend: »Ist schon gut, steht auf. Es gibt keinen Grund, vor einer wie mir im Staub zu knien. Ich bin nur ein Mensch. Ich bin einfach nur Jennifer.«
Michael erhob sich als Erster, mir verschmitzt entgegenlächelnd.
»Nun, nur-Jennifer. Dir gebührt Ehre. Du hast die dunkle Herrin vertrieben, dich uns Engeln versprochen und zugleich Oberstadt befreit. Und du lebst immer noch. Das verlangt Respekt«, widersprach er, ehe er mit einer ausholenden Geste die anderen Engel zum Aufstehen aufforderte.
Greah nickte Michael zu, ehe sie den Kopf vor mir senkte und ernst verkündete: »Willkommen zurück im Reich der Engel, firael yindarinsin. Die Himmelswache steht weiterhin geballt hinter dir. Genau wie die Seraphim, für die ich heute spreche-«, sie wies an den Himmel, wo die geflügelten Schemen nach wie vor kreisten, »-die Paladine, die Lichtritter, die Celestara, die Luminalis, die Valkyra, die Elvandar und die Astralis. Ganz gleich ob Mensch oder Yindarin.«
Ich schluckte. Ein weiterer Kloß bildete sich in meinem Hals. Aber nicht aus Panik, sondern weil ich nie im Leben damit gerechnet hätte, so einen Rückhalt unter den Engeln zu finden. Ich hatte erwartet, vergessen und als Mensch unter Vielen betrachtet zu werden - aber das?
Die aufkeimenden Tränen bekämpfend presste ich gerührt hervor: »Vielen Dank. Das ist mehr, als ich mir hätte wünschen können.«
Michael räusperte sich.
»Jaja. So. Wir Erzengel sind natürlich auch weiterhin für dich da, Jennifer Ascot, vergiss das nicht.«
Ich nickte und schaute über die Schulter zu Nighton. Er lächelte mir aufmunternd zu. Allerdings wirkte dieses Lächeln ein wenig - keine Ahnung. Seltsam. Verloren?
Sein Lächeln erwidernd und das Kinn anheben musterte ich ihn, ehe mir ein Gedanke kam. Vielleicht wurde es Zeit, den Spieß umzudrehen. Also streckte ich ohne darüber nachzudenken eine Hand in Nightons Richtung aus und hob auffordernd die Augenbrauen an. Nightons Lächeln verrutschte sofort und er schüttelte fast entrüstet mehrmals schnell hintereinander den Kopf.
»Komm her«, forderte ich ihn unnachgiebig auf.
Ich hörte Michael glucksen. »Unser Yindarin scheint plötzlich Angst zu haben. Na, Nighton? Keine falsche Scheu, die Engel beißen dich nicht. Nicht mehr, versprochen.«
»Pah!«, knurrte Nighton und stieß sich vom Portal in seinem Rücken ab, an das er sich gelehnt hatte. »Ich hab' keine Angst! Ist ja nicht so, als wäre ich hier in den letzten Wochen ständig ein- und ausgegangen.«
Die Reaktionen auf sein Vortreten waren anders als bei mir. Die meisten Engel schienen mit Nighton noch das blutrünstige Monster zu verbinden, weswegen sie besorgte Blicke austauschten. Ein wenig wunderte mich das schon. Viele von ihnen taten so, als würden sie zum ersten Mal mitbekommen, dass Nighton nun der Yindarin war. War das bisher etwa ein Geheimnis gewesen? Nein, oder?
Nighton blieb neben mir stehen. Er stellte sich aufrecht hin und zog ein finsteres Gesicht, als wollte er den Eindruck erwecken, kein Problem damit zu haben, hier wie das neuste Exponat eines Museums begafft zu werden.
Greah nickte Nighton zu und sagte respektvoll: »Yindarin. Schön, dass du zurück bist.«
»Hmpf«, brummte Nighton und zog die Schultern hoch. Es freute mich diebisch, zu sehen, wie er unter all der Aufmerksamkeit litt.
