»Und, kam was aus der Wand hervor und hat dich tollwütig knurrend angefallen?«, witzelte Sam aus dem Wohnzimmer heraus, sobald wir die Kellertür hinter uns geschlossen hatten. Grinsend lief ich zu ihm, Nighton stehenlassend. Sam stand hinter der Bar und war dabei, diverse alkoholische Flüssigkeiten zusammenzumischen. Sogar eine Schürze mit aufgedruckten Orangen hatte er sich dafür umgebunden.
»Ja«, entgegnete ich staubtrocken und setzte mich auf einen der Barhocker, »Und jetzt ist es auf dem Weg zur Queen, um ihr die Frisur vom Kopf zu knabbern.«
Sam kicherte. »Na, zum Glück hat es das nicht bei dir versucht.«
Ich wollte weiter auf unser Hirngespinst einsteigen, da tauchte Nighton im Türrahmen zum Flur auf und räusperte sich. Ich schluckte mein Lachen runter und lenkte den Blick auf den Tresen vor mir.
»Komm, ich bringe dich zurück nach London«, sagte er zu mir, mit dem Kopf in Richtung der Haustür ruckend.
»Oh, das kann ich doch machen!«, rief Sam aus und schaute auf die Standuhr in der Ecke hinter dem Klavier. Er wurde bleich und schlug sich die Hände an die Wangen, ehe er ausrief: »Schon halb acht? Ich muss doch zu Raphael!« Er riss sich die Schürze vom Leib, warf mir ein hastiges Tschüss zu und raste aus dem Haus. Das ging so schnell, dass ich nur blinzeln konnte. Dennoch versetzten mich seine Worte in Sorge. Nighton anschauend hakte ich nach: »Hat er etwa Raphael gesagt?« Nighton nickte, den Blick über Sams hinterlassenes Chaos schweifen lassend, bevor er erklärte: »Raphael bildet die Jungengel in Dor'Munach aus. Die neue Oberste-«, sein Gesichtsausdruck wurde merkwürdig angespannt, als er von der Obersten sprach, »- hat so einiges geändert.«
Ich rutschte vom Barhocker, ein düsteres Gesicht ziehend.
»Solange sie nicht so eine Schreckschraube wie die Alte ist«, murmelte ich. Daraufhin zog Nighton eine Grimasse. Scheinbar war er nicht gerade ein Fan von der Obersten.
»Sie macht Nedeya gehörig Konkurrenz, aber eher, weil sie anstrengend, übermotiviert und gerade mal fünfzehn ist.« Nach einem verwunderten Blick fügte er hinzu: »Nedeyas Tochter Rachel wurde von irgendeinem heiligen Baum in Oberstadt auserwählt. Frag mich nicht, ich war nicht dabei.«
Überrascht weitete ich die Augen und beeilte mich, dem vorauslaufenden Nighton zu folgen.
»Nedeyas Tochter ist die neue Oberste? Mit fünfzehn? Die ist doch nicht mal auferstanden. Und soll nicht immer göttliches Blut auf dem Herrschersitz sitzen?«
»Schon.« Nighton hielt mir die Tür auf. »Aber zurzeit gibt es niemanden mit so einem Status.«
Gemeinsam stiegen wir die Verandatreppe hinab. Die Sonne knallte nach wie vor von oben herab und blendete mich. Ich wollte noch mehr zu dieser Rachel fragen, da bemächtigte sich ein seltsames Gefühl meiner Eingeweide. Sofort blieb ich stehen und schaute über die Schulter zurück auf das Haus, das hinter uns emporragte. Ich kann nicht sagen, wo dieses Gefühl herrührte, aber insgeheim war ich mir plötzlich sicher, dass es von der Wand herrührte.
Wind kam auf. Überrascht schaute ich umher. Auch Nighton war weder mein Innehalten noch der Aufschwung des Windes entgangen. Aufmerksam betrachtete er mich, ehe er selbst mit Ahnung in den Augen der Hausfassade entgegenblickte.
Nach ein paar Sekunden raunte er: »Du spürst es, oder?« Ohne seinen Blick zu erwidern nickte ich und wisperte zurück: »Ja. So blöd das vielleicht jetzt klingt, aber ich glaube, die Wand will nicht, dass ich gehe.«
»Das klingt alles andere als blöd. Komm, wir verschwinden.« Er griff nach meinem Arm, doch ich riss mich direkt los. In derselben Sekunde ebbte der Wind plötzlich ab, was mich so erstaunte, dass ich vergaß, Nighton für den ungewollten Körperkontakt zurechtzuweisen. Doch der hatte meine Reaktion auch so verstanden.
