Nicht mal schreien konnte ich, als der schwere, schuppige Körper des Reptils auf mir landete. Sein gesamtes Gewicht drückte mir die Luft ab. Mit einem verzweifelten Ruck kämpfte ich gegen die Pranken des Wesens, die sich um meine Kehle schlossen. Da spürte ich einen scharfen Stich in meiner Armbeuge. Das Messer! Wenn ich nur an es herankommen könnte!
Dann geschah etwas, was ich weder willentlich tat noch anderweitig kontrollieren konnte. Irgendetwas rein instinktiv Gesteuertes, was tief in meinem Unterbewusstsein geschlummert haben musste.
Das Etwas übernahm das Kommando.
Das Messer, immer noch in meinem Ärmel verborgen, war jetzt meine einzige Chance. Mit einer Bewegung, die sich anfühlte wie ein Wiedererwachen von längst vergessenen Reflexen, schüttelte ich das Messer heraus und ergriff es. Der Moment kam mir vor wie eine Ewigkeit, aber ich packte die Waffe am Heft und jagte sie der Schlange ohne zu zögern in die Flanke. Die schrie schrill auf und ließ von mir ab, sodass ich behände auf die Füße springen konnte. Mein plötzliches Aufstehen überraschte das Reptil und ließ es für einen Moment aus dem Gleichgewicht geraten. Alles in meinem Sichtfeld verengte sich auf die Riesenschlange, die nach ihrer Flanke tastete und mich wütend anbrüllte, sich bereitmachend. Irgendwo in der Ferne ertönte mein Name, doch ich reagierte nicht. Als das Reptil aufheulte und sich auf mich stürzte, war ich schon bereit. Mit einer präzisen Drehung meines Handgelenks und genügend Kraft platzierte ich den Dolch zielsicher in der tiefsten Schwachstelle des Reptils – genau hinter ihrem rechten Auge. Das Messer bohrte sich mit einem zufriedenstellenden Knirschen durch das Gewebe.
Ein schockierender Schrei entfuhr der Schlange, als ich das Messer genauso ruckartig wieder herauszog, wie ich es hineingetrieben hatte. Blut spritzte in einem großen Strahl heraus. Die riesige Kreatur begann zu zucken, ehe sie zusammenbrach und genau auf mir landete. Damit hatte ich allerdings nicht gerechnet, und zu langsam war ich auch, sodass die Schlange mich unter sich begrub. Nicht mal Zeit zum Aufschreien blieb mir. Ihr Gewicht lastete schwer auf mir, und auf einmal fiel dieser merkwürdige Überlebensmodus von mir ab. Ich spürte Panik in mir reifen, denn ich bekam wieder keine Luft. Das Blut der Schlange lief mir in Augen, Mund und Nase, und ich konnte nur noch gurgelnde Laute von mir geben, während ich darum kämpfte, die tonnenschwere Reptilienleiche von mir zu wuchten.
Über mir tauchte Gils verzerrtes Gesicht auf. Er wollte schon die Schlange packen und von mir runterziehen, doch da hatte er seine Rechnung ohne Nighton gemacht. Der tauchte auf einmal auf, brüllte lauthals nach mir, entdeckte mich unter der toten Schlange, stieß Gil grob aus dem Weg und zog den Leichnam von mir herunter, nur um ihn in derselben Bewegung hochkant von der Glasterrasse zu werfen. Dann riss er mich vom Boden hoch und schlang seine Arme fest um mich. Ich erwiderte die Umarmung nach Luft ringend, immer noch fassungslos darüber, was gerade passiert war.
Ich konnte spüren, wie Nighton zitterte, und dass sich seine Hände an meinem Rücken verkrampften. Mit einer Hand fuhr ihm durch die Haare und atmete seinen Duft ein, der von dem muffigen Wasser unten in den Katakomben etwas in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Plötzlich schob er mich von sich. Seine Augen glitzerten und waren leicht gerötet.
»Du bist so ... verrückt, Jennifer Ascot!«, fuhr er mich an und musste lachen. Ich stimmte in das Lachen ein.
Es fing an zu nieseln, aber das war mir egal. Das Meerwasser hatte mich ja schon bis auf die Knochen durchnässt, auf ein paar mehr Tropfen kam es jetzt auch nicht mehr an. Doch nun, zum ersten Mal seit dem Auftauchen aus dem Meer, spürte ich die Kälte, die mich zum Zittern brachte. Trotz des Wetters hob ich mein Gesicht, ließ den stärker werdenden Regen auf meine Haut prasseln und ignorierte das fröstelnde Gefühl. Nightons Augen, tief und undurchdringlich, ruhten auf mir. Ich sah zu ihm hoch, unfähig, den Blick abzuwenden.