Michael drehte sein Schwert um und legte es sich wie gewohnt über die Schulter, ehe er umhersah und mit erhobener Stimme rief: »Geht euren Beschäftigungen nach, Engel von Oberstadt.« Das ließen sich die herumstehenden Engel nicht zwei Mal sagen. Geschäftiges Treiben entstand, einige der Engel schossen in den Himmel davon, andere verstreuten sich fußläufig. So blieben nur Greah, Michael, die Himmelswache, Nighton und ich zurück.
Als die meisten Engel weg waren, ließ ich kurz den Blick schweifen und spürte Wehmut in mir hochsteigen. Das alles war so vertraut. Als wäre ich erst gestern hier gewesen.
Die Dächer der eindrucksvollen Bauten aus Elfenbein und Marmor glitzerten im späten Abendlicht, kleine Wesen schwirrten durch die Luft und verschiedenste Gerüche, einer intensiver als der andere, stachen mir in die Nase. Eine Erinnerung blitzte in meinem Kopf auf. Blutüberströmte Wege, herumrennende Engel, wütende Dämonenhorden. Ich blinzelte. Von der Schlacht von vor wenigen Monaten war nichts mehr zu sehen,
Das letzte Mal, als ich vor den Toren des Himmelsturms gestanden hatte, hatte ich nur ein Ziel im Auge gehabt: Die Vernichtung Selenes. Schon komisch, was sich seitdem alles getan hatte.
»Wusstest du, was mich hier erwartet?«, konfrontierte ich Nighton direkt, der den Kopf schüttelte und mit nach wie vor nicht sehr erfreuter Miene erklärte: »Nein. Dass sich so viele Engel versammeln, habe ich erst wahrgenommen, als wir angekommen sind. Ich habe damit nichts zu tun.«
»Aber ich!«, gluckste Michael und fügte stolz hinzu: »Ich habe dich über den Turm beobachtet, Jennifer Ascot, und nur darauf gewartet, dass ihr aufbrecht.«
»Toll«, lobte ich ironisch. »Also war die Nachricht des Sehers nur ein Vorwand?«
Michael schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Er wartet schon. Geht ruhig. Ach, Yindarin, die Oberste will dich sehen. Sie hätte deiner Begrüßung beigewohnt, Jennifer, doch wichtige Angelegenheiten-«
»Ist vielleicht besser so«, unterbrach ich den Erzengel, der nur leicht schmunzelte und wieder zu Nighton sah.
»Wir sehen uns, Yindarin. Sei nicht immer so grimmig. Du bist jetzt einer von uns, nun ja, zur Hälfte jedenfalls, und du hast dir schon einiges an Ansehen erarbeitet. Du brauchst keine Furcht zu empfinden.«
Gereizt knurrte Nighton: »Ich empfinde keine - ach, was soll's. Jennifer, wir gehen.« Er schob mich am grinsenden Michael vorbei, allerdings nicht in Richtung des Schlosses, sondern zurück zum Himmelsturm, wie ich verdutzt feststellte.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich.
»Wir nehmen die Abkürzung zum Schloss. Ich laufe doch nicht durch die Höllensonne.«
Das mit dem Sonnenlicht konnte ich nachvollziehen. Zwar tolerierte sein Körper es inzwischen bestimmt, aber nach dreizehn Jahren Sonnenlichtfolter verstand ich, dass er mit dem Oberstädter Licht trotzdem noch auf Kriegsfuß stand. Aber von was für einer Abkürzung redete er?
Auf das Schloss hinter uns zeigend schlug ich vor: »Warum fliegst du nicht? Ich würde gern laufen.«
»Weil er ein F- Halt, lass das, nein!« Zuerst hatte Nighton ganz entspannt daher gesprochen, dann unterbrach er sich plötzlich mit lauter Stimme selbst und schüttelte sich, ehe er sich an die Schläfen griff und schnaufte: »Sekeera ist so - so - andauernd überfällt sie mich! Wie hast du das nur ausgehalten?!«
An Sekeera zu denken, vertrieb mein aufgeheitertes Gemüt ein wenig, das mir die Worte der Engel beschert hatten. Ich schwieg also und folgte Nighton einfach weiter an die Hinterseite des Turms, wo sich auf einer Steinplatte ein wirklich seltsames Gerät befand. Es war rund, messingfarben, hatte etwa den Durchmesser eines gewöhnlichen Gullis und eine glatte Oberfläche. In der Luft oben drüber schwebte, etwa in zwei Meter höhe, eine identische, ovale Platte. Bläuliches Licht waberte zwischen den zwei Flächen hin und her, und mir schwante Übles.