»Entschuldige, ich hatte vergessen, dass du - los, lass uns gehen.« Ohne eine Emotion zuzulassen, zeigte er in Richtung des Waldes, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite auftat.
Tief Luft holend und den Blick vom Haus abwendend stimmte ich zu. Bisher hatte ich das mit der Wand nicht sonderlich ernst genommen - nun tat ich es.
Nighton nahm einen anderen Weg zum Teleportstern als den, den ich bisher kannte. Er führte am Waldgebiet entlang, vorbei an Sonnenblumenfeldern, einem Apfelhain und über eine Wiese, über der lauter Fliegenschwärme tanzten. Die gesamte Zeit über hielten wir, wenn überhaupt, ausschließlich Smalltalk, was ich als überraschend angenehm empfand. Eigentlich hatte ich nämlich erwartet, dass er die Einsamkeit und Ruhe nutzen würde, um sich mir zu nähern. Tat er aber nicht. Vielleicht hatte er es ja inzwischen begriffen.
Wenn wir nicht gerade dabei waren, über Belanglosigkeiten zu sprechen, dann war ich in Gedanken versunken. Wie auch in diesem Moment. Seine Kehrseite anschauend fragte ich mich mal wieder, was ich hier eigentlich tat. Ich weiß, ich weiß, ich fange schon wieder damit an, dass ich hin- und hergerissen war. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich wollte! Ob ich es überhaupt schaffen würde, ihn auf Dauer leiden und büßen zu lassen, ob ich überhaupt der Typ dafür war? Vor einer Woche noch hatte ich mir vorgenommen, Nighton auf gar keinen Fall wieder in mein Leben zu lassen. Und jetzt lief ich hier hinter ihm her und plauderte mit ihm darüber, dass das London Eye erst letztens die Preise angezogen hatte. Ich meine - was zur Hölle?!
Natürlich war es nicht so, dass ich nur ein paar Tage brauchte, um ihm verzeihen, bei Weitem nicht. Aber den Zorn, den Hass, den ich noch in dem U-Bahn-Tunnel gefühlt hatte, der war irgendwie fast weg. Was ich nicht verstand. Sollte ich nicht toben? Oder war meine Reaktion normal? Wie lange musste man bei so etwas sauer sein, gab es da Maßstäbe? Ich hatte schließlich nichts zum Vergleichen. Vielleicht war ich einfach nicht der Typ für schwelenden, langanhaltenden Hass. Oder lag es daran, wie ich für Nighton empfand? Ob er wusste, dass sich daran nichts geändert hatte, so sehr ich mir das auch gewünscht hätte?
Auf einmal blieb Nighton stehen. Wir hatten gerade das schattige Dickicht verlassen und waren am Rand einer blühenden Sommerwiese herausgekommen. Nighton murmelte etwas Unverständliches, doch bevor ich mir ansatzweise Gedanken darüber machen konnte, entwich ihm ein donnerndes Niesen. Ich erschrak ob dieser neuartigen Lärmquelle, doch da fielen mir Sams Worte ein. Ein Yindarin mit Pollenallergie. Kaum vorzustellen. Hätte Sekeera das nicht heilen oder beseitigen können?
Nighton stieß ein paar angeekelte Laute aus, stöhnte und ließ den Blick schweifen, einen Handrücken vor der Nase.
»Verdammt. Ganz vergessen, dass hier dieser Horror wächst. Wir gehen drum herum.«
Bevor ich mich bremsen konnte, fragte ich: »Seit wann hast du diese Allergie?«
Nighton warf mir einen eigentümlichen Blick zu.
