Der Rest des Abends zog sich endlos dahin, jede Minute schien sich in eine Stunde zu dehnen. Keiner von uns konnte schlafen, bis auf Anna, die ich gegen elf in eins der Betten steckte. Sogar Tommy blieb mit uns wach. Er wirkte unglücklich und auch ein wenig fehl am Platze.
Irgendwann tief in der Nacht kehrte Nighton dann tatsächlich mit einem schmutzigen, aber ansonsten unversehrten Sam zurück. Penny war kaum zu bändigen und riss den Armen mit ihrer Umarmung beinahe von den Füßen. Sam schien völlig überrascht von ihrer Überschwänglichkeit zu sein und lief karmesinrot an, als sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Aber wir waren alle froh, dass er wieder heil bei uns war.
Ich war so erleichtert, dass ich Sam ebenfalls in die Arme schloss und ihm immer wieder dankte. Er winkte nur ab, aber der Stolz war in seinen Augen deutlich zu sehen. Gerne wäre ich geblieben, um mir alles von seiner heldenhaften Flucht anzuhören, aber ich war so müde, dass ich einfach nur noch ins Bett wollte. Also suchte ich Zuflucht in dem Zimmer mit dem großen Himmelbett. Ein Teil von mir hoffte verzweifelt, dass Nighton mir folgen würde, dass er vielleicht doch den Weg hierher finden würde. Aber der andere Teil von mir wusste es besser. Er wusste, dass Nighton sich zurückziehen würde, dass er sich von mir distanzieren würde, und dieser Teil behielt recht.
Am nächsten Morgen riss mich der schrille Wecker aus einem ohnehin unruhigen Schlaf. Anna, Penny, Sam und Evelyn schliefen noch tief und fest, während ich mich auf den Weg zur Schule vorbereiten musste. Der Rest war entweder bereits wach oder hatte die ganze Nacht durchgemacht.
Im Badezimmer versuchte ich, mich halbwegs normal fertigzumachen. Während ich mir den Schal um den Hals schlang und mich in Nightons Lederjacke hüllte, schob ich die Gedanken an die Ereignisse der letzten Tage beiseite. Es war seltsam, sich in dieser vertrauten Jacke wiederzufinden, die so nach Nighton roch, wo ich doch alles andere von ihm gerade so vehement zurückwies.
Als ich die Wendeltreppe hinaufstieg und die letzte Stufe erreichte, stockte ich kurz, als ich Nightons Rücken sah. Er stand zusammen mit Jason, Melvyn und meinem Bruder vor einem kleinen Waffenarsenal, das auf einem steinernen Esstisch im Querschiff ausgebreitet lag. Ich atmete tief durch und schulterte meinen Rucksack. Ein leises »Morgen« murmelnd, schlüpfte ich an ihm und den anderen vorbei und machte mich auf den Weg zur kleinen Küche, die Jason in einer Nische des Querschiffs eingerichtet hatte. Sie war hinter einem hohen Holzparavent verborgen, sodass ich sie gestern beinahe übersehen hätte.
Draußen war es noch dunkel. Aber es war ja auch früher Oktober.
„Wieso bist du schon wach?“, fragte Jason verwirrt, als ich die Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nahm, die ich gestern noch kaltgestellt hatte. In meinem Rücken spürte ich Nightons Blick brennen, doch als ich mich zu ihm und den anderen umdrehte, schaute er stur auf eine Armbrust in seinen Händen hinab, die er gerade inspizierte.
»Schule«, erwiderte ich knapp, bevor ich die Wasserflasche anhob, um zu trinken.
Tommy hob begeistert einen Morgenstern in die Luft, der bedrohlich und schwer wirkte. »Ist ja geil! Kann ich den haben?«
Ich hörte Nighton tief durchatmen. Dann antwortete er desinteressiert: »Von mir aus. Es ist mir völlig egal, du bist uns ohnehin keine große Hilfe.«
Das war gemein. Tommys Gesicht wurde hart, und er warf den Morgenstern frustriert auf den Tisch, als ob er ihn für die ganze Situation verantwortlich machen wollte. Er griff nach einer anderen Waffe, aber seine Miene verriet seine Enttäuschung.
Mir brannte die Frage auf der Zunge, wie ich zur Schule kommen sollte. Der Gedanke an den Bus schien unrealistisch, da ich weder mein Ticket bei mir hatte noch wusste, wie die Busse hier fuhren. Eigentlich wollte ich nicht fragen, aber ich musste. Also fasste ich mir ein Herz und wandte mich an Nighton: »Würdest du mich bring-«
Doch er unterbrach mich, ohne mich anzusehen, während er sich über die Waffen beugte. »Melvyn, würdest du?«
»Klar doch«, antwortete Melvyn sofort und wandte sich vom Tisch ab. Doch bevor er auch nur einen Schritt auf mich zumachen konnte, wurde die Luft von einer unverhofft und wütend dahin gemurmelte Bemerkung jäh durchschnitten.
