»ÜBERRASCHUNG!«, brüllten plötzlich lauter Stimmen. Ich schrak furchtbar zusammen, zuckte zurück und stieß gegen Nighton. Das Licht ging an, und ehe ich realisierte, was los war, blies mir jemand lautstark mit einer Tröte ins Ohr. Für einen Moment war ich völlig verwirrt. Doch dann, als sich mein Blick klärte, erkannte ich, was hier eigentlich vor sich ging.
Das kleine, quadratische Foyer strahlte im Licht der Lampen, die an der Decke befestigt waren. Der Boden war aus edlem Marmor, und die normalerweise schlicht weißen, vertäfelten Wände waren festlich dekoriert – Girlanden in Schwarz und Rot zogen sich entlang der Ecken, Lampions hingen von der Decke, und an der Wand prangte ein handgemaltes Schild: 'Wir mögen dich auch als Mensch'.
Ich blinzelte ungläubig. Was… war das hier? Mein Herz setzte kurz aus, als ich versuchte, das Ganze zu begreifen.
Rechts, bei einem Wendeltreppenaufgang, stand Michael – wie immer in seiner unauffälligen Menschenverkleidung: eine abgewetzte Latzhose, darunter ein grünes Holzfällerhemd, und auf seinem Kopf thronte ein Strohhut. Sein gewohntes, riesiges Schwert hatte er mal wieder als unschuldig aussehende Holzlatte getarnt, auf die er sich lässig stützte. Sein silberblondes Haar war zu einem Zopf gebunden, was seine markanten Gesichtszüge noch betonte. Mit einer großen Portion Abstand zu ihm lehnte Jason mit verschränkten Armen, in einem schlichten weißen Hemd und Hose. Seine goldenen Augen ruhten sanft lächelnd auf mir.
Im Türbogen gegenüber entdeckte ich Penny und Sam. Sie jubelten wild und applaudierten, als hätten sie den größten Erfolg ihres Lebens gefeiert. In der Ecke des Raumes stand eine riesige, selbstgebastelte dreistöckige Papptorte, schwarz-weiß bemalt, aus der in diesem Moment Evelyn hervorplatzte. Sie trug den obersten Stock der Torte – inklusive einer knallroten Kirsche – als Hut auf dem Kopf. Mit ausgebreiteten Armen brüllte sie begeistert: »ÜBERRASCHUNG!«
Plötzlich wurde es still, alle Augen waren auf Evelyn gerichtet.
»Zu spät, Dumpfbacke!«, schimpfte Sam und gab ihrem Tortenhut einen kleinen Stüber.
Penny seufzte auf. »Du solltest aus der Torte springen, wenn wir 'Überraschung' rufen!«
»Pech gehabt!«, fauchte Evelyn zurück. »Seid froh, dass ich mich überhaupt in dieses dumme Kostüm gezwängt habe! – Was ist, Jennifer? Warum starrst du mich so an? Willst du dich auch noch beschweren?!«
Alle Blicke wandten sich auf mich, und ich stand da, die Hände vor den Mund geschlagen, unfähig, ein Wort zu sagen. In mir zog sich plötzlich alles schmerzhaft zusammen, als ich realisierte, was hier gerade passierte. Das alles – die Deko, die Freude, diese ganze absurde und liebevolle Szene – war für mich. Nicht wegen irgendeiner Mission, nicht wegen eines Krisentreffens. Es war für mich.
Und das war zu viel. Ich spürte, wie die Tränen langsam in meinen Augen aufstiegen, mein Herz in der Brust schlug schmerzhaft, und schließlich konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Die Tränen liefen über meine Wangen, und bevor ich wusste, wie mir geschah, begann ich zu schluchzen. Leise, dann lauter, bis ich mich fast schämte. Ich wollte doch nicht weinen – wirklich nicht. Aber ich hatte nicht im Geringsten mit so einer rührenden Geste von meinen Freunden gerechnet. Die Wucht der Gefühle überwältigte mich völlig.
Nighton, der hinter mir stand, zog mich sanft in seine Arme und strich mir mit einer Hand beruhigend über das Haar. Sein stiller Trost gab mir Halt in diesem Moment, doch die Tränen hörten nicht auf.
»Ähm.« Sam rieb sich verlegen den Nacken und zog seinen Partyhut vom Kopf. »Gefällt es dir nicht?«, fragte er zögerlich, seine Stimme war leise, fast unsicher. Ich schüttelte stumm den Kopf, zu überwältigt, um richtig sprechen zu können. Es war nicht das, was ich erwartet hatte – es war so viel mehr.