»Schon immer. Doch als mein Dämon starb-«, er stockte. Auf einmal hatte ich den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen. »Als mein Dämon starb, sind einige der Leiden wiedergekommen, die ich als Junge damals hatte. Unter anderem die ganzen verdammten Allergien.«
»Allergien? Mehrzahl?«
»Oh ja«, seufzte er. »Frag gar nicht erst.«
»Hm«, brummte ich und folgte Nighton, der einen Bogen um die Wiese schlug. Im Gehen musste ich andauernd an seine Worte denken. Als mein Dämon starb. Aus irgendeinem Grund beschäftigte mich diese Aussage. Ob er seinem Dämon so nahgestanden hatte wie ich Sekeera? Warum interessierte mich das überhaupt? Warum dachte ich über so etwas nach? Sekeera gehörte nicht länger zu mir, sie war Sein, sie saß nun in seinem Kopf. Das brachte mich wie so oft an die Stelle, an der ich traurig wurde und alles zu hinterfragen begann. Nighton schien meinen Stimmungswandel sehr wohl zu bemerken, denn er schaute einmal nach hinten zu mir, sagte dennoch nichts.
Bald kam die Teleportplatte in Sicht. Doch da blieb ich stehen, was Nighton erst nach ein paar Schritten registrierte.
»Ich-«, fing ich an, verstummte dann aber. Verwundert hielt er an und warf mir einen fragenden Blick zu, beobachtete mich, wie ich da auf der Stelle verharrte, den Blick zu Boden gerichtet, den Mund leicht geöffnet. Ich wusste selbst nicht, was mich ritt. Schließlich hatte ich verzweifelt Abstand zu ihm und tieferen Gesprächen gesucht. Oder? Oder??
Nighton wollte weitergehen, doch ich redete weiter, woraufhin er erneut anhielt.
»Ich glaube, ich kann das nicht, in deiner Nähe sein, dieses platonische Gerede mit dir, nicht vor diesem Hintergrund. Ich will dich verstehen, Nighton. Alles, was du getan hast. Dass wir ähnlich füreinander fühlen weiß ich, vielleicht kann ich deshalb nicht nachvollziehen, warum du mich an Selene verraten hast. Gut, anfangs warst du noch auf ihrer Seite, doch spätestens, als du angefangen hast, dich mir näher zu fühlen, hättest du ehrlich zu mir sein müssen. Wenn mir jemand wichtig ist, dann – dann belüge ich ihn nicht oder lasse ihn ins offene Messer laufen!« Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet, der mich fast am Weitersprechen hinderte. Wieso redete ich über solche Dinge? Was war los mit mir?
Das schien sich auch Nighton zu fragen. Er hatte mir stumm zugehört und sich keinerlei Reaktion anmerken lassen. Erst als ich endete, senkte er den Kopf. Einige Sekunden lang schien er den Waldboden mit seinen Blicken durchbohren zu wollen, doch dann schaute er mir ins Gesicht. Ich konnte ihm ansehen, dass er nach den richtigen Worten suchte.
»So, wie du das sagst, klingt alles nach einer Schwarz-Weiß-Entscheidung, aber so einfach ist es nicht. Ich war vierundsiebzig Jahre lang Selenes Scherge, und ich bin ehrlich, ich habe es genossen. Ihr zu dienen hat mir einen Sinn gegeben, jenen Sinn, den ich bei meiner Auferstehung verloren hatte. Was dich betrifft-«, sein Kiefer mahlte, »- habe ich immer gewusst, dass Selene dich eines Tages holen kommt. Es ist allein meine Schuld, dass sich das zwischen uns so entwickelt hat, und hätte ich es geahnt - weißt du, ich wollte eigentlich keinen Kontakt zu dir aufnehmen. Doch als du auf der Landstraße den Unfall gebaut und mich so angesehen hast, wollte ein kleiner Teil in mir es plötzlich drauf ankommen lassen.« Aus seiner angespannten Miene wurde ein halbes Lächeln. Sein Blick driftete in die Ferne, als er sich erinnerte.
»Aus irgendeinem Grund ließ ich dir dein Gedächtnis. Im Nachhinein habe ich es manchmal bereut, doch in den meisten Momenten war ich überrascht, wie und wer du warst. Zwar wusste ich ein wenig von deinem Charakter, doch alles, was ich mitbekommen hatte, war aus der Ferne gewesen. Ich hatte in den Jahren zuvor schon oft mit dir Worte gewechselt, aber eher, um dich aus deinen Schreikrämpfen zu holen, wenn gerade ein Unbeseelter versucht hatte, sich deinen Körper anzueignen.« Er verstummte. Ich wollte schon etwas dazu sagen, doch Nighton fuhr fort, also schloss ich den Mund wieder.