»Das ist doch wohl nicht irgendeine Art neuartiger Teleporter?«, wollte ich voller Sorge wissen und blieb stehen. Nighton, der inzwischen zu seiner guten Laune zurückgefunden hatte, grinste von einem Ohr bis zum anderen, als er gestikulierend erklärte: »Noch eine von Gabriels neuesten Tüfteleien. Er hat die Inlands-Lythr verstärkt und aktiviert. Zu Selenes Zeiten gingen sie nicht - aus Sicherheitsgründen. Nach dir. Es wird dir gefallen. Und deinen Magen sollte es auch nicht triggern.«
Entgeistert wich ich einen Schritt zurück und stieß hervor: »Auf gar keinen Fall, wenn dann gehst du zuerst!«
Er lachte. Dann zuckte er mit den Schultern und stellte sich auf die Messingplatte. Die schwebende begann zu surren und zu rotieren, ehe Nighton in blaues Licht gehüllt wurde. Plötzlich verschwand er einfach in einem blauen Blitz, der einfach so gen Himmel schoss. Ich machte große Augen.
»N-Nighton?«, sprach ich unnötigerweise seinen Namen aus, obwohl er längst nicht mehr da war. Sollte ich ihm folgen? War das überhaupt sicher, wenn es so neu war?
Misstrauisch näherte ich mich dem Teleporter, bis ich tief Luft holte und Mut sammelte. Würde schon schiefgehen.
...ohje.
Nein, diese Art des Reisens war definitiv nicht für mich gemacht. Sobald ich die Platte betreten hatte, hatte ein gruseliger Sog meinen Körper gefasst, ehe es mich in schwindelerregende Höhen gesprengt und in der nächsten Milisekunde wie in einem Freefall-Tower nach unten geschmettert hatte. Also nein, danke, das würde ich nicht nochmal machen. Blöderweise machte ich nämlich die uneleganteste Bauchlandung, die man sich nur ausmalen kann.
Stöhnend kämpfte ich mich auf alle Viere. In meinem Kopf drehte sich alles. Laufen war mir definitiv lieber.
»Was machst du denn da unten am Boden?«, spottete Nightons Stimme, dessen Hand kurz darauf in meinem Sichtfeld auftauchte. Mit frostiger Miene sah ich zu ihm auf, ehe ich grummelnd nach seiner Hand griff und mich von ihm auf die Füße ziehen ließ.
Mir war ein wenig schwindelig. Wenigstens verspürte ich keine Übelkeit, was schon mal ein Pluspunkt war, aber dafür fühlte ich mich benebelt.
Mich an den Oberarmen festhaltend, erkundigte Nighton sich mit einer Mischung aus Sorge und Belustigung: »Ist alles gut? Du bist so blass.«
Ich rang mir ein Nicken ab, dann ließ ich zu, dass er mir von der Messingplatte half. Erst jetzt schaute ich mich um. Wir waren direkt inmitten des länglichen Thronsaals gelandet. Es war totenstill, denn außer uns war niemand hier. Jedenfalls schien es so.
Durch die hohen Bogenfenster fiel das goldenes Sonnenlicht hinein, in dem ich glitzernden Staub umherfliegen sehen konnte. Die mächtigen Statuen entlang der Wände hielten nach wie vor Wache, und es roch sehr fremdartig. Nicht schlecht, aber seltsam. Außerdem fühlte ich ein merkwürdiges Stechen in meiner Nase, das ich nicht so ganz zuordnen konnte. Aber darüber zerbrach ich mir nicht den Kopf.