Schnell löste ich mich von Nighton, wischte mir hastig die Tränen aus den Augen und überwand den Abstand zwischen mir und Sam mit ein paar schnellen Schritten. Ich warf mich in seine Arme und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. »Doch, es ist ganz großartig! Ich bin nur völlig überwältigt! Mit so etwas hätte ich niemals gerechnet!«, schniefte ich.
Penny strahlte mich an, setzte ihren Partyhut ab und zog ihn mir über den Kopf. Ich konnte nicht anders, als über diese Geste zu lachen, bevor ich auch sie fest in die Arme schloss. Als ich sie losließ, legte ich mir wieder beide Hände auf den Mund, versuchte meine aufsteigenden Emotionen im Zaum zu halten, doch meine Augen wanderten zu den beiden Erzengeln, die einen vielsagenden Blick austauschten.
»Danke. Danke euch allen. Das ist einfach... wundervoll«, brachte ich mit zitternder Stimme hervor, meine Dankbarkeit drückte mir förmlich die Kehle zu.
»Ja, ich ziehe nicht für jeden so einen Rotz an, nur dass du's weißt!«, kommentierte Evelyn spitz, doch sie ließ es zu, dass ich sie trotz ihres sperrigen Kostüms fest drückte. Ihre Worte klangen so typisch für sie, dass ich trotz meiner Tränen schmunzeln musste.
»Nicht der Rede wert, Menschenkind«, mischte sich auch Michael mit einer zufriedenen Miene ein, während er sich auf seine getarnte Holzplanke stützte. »Die Grundidee stammt von Penelope, aber wir fanden alle, dass du nach den Strapazen der letzten Wochen ein bisschen Freude verdient hast.«
»Ganz genau. Deshalb haben wir uns alle überlegt, was wir dir schenken können«, fügte Penny eifrig hinzu, ehe sie sich bückte und ein in Herzpapier verpacktes Geschenk hervorholte, das sie geschickt hinter dem Türrahmen versteckt hatte. »Das ist von Samuel und mir«, sagte sie und hielt mir das Päckchen mit einem aufgeregten Grinsen entgegen. Auch Sam konnte sich ein grimassenartiges Lächeln nicht verkneifen. Meine Hände zitterten leicht, als ich das Geschenk in Empfang nahm. Jetzt bekam ich auch noch Geschenke?!
Neugierig riss ich das Papier auf. Das Päckchen fühlte sich weich an, und als ich schließlich den Inhalt sah, brach ich in schallendes Gelächter aus.
»Was ist es?«, fragte Nighton interessiert, der immer noch in der Tür stand und den Hals reckte, um einen Blick zu erhaschen. Evelyn, die das Geschenk inzwischen auch gesehen hatte, brüllte ebenfalls vor Lachen los und kippte fast in ihrem sperrigen Kostüm um.
Ich klammerte mich an das Geschenk und versuchte vergeblich, mein Lachen zu unterdrücken. »Es ist... ein Kuscheltier«, presste ich schließlich hervor.
»Und was ist daran so amüsant?«, fragte nun auch Michael, der Nightons Neugier teilte. Ich hielt ihm den Plüschhasen hin, und als er und Jason ihn erblickten, hoben sie synchron die Augenbrauen, offensichtlich amüsiert, aber auch etwas ratlos.
»Das ist das Hässlichste, was ich je gesehen habe«, urteilte Michael trocken. Seine Miene war so ernst, dass ich erneut in einen Lachanfall ausbrach und mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
»Jetzt zeig doch mal!«, drängelte Nighton ungeduldig, doch ich zögerte. War es wirklich klug, ihm das Ding zu zeigen? Ich war mir ziemlich sicher, dass der Hase ein ähnliches Schicksal wie das Handy des nervigen deutschen Mädchens erleiden könnte. Aber mit Lachtränen in den Augen hielt ich ihm das Kuscheltier schließlich entgegen.
Nighton starrte den Hasen eine Sekunde lang ausdruckslos an, bevor er die Kiefermuskeln anspannte, zu Penny und Sam schaute und mit unüberhörbarem Ärger herauspresste: »Warum hat dieses Ding mein Gesicht?«
Evelyn kreischte vor Lachen. »Ich finde, der sieht sogar noch besser aus als du!«, rief sie, nahm mir den Hasen aus den Händen und machte prompt ein Foto von ihm. Die Tränen liefen mir nun endgültig über die Wangen, während ich mich vor Lachen kaum halten konnte.