»Mit deiner Sturheit, deinem starken Willen, deiner lebendigen Art und deiner Standfestigkeit hast du mich beinahe umgeworfen, vor dir hatte ich nämlich nie mit einer vergleichbaren Persönlichkeit zu tun, die nicht Selene war. Innerhalb kürzester Zeit kamen wir uns näher, auch wenn ich dir stets das Gegenteil signalisiert habe, bewusst natürlich, denn ich wusste ja, dass es für uns keine Zukunft gab. Meine Zweifel an Selenes Vorhaben erreichten an deiner Auferstehung ihren Höhepunkt. In diesem Moment ist etwas in mir, ich weiß nicht, durchgebrannt, und dann, tja, dann bist du auferstanden. Ich habe deine Macht wahrgenommen, gesehen, zu was du geworden warst, und da spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass es falsch war, Selene zu dienen.« Auf einmal wurde sein Blick sehr eindringlich.
»Eines musst du unbedingt versuchen zu verstehen: Man hört nicht einfach so auf, Selenes Scherge zu sein. Das ist nicht wie bei einer Kündigung. Wann immer ich bei ihr war, hatte ich mit ihren Bestrafungen zu leben, ihrer seelischen Folter, ihren Befragungen über dich. Sie war furchtbar wütend, hat getobt, wollte, dass ich dich aus dem Internat bringe, aber ich konnte nicht. Deswegen hat sie es dann selbst in die Hand genommen. Und während du mir immer wichtiger wurdest, wurde sie immer gefährlicher. Ich habe sogar versucht, mich aus der Affäre zu ziehen, Abstand zu dir und zugleich auch zu ihr zu bekommen, damit sie mich nicht gegen dich verwendet oder gar andersrum, nur dann bist du verschwunden.« Er machte eine Pause, wartete, ob ich reagieren würde. Doch ich schwieg. Also fuhr er fort.
»Als der Kampf in Oberstadt kam – so, wie du mich angeschaut hast, hat es zuvor nie jemand getan. Oder vielleicht doch, ich weiß es nicht, jedenfalls hatte es mich bisher nie gekümmert. Ich konnte dir ansehen, wie etwas in dir zerbrochen ist. Mit diesem Wissen wollte ich nicht leben, nicht nach alldem, was zwischen uns passiert war. Mich in den Speer zu werfen, schien mir die einfachste Lösung zu sein. Und dann - dein Opfer – auf einmal hast du mich zu dir gemacht, obwohl ich nur etwas wiedergutmachen wollte. Dafür lässt Sekeera mich leiden, zurecht. Dass ich dir nie etwas von meinem Doppelleben gesagt habe, war der schlimmste Fehler, den ich in meinem langen Leben je begangen habe, und ich kann nur hoffen, dass du mir eines Tages verzeihst. Und wenn es sein muss, warte ich da drauf.« Seine Stimme wurde letzten Endes immer leiser und hätte ich nicht gesehen, wie sich Nightons Lippen beim Sprechen bewegten, ich hätte bestritten, dass er das alles gesagt hatte. Seine Worte brachten an einigen Stellen Licht ins Dunkel und irgendwo war ich froh über das, was er gesagt hatte. Aber dennoch …
Mit brüchiger Stimme wisperte ich: »Ich weiß nicht, ob ich dir je verzeihen kann. Trotzdem denke ich, dass ich einiges von dem verstehe, was du sagst. Ich kann mir ein Leben unter Selenes Herrschaft wirklich nicht vorstellen und ich glaube dir, dass es hart sein muss, ihr hörig zu sein und nicht einfach gehen zu können, wenn man es will. Nur-«, ich musste schlucken, um die Tränen zurückzudrängen, die sich mit aller Macht in meinen Augen empordrängten, »- nur weiß nicht, ob ich es schaffe, das alles durchzustehen, also hier zu sein, in diesem Haus, das mir meine tote Mum hinterlassen hat. Hinzu kommt, dass ich bei jeder Begegnung mit dir krampfhaft versuche, nicht einzuknicken, nicht durchblicken zu lassen, wie sehr du mir fehlst. Jederzeit daran erinnert zu werden, dass Sekeera in dir lebt, jederzeit umringt von meinen Freunden und trotzdem allein zu sein, ein Mensch unter Engeln und Dämonen. Seien wir ehrlich, ich meine, schau dich um! Ich gehöre doch gar nicht hierher. Mein Leben ist draußen in der Menschenwelt, wir sollten uns nichts vormachen. Und was sollte mich hier halten?«
Nighton schluckte. In der nächsten Sekunde legte er mir auf einmal eine Hand an die Wange. Fast wäre ich zurückgezuckt, doch stattdessen erstarrte ich und hielt die Luft an. Ich konnte es nahezu knistern spüren. Er näherte sich mir auf eine eigenartig neue Weise, woraufhin mein verräterischer Unterleib ein wahres Feuerwerk startete. In diesem Moment konnte ich gar keinen klaren Gedanken fassen. Er kam noch näher und ich schloss die Augen. Aber anstatt, dass nun das folgte, was ihr wahrscheinlich ebenso erwartet, wie ich es getan hatte, kam es ganz anders.