»Oh ja, gute Idee, lass' Melvyn auf sie aufpassen, damit sie wieder fast vergewaltigt wird, wie beim letzten Mal.«
Diese Worte hallten wie ein Donnerschlag durch den Raum. Mein Herz setzte für einen Moment aus, und die Wasserflasche entglitt mir und rollte über den Boden. Ich starrte meinen Bruder an, der gerade begriff, was er da von sich gegeben hatte. Auch Melvyn und Jason richteten ihre Blicke auf Thomas. Er erbleichte.
Nighton schnaubte, hob ein Kurzschwert auf und begann es zu begutachten. »Melvyn ist ein sehr guter-« Er stockte, blinzelte und ließ die Waffe sinken. »Sekunde, was?«
Er runzelte die Stirn und öffnete leicht den Mund. Dann weiteten sich seine Augen langsam, als die Bedeutung von Thomas' Worten in seinem Kopf wie ein Komet einzuschlagen schien. Jegliche Farbe wich ihm mit einem Schlag aus dem Gesicht. Sein Blick sprang von Thomas zu Melvyn und dann zu mir.
Jason verharrte mit seinem alten Jagdgewehr in der Hand, die Miene steinern, doch seine Augen folgten aufmerksam jeder von Nightons Reaktionen. Die Spannung im Raum war fast greifbar, als wäre ein Pulverfass kurz vor der Explosion.
»Was soll das heißen, Thomas? Wie meinst du das?«, wollte Nighton von meinem Bruder wissen, seine Stimme eine Mischung aus Ungläubigkeit und aufkeimender Wut. Als Thomas nicht sofort antwortete, donnerte Nighton seinen Namen, sodass Tommy zusammenzuckte.
»Ich - ich - es ist mir rausgerutscht, ich wollte nicht-«, stotterte Thomas und griff panisch nach dem Morgenstern, als könnte dieser ihn vor Nightons drohendem Ausbruch schützen. Doch der wandte sich an Melvyn, der wie versteinert dastand, die Fäuste geballt, die Kiefer angespannt, während er auf den Tisch starrte.
»Was redet er da?!«, brüllte Nighton ihn an. Melvyn schwieg, und so suchte Nighton meinen Blick. Seine Augen flehten um eine Erklärung.
»Jen, was…«, setzte er an, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Die Stille war ohrenbetäubend. Mein Herz raste, und ich schaffte es nicht, seinem Blick standzuhalten.
Schließlich brach Melvyn das Schweigen.
»Es ist am Freitag passiert.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er sah zu mir, aber ich konnte seinen Blick nicht erwidern. »Ich habe nicht aufgepasst. Ich war wütend, weil ich mich von dir ungerecht behandelt fühlte. Ich dachte, ich verdiene mehr Respekt, da ich neben dir der Beste aus der Truppe bin. Aber du hast mich zu ihr geschickt, um sie zu beschützen. Ich hatte die Musik zu laut, war abgelenkt. Ich habe ihre Schreie nicht gehört. Es ist allein meine Schuld. Wäre Jason nicht gewesen…«
Nighton blieb die Luft weg, und Entsetzen verzerrte sein Gesicht. Er wich ungläubig zurück, während sich eine erdrückende Stille über den Raum legte.
Ich stand da, sprachlos und verzweifelt. Ich konnte die Situation kaum ertragen, also wendete ich mich ab. Genau davor hatte ich mich gefürchtet.
»Wir sprechen von Dorzar«, erklärte Jason schließlich. Er sprach gefestigt, aber trotzdem vorsichtig. »Ich habe den Bastard zwar gewittert, wusste aber nicht, dass er Jennifer in seiner Gewalt hatte, bis ich ihren Schrei hörte. Ich bin sofort in den ersten Stock gerannt und sah ihn über ihr. Er war dabei, sie zu... ich weiß es nicht genau. Ich zog ihn von ihr weg und dann... habe ich J…«
Plötzlich durchbrach ohrenbetäubender Lärm die Stille. Ich wirbelte herum, und das nächste, was ich sah, ließ mich laut aufschreien.
Nighton hatte sich auf Melvyn gestürzt. Seine komplette Verwandlung in Sekeera hatte eingesetzt, mit allen Facetten und Details. Mit einem heftigen Ruck packte er Melvyns Haare und knallte dessen Gesicht auf den Steintisch. Wieder und wieder. Jeder Aufprall ließ den Tisch erbeben, und Blut spritzte in alle Richtungen. Thomas taumelte nach hinten, sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt. Er stürzte zu Boden. Jason stand regungslos, seine Schultern steif, die Nasenflügel weit gebläht, doch er tat nichts.