Und dann -
Auf einmal beugte er sich in Zeitlupe zu mir herunter. Sein Atem wurde vom aufkommenden Wind davongetragen, während mein Herz vor Überraschung einen Schlag aussetzte. Ich spürte, wie seine Lippen, sanft und suchend, meine Wange berührten. Ich schloss die Augen und drehte meinen Kopf, um ihm entgegenzukommen. Im nächsten Augenblick trafen sich unsere Lippen. Zuerst war es ein zögerlicher Kontakt, dann wurde der Kuss intensiver, fordernder.
Wie es sich anfühlte? Ach Leute, dafür finde ich keine Worte. Ich wusste nur, dass sich noch nie etwas in meinem Leben so gut angefühlt hatte. Es war in etwa vergleichbar mit dem Versinken an einem warmen Sommertag in einem Pool. Oder wie eine heiße Schokolade im Schneegestöber. So kischtig das klingen mag - in mir stieg ein unstillbares Verlangen auf. Nightons samtweiche Lippen waren wie eine Welle, die mich überrollte, und ich konnte nicht genug davon bekommen.
Die Intensität des Kusses war so überwältigend, dass ich erst einen Moment brauchte, um mich auf diesen völlig neuen Sinneseindruck einzulassen. Selbst mein Knie wurden weich wie Butter. Doch Nighton schien meine Überraschung nicht zu stören. Er löste sich kurz von mir, suchte dann aber erneut meine Lippen, und ich konnte sein brennendes Verlangen förmlich spüren.
Inmitten dieses vollkommenen Moments hätte ich beinahe vergessen, wo wir uns befanden und dass wir nicht allein waren. Doch dann störte ein Räuspern die Magie unseres Augenblicks.
»Kann ich kurz - ahem - könnt ihr euch später auffressen?«
Ich hätte Gil verprügeln können.
Nighton löste sich zu meinem großen Missfallen von mir und schaute zur Seite. Neben dem zerstörten Katapult stand Gil, der sich sichtlich fehl am Platz fühlte. Ich schickte ihm einen mörderischen Blick. Der hatte vielleicht ein Timing!
Gil, der meinen Blick mit einer Grimasse quittierte, trat unruhig auf der Stelle, als Nighton ihn musterte. Er wies auf mich und erklärte: »Ehrlich, dieser Auftritt eben war heiß, vor allem du, du Yindarinberg, und von dir bin ich auch beeindruckt, Menschenmädchen. Habe selten einen Mensch eine Schlange derart verhauen sehen! Aber jetzt würde ich hier gerne weg, selbst wenn ich dafür in romantische Kussszenen grätschen muss, die wirken, als wären sie überfällig - was ist denn?«
Nighton schaute auf mich hinab und zog eine Augenbraue hoch.
»Wer zur Hölle ist das denn?«
Ich seufzte auf, wissend, dass Gil die Stimmung zwischen Nighton und mir restlos gekillt hatte. Knurrig und die Arme verschränkend erklärte ich: »Das ist Gil. Er hat mir geholfen aus der Höhle zu entkommen, nachdem ich den Kristall zerstört habe.«
Weiter hinten sah ich die Horde Engel zurückkehren, angeführt von Michael und der Engelsfrau, deren goldenes Licht erloschen war. Sie sah nun aus wie alle anderen Krieger Oberstadts. Noch weiter hinten erkannte ich Penny und Evelyn, die mir wahrscheinlich aufgrund gewisser Ereignisse hysterisch zujubelten, was mir natürlich super unangenehm war, also schaute ich wieder zu Nighton auf, die Rötung meines Gesichts unterdrückend.
Nightons Augen weiteten sich und er schob mich ein Stück von sich. Entgeistert stieß er hervor: »Du hast den Kristall wirklich zerstören können?!«
Ein bisschen beleidigend war die Überraschung in seiner Stimme schon.
»Natürlich!«, erwiderte ich spitz. »Warum so überrascht? Wie du siehst, bin ich ein nützliches Mitglied der Gesellschaft.« Mit gewissen Benefits, wenn ich so an den befremdlichen Kampf mit der Schlange dachte. Was war das gewesen, das mich so hatte kämpfen lassen? Vielleicht eine Art Muskelgedächtnis?