Mit einem Mal krampfte seine Hand an meiner Wange. Das brachte mich dazu, die Augen zu öffnen. Nighton stand vor mir, am ganzen Körper bebend, die Augen nach innen verdreht, den Mund halb geöffnet. Bevor ich nur schreien konnte, fiel er nach hinten um wie ein gefällter Baum und blieb auf dem Boden liegen, zuckend, als hätte er einen Krampfanfall.
Aufkeuchend warf ich mich neben ihn auf den Waldboden und packte ihn an den Schultern.
»Was ist mir dir?! Nighton!«, rief ich panisch und schüttelte ihn. Hilflosigkeit durchströmte mich. Er bog seinen Rücken durch und wälzte sich auf dem Erdreich so heftig hin und her, dass ich ihn loslassen musste.
Wie vor den Kopf gestoßen schaute ich verzweifelt in alle Richtungen, als würde ich gleich jemanden erspähen, der mir helfen konnte. Gott, was war mit ihm?? Was sollte ich nur machen?
Da wurde ich ohne Vorwarnung von Nighton am Handgelenk gepackt. Das kam so jäh und unvermittelt, dass ich vor Schreck und Schmerz aufschrie und mich nach hinten werfen wollte, um dem Griff zu entkommen. Doch es war unmöglich. Nighton hielt mich mit einer selten erlebten Härte fest und ich wusste, er stand kurz davor, mir den Arm zu brechen.
»Du tust mir weh!«, heulte ich mit schriller Stimme. Doch da bäumte sich Nightons Oberkörper auf und er packte auch noch mein anderes Handgelenk. In der nächsten Sekunde funkelten mich zwei aufgerissene, stechend graue Augen aus Nightons Gesicht heraus an. Ich kannte diese Augen nur zu gut. Es waren meine. Nein. Es waren Sekeeras.
»W-was m-machst du h-hier?«, presste Nightons Stimme mit ordentlich Mühe hervor, die von einer weiblichen, splitterscharfen Stimme unterlegt war. Zorn und Anstrengung schwangen in ihr mit, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich hier gerade nicht mit Nighton sprach. Diese Erkenntnis ließ mich jeden Schmerz vergessen. Ich konnte mich nur noch auf diese grauen Augen konzentrieren, die mir so unendlich vertraut waren.
»Keera?«, hauchte ich fassungslos und begann zu weinen. Ein Schauer durchlief Nightons Körper und er stöhnte, den Kopf überstreckend.
»Waren s-seine Taten - nicht genug, um dich - dich f-fernzuhalten?!«, stieß die Mischung aus Nightons und Sekeeras Stimme hervor. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen oder tun sollte. So prallten auch die Worte ab, die Sekeera an mich richtete.
»Du bist es wirklich«, wimmerte ich und spürte, wie unendliche Trauer, gepaart mit Sehnsucht und Freude in mir aufstieg. Zugleich begriff ich, dass Sekeera und Nighton gerade einen heftigen inneren Kampf ausfochten. Einen, bei dem sie ihm massiv zusetzen musste, um die Oberhand zu behalten.
»Du tust mir weh, bitte lass los!«
Schrecken zeichnete sich in Sekeeras Augen ab. Sofort lockerte sie den Griff um meine Handgelenke, sodass ich meinerseits zupacken und Nightons Handgelenke umfassen konnte.
»Das wollte ich - n-nicht. Aber-«, sie verstummte, heftig keuchend. Ein Beben durchlief Nightons Körper und für eine Millisekunde wurde der Griff wieder fester, nur um sich direkt zu lockern. Die Stimme fuhr fort.