»Wir haben ihn Sir Bunnyghton getauft«, brachte Penny abgehackt hervor, bevor sie in ein schallendes Gelächter verfiel. Ich lachte so laut auf, dass mein Bauch schmerzte.
»Bun-nygh-ton?!«, presste ich zwischen meinen Lachern hervor. Das war einfach zu gut, um wahr zu sein.
»Ich finde das überhaupt nicht lustig!«, maulte Nighton im Hintergrund, doch seine Proteste verhallten im allgemeinen Gelächter. Inzwischen hatte Sir Bunnyghton den Weg zu Michael gefunden, der ihn mit einer Mischung aus Faszination und Amüsement betrachtete, bevor er den Hasen auf Augenhöhe mit Nighton hob und ihn fast ernsthaft musterte.
»Ja, doch, vor allem bei den Ohren erkenne ich eine gewisse Ähnlichkeit. Was meinst du, Azrael?«
Jason, der an der Wand lehnte, schnaubte nur. »Unverkennbar.«
»Ach, ihr seid alle so furchtbar witzig. Lacht nur! Und ihr zwei«, blaffte Nighton in Richtung Sam und Penny, »ich schwöre euch, dafür nehme ich euch beim Training so hart ran, dass ihr euch wünscht, ihr hättet-«
»Schluss mit den Drohungen«, unterbrach Michael lautstark. »Diese Kleinigkeit ist von mir und Gabriel!« Er drehte sich um, wuchtete Jason seine Holzplanke in die Hand, der völlig unvorbereitet war, und griff nach einem riesigen, verhüllten Gegenstand, den er von der Treppe herunterzog. Es sah aus wie ein seltsamer Turm – breit unten, spitz nach oben zulaufend – und war mit einem blickdichten Tuch bedeckt.
Ich wischte mir die letzten Tränen aus den Augen und fing Sir Bunnyghton unter Nightons wütendem Blick auf, als ich mich den Erzengeln näherte. Michael warf sich stolz in die Brust, als er das Tuch mit einem theatralischen »Tadaa!« wegzog.
»Ist das-«, begann ich erstaunt, doch Sam beendete meinen Satz, bevor ich es aussprechen konnte.
»-ein Schokoladenbrunnen?!«, rief er.
»Richtig, Jungengel!«, verkündete Michael mit breitem Grinsen.
Jason warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Wie bei allen sieben Höllenkreisen bist du an einen Schokoladenbrunnen gekommen?«
»Geklaut?«, mutmaßte Evelyn trocken im Hintergrund und erntete dafür einen entrüsteten Blick von Michael.
»Schande über dich und deine frechen Unterstellungen, Dämonin!«, schimpfte er gespielt empört. Dann wurde sein Blick plötzlich sanfter, fast schelmisch. Mit einem verschwörerischen Lächeln beugte sich der hochgewachsene Erzengel zu mir hinunter und flüsterte: »Gabriel und ich haben das ausprobiert, was die Menschen 'Teleshopping' nennen. Es ist wahrlich eine magische Quelle nützlicher Dinge! Erst letzte Woche habe ich etwas namens Föhnhaube bestellt – und ich habe dafür sogar in einen Kasten hineingeredet, mit dem die Menschen kommunizieren! Es war… fast übernatürlich.« Michael leuchteten förmlich die Augen, als er über seine neu entdeckte Leidenschaft sprach. Ich stand da mit offenem Mund. Teleshopping? Ein Erzengel, der Föhnhauben und Schokoladenbrunnen bestellte? Es wurde einfach immer besser.
»Gibt’s da auch Schokolade? Weil wenn nein, dann ist das Ding ziemlich nutzlos«, kam es von Evelyn, die die Arme verschränkt hatte und meinen Schokoladenbrunnen ebenso argwöhnisch beäugte wie Nighton.
Michael sah sie verwirrt an. »Schokolade? Was ist Schokolade?«
Evelyn rollte mit den Augen und stöhnte: »Oh Gott.«
Penny fühlte sich offenbar dazu berufen, Michael aufzuklären. »Schokolade ist eine Mischmasse aus Kakao und Zucker und gilt als Genussmittel. Ursprünglich haben die Spanier-«
»Penny, wirklich, sag doch einfach, dass es was zu essen ist!«, unterbrach Nighton sie genervt. Dem saß das Plüschtier wohl immer noch quer. Penny klappte den Mund zu und schickte Nighton einen düsteren Blick, der ihm allerdings völlig egal zu sein schien. Er hatte nur Augen für den missglückten Kuscheltier-Doppelgänger.