Nighton war absolut sprachlos. Sprachlos und beeindruckt, und das gefiel mir. Er ließ mich ganz los und machte ein paar Schritte auf Gil zu. Der zuckte zurück, aber als Nighton ihm bloß die Hand entgegenstreckte, entspannte er sich und schüttelte ihm die Hand.
»Danke, für alles, Gil. Wenn wir etwas für dich tun können, dann sag es«, sagte Nighton sehr ernst zu dem Dämon, der dankend nickte.
»Ich will weg von hier. Weit weg, ich hasse Unterstadt. Hier gibt es nicht eine Kippe!«
Nighton wies auf die Eulen. »Nimm dir eine. Dich wird keiner aufhalten, du hast mein Wort. Falls du willst, kannst du dich uns aber auch auf der Erde anschließen. Wir haben dort nahe London einen Stützpunkt und können Verstärkung jederzeit gebrauchen.«
Gil lachte laut auf. »Was, von mir? Nein, nein, ich bin nicht für Patchwork-Familien oder Pfadfinder-Camps gemacht, oder was auch immer ihr da aufgezogen habt. Rührt ihr nur schön eure Suppe, am besten ohne mich. Aber ich komme bestimmt mal auf ein Pläuschchen vorbei, was nicht schwierig werden sollte, deine finster dreinblickende Angebetete und ihr Parfüm sind ja meilenweit zu wittern. Nichts für ungut, Jenny«, lehnte er salopp ab, als er seine Contenance wiedergewonnen hatte. Ich atmete tief durch, entschloss mich, nicht auf die Verhunzung meines Namens zu reagieren und ging auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Gil reagierte noch perplexer als bei Nighton, als ich meine Arme um ihn schlang und mich anschließend auf die Zehenspitzen stellte, um ihm ein winzig kleines Küsschen auf die Wange zu drücken.
»Verschwinde bloß, du Plappermaul, und danke für deine Hilfe«, raunte ich und löste mich von ihm.
Der Dämon hüstelte, senkte den Kopf, murmelte: »Meine Hilfe? Ich habe das doch quasi allein geschmissen!«, grinste und verzog sich zu den Eulen. Ich schaute ihm hinterher, wie er aufstieg und mit dem kreischenden Vogel davonflog. Ich war froh, dass er ablehnt hatte. Diesen Kerl jeden Tag um mich zu haben, würde mich verrückt machen!
Dann fühlte ich, wie Nighton nach meiner Hand griff.
»Komm mit, Jen. Falls ich jetzt wieder Jen sagen darf«, sagte er und legte mir im Gehen einen Arm um die Schultern. Ich musste lachen. In mir herrschte so viel Glückseligkeit.
»Aber nur, wenn wir das von eben nachher fortsetzen.«
»Als ob ich da nein sage!«, erwiderte Nighton lächelnd und drückte mich leicht an sich.
Tharostyn und die anderen erreichten uns. Der alte Engel machte eine Armbewegung zu den Eulen und die Krieger Oberstadts zogen ab. Nur er selbst und die silberhaarige Frau blieben zurück. Der Regen indes wurde stärker, und Wind setzte ein. Es war, als würde Unterstadt sich gegen die Anwesenheit der Engel zur Wehr setzen.
Der alte Engel stützte sich schwer auf seinen Stock und musterte uns.
»Soso. Na, meinen Glückwunsch. Michael und ich hatten schon diverse Wetten laufen, wann Sie beide endlich den Ritt aufs Eis wagen. Ach, nur ein Spaß, Miss Ascot.« Er schien sich köstlich über seinen Witz und meinen Gesichtsausdruck zu amüsieren. Doch dann wurde er ernst und wandte sich an Nighton.
»Ich finde, wir haben eine Erklärung verdient, Yindarin«, brummte er. Nighton nickte, bat aber mit einem Seitenblick auf mich: »Lasst uns das in Oberstadt besprechen, hier ist nicht der richtige Ort. Jen ist völlig durchgefroren.«
Tharostyn brummelte zustimmend und machte sich auf den Weg zu den Eulen. Nighton schien erleichtert zu sein, nicht hier berichten zu müssen und schob mich hinterher. Er half mir auf eine Eule hinauf und nahm dann hinter mir Platz. Als er richtig saß, schwang sich der große Vogel in die Luft und flog hinter Tharostyns Eule her.
Dass die silberhaarige Frau direkt hinter uns flog, war das Letzte, was ich mitbekam, denn ich schloss meine Augen und lehnte mich an Nighton. Ich war total erschöpft.
Erschöpft, superglücklich und mächtig stolz auf mich.