»Ich w-will nicht, dass er dir zu nahe kommt! Er ist - er ist sch-schlecht!«, fauchte sie. »Er trennte uns!«
»Nein, ich habe uns getrennt, nicht er. Und ja, er hat Furchtbares getan, natürlich hat er das, aber es ist nicht deine Aufgabe, ihn dafür leiden zu lassen! Bitte, hör auf!«
Unglaube breitete sich in Sekeeras Augen aus. Zischend stieß sie hervor: »Ich will dich n-nur beschützen, J-Jennifer.«
Ich schlug die Augen nieder. Die Tränen flossen nun ungehindert über meine Wangen. Mit kaum hörbarer Stimme erwiderte ich: »Du bist in seinem Kopf, Keera, sag du es mir. Muss ich vor ihm beschützt werden?«
Stille kehrte ein. Stille, in der mich die grauen Augen voller Zorn musterten. Schließlich brummte Sekeera: »Nein. Er h-hegt k-eine bösen Absichten. Aber - aber widerwärtige G-Gefühle! Ich w-will dich nicht in seiner Nähe haben!«
Ich atmete aus. Dann rang ich mir zutiefst traurig ab: »Du hast dich kein Stück verändert. Immer noch so streitsüchtig, wie ich dich kannte. Ich vermisse dich so sehr, Sekeera.« Trotz des sehnsuchtsvollen Inhalts meiner Worte musste ich lächeln. Sekeeras Augen wanderten über mein Gesicht. Mit einem Mal schien der innere Kampf vorbei zu sein, der in Nightons Innerem geherrscht hatte. Seine Hand ließ die meine los und bewegte sich hoch zu meinem Gesicht, um eine Träne aufzufangen. Als seine glühend heiße Fingerspitze mich an der Wange berührte, zuckte ich zusammen, aber nicht zurück.
Voller Schmerz wisperte die Stimme: »Auch du fehlst mir, Wirt. Nein, nicht Wirt. Diese Bezeichnung mochtest du ja nie. Jennifer. Meine Jennifer. Bist du dir sicher bei dem, was du hier tust? Dieser Körper ist stark, so wie der Geist darin, es ist nicht einfach, ihn zu brechen. Wenn er dir doch etwas antun will, weiß ich nicht, ob ich gegen ihn ankomme. Ich will nicht, dass dir noch mehr zustößt.« Der Finger wanderte auf die andere Seite meines Gesichts und fuhr die Linie meines Jochbeins nach.
Ich griff nach der Hand und umfasste sie.
Eindringlich erwiderte ich: »Ich glaube inzwischen, dass er sich geändert hat, oder zumindest dabei ist, es zu tun. Aber ihn zu blockieren und nicht Yindarin sein zu lassen, bringt noch größere Gefahren mit sich. Das ist nicht richtig.«
Sekeera legte den Kopf schief. Für einen Augenblick schwieg sie, dann antwortete sie: »Vielleicht hast du Recht.« Sie schaute zur Seite und runzelte die Stirn, ehe sie auflachte und spöttisch verlauten ließ: »Er hat aufgegeben. Schwächling. Welch mangelnde Einstellung, eine, die ich ihm wohl noch austreiben musst. Du warst nie so schnell kleinzukriegen. Nun ja, es wird ohnehin Zeit, dass ich hier drin mal aufräume.« Der Spott wich aus ihrer Stimme, als sie sich vorbeugte und mir mit dem Handrücken erneut über die Wange fuhr. Flüsterleise versprach Sekeera: »Ich bin immer da, auch wenn du mich nicht sehen oder hören kannst. Ich bin in diesem Körper und bewache jeden seiner Schritte, und auch dich werde ich von hier aus beschützen. Gemeinsam mit ihm, wenn hinter seinen Gedanken Ehrlichkeit liegt.« Nightons Mund verzog sich zu einem sehnsüchtigen Lächeln. Bei diesen Worten hätte ich fast noch mehr geheult, doch auf einmal ruckte Nightons Kopf herum. Das Grau begann mit einem Mal zu flackern und das altbewährte Grün schimmerte hindurch. Das hatte zur Folge, dass Nighton die Hand zurückzog und sich mit einem schmerzvollen Grunzen vornüberbeugte und zugleich in sich zusammensackte.
Da ertönten hinter uns rennende Schritte und bevor ich begriff, wie mir geschah, wurde ich vom Boden emporgerissen und gegen einen Baum geschmettert.