Nighton war nicht mehr er selbst. Er war eine unaufhaltsame Naturgewalt geworden, sein Zorn wie ein Orkan, der alles mit sich riss. Melvyns Gesicht war kaum noch zu erkennen, blutüberströmt und zerschmettert, selbst der Tisch unter ihm war schon am knacken. Es schien kein Ende zu nehmen.
Der Schock lähmte mich einen Moment lang, dann rannte ich zu Nighton und riss verzweifelt an seinem Arm.
»Hör auf! Du wirst ihn umbringen!«, schrie ich. Meine Stimme überschlug sich. Aber Nighton war in seinem wütenden Rausch gefangen und schob mich grob beiseite.
Plötzlich sprang Jason aus dem Stand auf den Tisch, entfaltete noch währenddessen seine Flügel und machte einen Hechtsprung auf Nighton zu. Der wurde durch die machtvolle Attacke des Erzengels gezwungen, von Melvyn abzulassen. Mit einem gewaltigen Stoß schleuderte Jason ihn rückwärts gegen die Wand des Querschiffs, die unter der Wucht des Aufpralls bröckelte. Jason landete zwischen dem sich aufrichtenden Nighton und dem am Boden liegenden Melvyn, seine Flügel bedrohlich ausgebreitet, und drückte die scharfe Spitze seines Greifhakens an Nightons Kehle. Der hielt flach atmend inne, sich der Gefahr unter seinem Kinn bewusst. Sein Gesicht war eine Maske aus purem Entsetzen und Wut, seine Augen wild, sein Atem rau und unregelmäßig.
Der Raum glich einem Schlachtfeld. Überall war Blut. Es klebte an Nightons Händen, zog sich in dicken Streifen über den Boden und bedeckte den Tisch. Sogar mein Bruder, der mit kreideweißem Gesicht und starr umklammertem Morgenstern auf dem Boden saß, war davon besprenkelt.
Nighton keuchte, sein ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Sein Mund stand leicht offen, als könne er nicht fassen, was er getan hatte. Ich blieb wie versteinert, da, wo er mich hingeschubst hatte, die Hände vor den Mund geschlagen, unfähig, mich zu rühren.
Dann hörte ich Getrappel auf der Treppe. Meine Augen ruckten zur Tür, als Penny, Sam und Evelyn hereinstürmten. Penny erstarrte abrupt, Sam prallte gegen sie und Evelyn schrie auf. Sie sprang über die Sofas und stürzte sich auf den leblos erscheinenden Melvyn.
Nighton machte Anstalten, selbst auf Melvyn zugehen zu wollen, doch Jason hielt ihn davon ab, indem er ihm mit aufglimmenden Augen den messerscharfen Greifhaken noch ein Stück weiter entgegenreckte. Daraufhin hob Nighton die Hände an.
Evelyn zog Melvyn zu sich, dessen Gesicht nur noch eine entstellte, blutige Masse war. Sie schaute verzweifelt zu Penny, die endlich aus ihrer Starre erwachte und zu ihr rannte, dicht gefolgt von Sam. Jason rief ihnen zu, ihn nach Oberstadt zu Gabriel zu bringen. Ohne lange zu hadern, hoben Sam, Penny und Evelyn den geschundenen Dämon vom Boden hoch und trugen ihn zur Tür, während ich ihren Taten mit leerem Blick folgte.
Da hörte ich Jason Annas Namen hervorstoßen. Als ich über meine Schulter sah, erkannte ich meine Schwester, die müde die Treppe hinaufstolperte. Doch bevor sie den Blutschwall oder Melvyn in seinem erbärmlichen Zustand sehen konnte, ließ Jason seine riesigen Schwingen verschwinden und stand plötzlich vor ihr. Er baute sich vor ihr auf, ehe er sie sanft, aber bestimmt, die Treppe wieder hinunterführte, ihre verwirrten Proteste ignorierend. Auch Thomas, der inzwischen aufgestanden war, schlich wie ein verlorener Schatten zur Treppe. Sein Gesicht war bleich, die Augen leer und voller Verwirrung. Er wirkte völlig verloren, als wüsste er nicht, wohin er gehen sollte. Dann aber stieg auch er die Treppe hinab. Damit ließ er Nighton und mich allein inmitten des Blutbands zurück. Der Tisch sah auch aus wie ein Kriegsschauplatz – überzogen mit Blut, Steinsplittern, zerbrochenen Waffen und sogar kleinen Fleischfetzen. Die Luft war schwer von der Stille nach dem Sturm und von unausgesprochenen Worten
Ich schluckte, Nighton ansehend, der immer noch wie in Trance an der Wand stand, seine blutigen Handflächen anstarrend, als würde er ihnen eine Erklärung entlocken können. Sekeeras Form war inzwischen von ihm abgefallen. Kurz verspürte ich das Bedürfnis, mich umzudrehen und zu gehen. Aber tief in mir wusste ich, dass ich das Nighton nicht antun durfte.