Wir taten ein paar Schritte zwischen den Säulen hindurch, dann entdeckte ich an der einen Kopfseite, wo einst Nedeya auf ihrem Thron gesessen hatte, die kindliche Oberste. Sie saß auf dem Stuhl, beide Beine über eine Lehne geschwungen und offensichtlich des Todes gelangweilt. Nighton steuerte auf sie zu, was mir nicht gefiel. Ich hatte keine Lust, diesem verzogenen Gör unter die Nase zu treten, schon gar nicht in so unterwürfiger Position.
Nighton entging nicht, dass ich langsamer wurde. Im Gehen flüsterte er mir halb grinsend zu: »Sei nett, wenigstens diesmal!«
»Sagst gerade du!«, zischte ich zurück.
Ich heftete meinen Blick auf Isara, die uns in diesem Moment bemerkte. Sie hatte ihr albernes Frosch-Shirt gegen ein violettes Kleid getauscht, das ihr verdammt gut stand. Außerdem kaute sie kein Kaugummi und ihr rot-braunes Haar wurde von einem sehr fein gearbeiteten, silbernen Reif geschmückt.
Sie kniff die Lippen aufeinander, als sie mich erkannte. Dann setzte sie sich aufrecht hin, ehe sie aufstand und die Treppenstufen zu uns herunterkam.
»Na endlich! Ich dachte schon, du ignorierst meinen Befehl, Nighton.«
Nighton holte tief Luft. Wirklich ganz tief.
»Wir wurden aufge-«
Die Mini-Oberste hob die Hand und schaute zu Nighton auf, der es nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden. Dann wandte sie mir ihren Blick zu und räusperte sich. Ich wappnete mich schon, da begann sie recht nachdenklich und ernst wirkend zu reden.
»Ich bin in mich gegangen, Jennifer, und ich finde, wir hatten keinen guten Start. Ich weiß, dass du und meine Mum Differenzen hattet, aber warum sollten wir uns deswegen zanken?« Ich sah sie schlucken und den Mund zu einer schmalen Linie zusammenpressen.
»Ich wurde-«, die Linie wurde noch schmaler, »-von deinem ehemaligen Mentor Michael daran erinnert, was du für Oberstadt getan hast. Und ich soll - will mich dafür entschuldigen, dass mein Verhalten in deinem Zuhause einer Obersten nicht gebührt. Ich-« Sie stockte. Dann stöhnte sie und jammerte plötzlich: »Ach, keine Ahnung, ich wollte Michaels Worte wiederholen, aber weiß du was? Ist egal. So rede ich eigentlich gar nichbt. Tut mir leid, wie ich mich bei dir zuhause benommen habe. Können wir Freundinnen werden? Ich habe hier niemanden.«
Ich war so überrascht über dieses erwachsene Verhalten, dass mir die Kinnlade herunterfiel. Selbst Nighton wirkte etwas beeindruckt von Isaras Verhalten. Auf einmal kam ich mir unsagbar blöd vor. Eigentlich war ich diejenige, die sich kindisch benommen hatte, immerhin war ich älter als Isara und hätte es besser wissen müssen.
Also lächelte ich Isara so nett an, wie ich konnte und erwiderte mit warmer Stimme: »Mir tut's genauso leid, ich war keinen Deut besser. Aber danke für deine Worte, und ja, klar, auf jeden Fall freunden wir uns an. Das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte noch nie eine Oberste zur Freundin.«
In Isaras Augen entstand ein glückliches, fast aufgeregtes Lächeln. Sie klatschte einmal in die Hände und rief: »Großartig. Dann kannst du mir ja beibringen, wie du deinen Lidstrich ziehst, meiner sieht einfach immer grauenhaft aus.«
Schon wieder jemand, der meinen Lidstrich mochte? Hm, vielleicht war das mein geheimes Talent als Mensch. Lidstriche zeichnen. Ich lachte, stimmte zu und wollte direkt auf das Thema eingehen, aber Nighton schaltete sich ein.