»Soso«, brummte Michael nachdenklich. »Wieder was dazugelernt. Nun, ich habe keine Schokolade dabei, aber ich bin sicher, dieser Brunnen lässt sich auch mit anderen Dingen befüllen.«
»Andere Dinge befüllen? Super, danke Michael, das ist eine prima Überleitung«, redete Evelyn dazwischen. Sie zog beide Arme in ihr sperriges Kostüm zurück, wühlte in irgendwas herum, ehe sie plötzlich etwas hervorzog und es mir schwungvoll zuwarf. Ich zuckte reflexartig zurück, um dem fliegenden Objekt zu entgehen. Es traf mich fast am Kopf. Erst als ich es auffing, erkannte ich, was es war – und mein Gesicht lief knallrot an. Schnell versuchte ich die Packung verschwinden zu lassen, doch Penny hatte es schon erkannt. Entsetzt rief sie: »Du schenkst ihr Kondome?«
»Jaha, mit Marshmallowgeschmack!«, fügte Evelyn grinsend hinzu, ohne den geringsten Anflug von Scham. Das war ja so kindisch!
»Igitt«, machte Rose angewidert. Ich, inzwischen tomatenrot, wäre am liebsten im Boden versunken. Evelyns Freude, mich zu blamieren, schien grenzenlos zu sein.
»Bei eurem Paarungsverhalten dachte ich, das könntest du am ehesten gebrauchen«, setzte Evelyn noch einen drauf und ihr Grinsen wurde so breit und fies, dass ich es kaum ertrug. Ich wollte gar nicht wissen, wie rot ich inzwischen war. Nighton allerdings blieb ruhig, und ich wartete schon darauf, dass er wie immer bei Evelyns Obszönitäten genervt stöhnen würde. Doch stattdessen hob er eine Augenbraue und entgegnete: »Evelyn, wenn du mal so viel Energie in DEIN Liebesleben stecken würdest wie in deine beschränkten Sprüche, könntest du vielleicht endlich jemanden finden, der nicht sofort schnell wegläuft.«
Evelyn hielt kurz inne, bevor sie sich zu einem fiesen Grinsen aufraffte. »Tja, was soll ich sagen, mit Tempo kennst du dich ja anscheinend aus. Wundert mich, dass die arme Jen überhaupt noch stehen kann.«
Ich riss den Mund auf, doch bevor ich den verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden unterbrechen konnte, sagte Nighton schon seelenruhig: »Keine Sorge, ich hab genau die richtige Balance gefunden – zwischen Ausdauer und Taktik. Aber danke, dass du dir so viele Gedanken machst.«
»Tja, also ich bin bei diesem Gespräch ausgestiegen«, kam es von Michael, der den beiden irritiert gelauscht hatte und offensichtlich nicht begriff, was Sache war. Und dann, natürlich, kam die Frage, die jetzt wirklich noch gefehlt hatte.
»Was sind Kondome überhaupt?«, fragte er unschuldig, während er mich erwartungsvoll ansah. Oh, das war jetzt zu viel. Ich begann verlegen zu stammeln. »Äh, das sind… die braucht man, wenn man...«
»Das sind kleine Fallschirme für Leute, die gerne ohne Plan springen«, erklärte Evelyn feixend, doch Nighton wischte ihre Worte beiseite und antwortete ernsthaft: »Damit verhindern die Menschen Schwangerschaften und übertragbare Krankheiten.« Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Michael runzelte die Stirn und sah Nighton skeptisch an. »So? Und wie benutzt man die?«
Mir schoss erneut die Röte ins Gesicht, und ich fühlte, wie mir die Worte im Hals stecken blieben. Doch bevor ich irgendetwas sagen konnte, mischte sich Jason mit stoischer Miene ein. »Das findest du am besten eines Tages selbst heraus«, sagte er emotionslos zu Michael.
»Gute Idee«, pflichtete Nighton bei, nahm mir die Packung aus der Hand und warf sie Michael zu, der sie instinktiv auffing und argwöhnisch betrachtete. Sein Blick verfinsterte sich, als er das Kleingedruckte auf der Rückseite studierte. In der nächsten Sekunde schleuderte er die Packung mit einem entrüsteten Ausdruck von sich. »Gotteslästerung!«, rief er, als würde er das Übel der Welt in seinen Händen halten.
Das brachte meine Freunde und mich zum Kichern.