»Freut mich wirklich, dass ihr zwei aufhört, euch wie pubertierende Teenager aufzuführen, aber Azmellôn wartet auf dich, Jennifer«, erinnerte er mich.
Isara schickte ihm einen giftigen Blick. Das konnte sie gut.
»He, ich bin deine Oberste, wie redest du denn mit mir? Ich kann auch ganz anders, und nur, weil du zwei Meter lang und ein Yindarin bist, heißt das nicht, dass du dir hier alles erlauben kannst!«, drohte sie. »Ich bin zwar erst Fünfzehn, aber dafür habe ich rote Haare und irisches Blut, und weißt du, was das heißt? Unter dieser Haube steckt Feuer!« Sie wies auf ihren Kopf.
Nighton musterte sie, als hätte er sie am liebsten erwürgt. Aber er gab keine Widerworte und lächelte einfach nur. Dass dieses Lächeln etwas Gefährliches an sich hatte, nahm Isara nicht wahr, da sie Nighton nicht so gut kannte, wie ich es tat.
Sein Schweigen anscheinend als Einsicht wertend, nickte Isara zufrieden und fügte an Nighton gewandt hinzu: »Gut. Ich habe übrigens etwas für dich zu erledigen, Nighton. Komm doch in den Ratssaal, sobald du mit ihr bei Azmellôn warst.« Sie winkte mir zum Abschied und rauschte dann davon.
Nighton stampfte mehr los, als dass er ging, und ich musste mich beeilen, mit ihm Schritt zu halten. Wir gingen in einen der angrenzenden Gänge.
»Diese - diese - ACH!«, schimpfte Nighton vor sich hin. Ich grinste nur in mich hinein, ließ es aber unkommentiert.
Er schubste eine Tür zu seiner Linken auf, die in einen breiten Gang mit einem Dach aus Rosen führte. Kleine Lichter schwebten hier umher. Am Ende des Gangs sah ich einen Durchgangsbogen, hinter dem eine Brücke lag, die zu einem entfernten Turm führte. Sobald wir den Bogen hinter uns gelassen hatten, wusste ich plötzlich genau, wo wir waren.
Ich stockte. Es war die geländerlose Brücke, auf der ich vor wenigen Monaten auf Nighton getroffen war. Rechts von uns befand sich die andere Brücke, wo Siwe gestorben war. Und wo ich Sekeera geopfert hatte.
Nighton bemerkte mein Zögern und blieb ebenfalls stehen. In seinem Gesicht stand Verständnis. Nur langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Ich folgte ihm über die Brücke, die den Palast mit dem hohen Turm verband, der am Ende der Brücke stand.
Es war bedenklich hoch. Ich passte penibel darauf auf, genau in der Mitte der Brücke zu bleiben und nur auf den Weg zu sehen. Es dauerte nicht lange und wir standen vor der Tür zum Turm. Ich wusste gar nicht genau, wie ich mich fühlen sollte. Am liebsten jedoch wäre ich woanders und nicht an diesem erinnerungsträchtigen Ort.
»Kommst du mit rein?«, fragte ich Nighton.
»Nein. Ich gehe zum Obersten Kind«, verneinte er bedauernd und verschränkte die Arme, mit dem Kinn in Richtung des Turms nickend.
»Ich will dich nur noch kurz warnen. Azmellôn ist weder Engel noch Dämon. Gerüchten zufolge war er war mal ein Mensch, wurde aber vor sechshundert Jahren zum Orakel und sitzt seitdem in diesem Turm. Das hat ihm über die Jahre nicht gerade... gutgetan. Außerdem ist er blind, aber trotzdem ein Meister darin, Absichten durch Wortwahl und Betonung zu erfahren, also sei ehrlich. Ach, und noch was. Starr ihn nicht an.«
Verunsichert zog ich die Augenbrauen zusammen. Klasse. Und da sollte ich allein rein? Nighton öffnete mir die Tür und schickte mir einen ermutigenden Blick.
»Ich warte hier auf dich, wenn du fertig bist.«
Ich seufzte. Dann ging ich durch die Tür.