Als Penny sich einigermaßen beruhigt hatte, zog sie plötzlich einen Umschlag hervor und hielt ihn mir mit einem fröhlichen Grinsen entgegen.
»Das Kuscheltier war natürlich nur ein Gag. Hier, das ist das eigentliche Geschenk.«
Vorsichtig öffnete ich den Umschlag – und mein Herz setzte kurz aus, als ich sah, was darin lag: zwei Konzertkarten für Linkin Park. »Ihr seid unglaublich!«, rief ich, restlos begeistert. Ich fiel Penny um den Hals und bedankte mich. Auch Nighton, der mich mit einem schelmischen Lächeln beobachtete, umarmte ich und wisperte ihm meinen Dank ins Ohr. Er hatte ja schließlich keine 'Rechnung zu begleichen' gehabt – er hatte nur überprüft, wie weit die anderen mit der Vorbereitung waren.
»Es gibt natürlich auch was zu essen!«, plapperte Penny dazwischen und schob mich energisch in einen ebenfalls festlich geschmückten Nebenraum. Der Raum wirkte fast königlich mit dem edel gedeckten Tisch: eine Schale mit selbstgebackenen Scones, eine Schüssel voller tiefroter Fruchtbowle, und ein Kuchen, der so merkwürdig eingefallen war, dass ich ihn erst nicht als solchen erkannte. Die Stühle, die um den Tisch verteilt standen, hatten rote Samtbezüge, die so unberührt aussahen, als säße hier nie jemand. Der beeindruckende Kerzenleuchter über dem Tisch tauchte den Raum in ein warmes Licht, und an den Wänden hingen Portraits, die Landschaften aus Ober- und Unterstadt zeigten. Bei genauerem Hinsehen fragte ich mich, wo die Schüler und Lehrer des Internats sich wohl verkrochen hatten. Vielleicht hatten sie sich absichtlich von diesem Spektakel ferngehalten?
»Vorsicht bei dem Kuchen, der ist von Nighton«, warnte Evelyn mich grinsend. Ich sah sofort zu Nighton, der in diesem Moment versuchte, sich unsichtbar zu machen.
»Moment, was?!«, fragte ich ungläubig und starrte ihn an, als hätte er mir gerade verkündet, er sei heimlich Bäcker.
Nighton sah meinen entgeisterten Blick und wand sich unbehaglich auf dem Stuhl, während seine Ohren ein wenig rot anliefen. »Schau nicht so, Penny hat mich gezwungen«, knurrte er gereizt und versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen. Unglaublich! Hätte mir jemand vor einem halben Jahr gesagt, dass Nighton jemals für mich backen würde, ich hätte lauthals gelacht! Aber das hätte ich ja bekanntlich bei vielen Dingen getan.
»Ich wusste gar nicht, dass man dich zu etwas zwingen kann«, stichelte ich spielerisch, woraufhin ich einen missmutigen Blick erntete.
»Dann backe ich halt nie wieder für dich«, murmelte Nighton beleidigt in seinen Bart, wie ein trotziges Kind.
»Och«, machte ich gespielt mitleidig, lief um den Tisch herum und beugte mich zu ihm, um ihn liebevoll von hinten zu umarmen. Meine Arme legte ich fest um seinen Hals, und ich spürte, wie er kurz knurrte, obwohl ich wusste, dass er insgeheim lächelte.
»Hebt euch das für später auf«, sagte Evelyn. »Wir kriegen schon genug von euren Liebeleien mit, das müssen wir nicht auch noch sehen!« Sie befüllte sich dabei demonstrativ einen Plastikbecher mit Bowle.
Grinsend erwiderte ich: »Das sagt ja genau die Richtige.«
Da räusperte sich Michael vernehmlich und verkündete: »Nun, nimm es mir und Azrael nicht krumm, Jennifer Ascot, aber unsere Wenigkeiten werden in Oberstadt verlangt. Wir wünschen dir aber dennoch einen erfüllenden Abend inmitten deiner...« Er hielt plötzlich überrascht inne, denn ich war aufgesprungen und hatte ihn einfach umarmt. Der Erzengel hatte das nicht erwartet, das sah ich an seinem ungläubigen Blick. Für einen Moment wirkte er, als wüsste er nicht, was er mit dieser Zuneigung anfangen sollte, bevor er unbeholfen den Rücken tätschelte.
»Ist ja gut«, brummte er schließlich sanft, und da war sie wieder, diese väterliche Wärme, die ich manchmal bei ihm spürte.
Ich ließ ihn los, lächelte dankbar zu ihm hoch und wandte mich dann Jason zu. Doch bevor ich die Arme auch nur anheben konnte, griff er nach meiner Hand und drückte mir ganz nach alter Etikette einen sanften Kuss auf den Handrücken.
»Es war mir eine Freude. Auf dass die dunklen Wolken etwas weichen«, sagte er und lächelte mich an. Und bei diesen Worten konnte ich nicht anders, als ebenfalls breit zu lächeln.
»Danke, Jason.«
Bevor sie sich endgültig zum Gehen wandten, fiel mir ein Detail auf, das mich stutzen ließ. »Moment mal«, sagte ich und schaute Michael an. »Wegen Oberstadt... ich dachte, das gehört alles zur Überraschung?« Fragend wanderte mein Blick zwischen den beiden Erzengeln hin und her.
Jason schüttelte leicht den Kopf, und Michael fügte mit einem Lächeln hinzu: »Nein, wir müssen tatsächlich dorthin, um uns die neuen Rekruten anzuschauen. Es gibt einiges zu tun. Zum Glück ist Azrael zu uns gestoßen, so sollte es leichter für uns werden.«
Jason verzog keine Miene bei diesen Worten. Ich hingegen blinzelte überrascht, aber eher wegen Michaels vorherigen Worten. »Also war das mit den geretteten Engeln und Dämonen ernst gemeint? Ihr wollt welche ins Team holen?«
Michael nickte. Kurz dachte ich nach, dann bat ich: »Grüßt Gil von mir. Den Dämon mit-«
»-dem unsagbar großen Organ, ja, ich weiß, wer er ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, ihr seid verschwistert«, witzelte Michael. Darauf fiel mir nichts ein, also zog ich nur eine Grimasse. Damit rückten die beiden Erzengel ab.
So ging der Tag mit meinen Freunden weiter. Die Stimmung war so ausgelassen und herzlich, wie ich es noch nie in dieser Konstellation erlebt hatte. Wir verbrachten den kompletten Mittag und Nachmittag im noblen Esszimmer, das so geschmückt war, als würden wir hier regelmäßig Bankette abhalten – was ganz sicher nicht der Fall war. Ich saß die meiste Zeit an Nighton gelehnt auf zwei zusammengeschobenen Stühlen, die Beine angezogen, während ich mit Sam und Penny witzelte. Nighton, wie üblich, war nur hin und wieder mit einem flapsigen Kommentar dabei, und Evelyn verbrachte die Zeit damit, kaugummikauend auf ihrem Handy herumzutippen. Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr.
Der Abend wurde noch lustiger, als ich versuchte, den Kuchen anzuschneiden, den Nighton höchstpersönlich gebacken hatte. Doch das erwies sich als nahezu unmöglich – das Ding war so hart, dass ich das Messer kaum durch die Kruste bekam. Alle, außer Nighton natürlich, brachen in Gelächter aus. Genervt schnappte er sich schließlich das Messer aus meiner Hand und setzte es an.
Mit einem entschlossenen Ruck zerteilte er nicht nur den Kuchen, sondern auch das Brett darunter. Ein Wunder, dass der Tisch nichts abbekam.
»Schlechte Verarbeitung«, brummte Nighton und warf dem zerbrochenen Brett einen verächtlichen Blick zu. Ich musste lachen, doch mein Blick glitt wieder zum Kuchen – der sah immer noch aus wie ein Ziegelstein. Und nicht nur ich war skeptisch.
»Den esse ich nicht!«, rief Evelyn entsetzt, während Sam mit einem unsicheren Blick ebenfalls ablehnte.
Nighton, der offensichtlich genug von der Kritik hatte, war der Erste, der sich opferte. »Bisschen knusprig, aber geschmacklich okay«, murmelte er zwischen stark knusprigen Kau-Geräuschen.
Penny und ich wagten uns ebenfalls daran – und sofort bereute ich es. Der Kuchen war so hart, dass ich ihn kaum durchbeißen konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich Steine im Mund. Geschmack? Kaum vorhanden. Dennoch zwang ich mir ein Lächeln auf und quetschte ein Lob hervor.
»Wirklich... äh... lecker«, lobte ich mit aller Mühe. Nighton war nicht dumm – er wusste, dass ich log. Aber mit einem schiefen Grinsen winkte er ab.
»Schon gut«, sagte er großzügig und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Ich bin eben zu Größerem berufen.«
Da musste ich ihm ausnahmsweise Recht geben.