Breitbeinig dastehend drehte ich mich zu allen Seiten, den Stock mit beiden Händen fest umklammernd und ihn den Ghulen entgegenstreckend. Wenn sie mich schon fressen wollten, würde ich wenigstens nicht kampflos aufgeben!
Ich hatte schon zu einem wilden Schwung angesetzt, da fuhr Unruhe in meine Widersacher. Plötzlich begannen sie, wild durcheinander zu wuseln und Brüllgeräusche auszustoßen. Verwirrt hielt ich mit erhobenem Schlagstock inne. Was war denn nun los?
Mit hyänenartigen Lauten huschten die vier Wesen zu allen Seiten und waren bald in der Nacht verschwunden. Zuerst konnte ich es kaum glauben, dann aber ließ ich zufrieden die Waffe sinken und rief ein lautes »Ha!« in die Dunkelheit. Selbstsicher tat ich ein paar Schritte und blieb mitten auf der Straße stehen. Mit dem Stock gestikulierend rief ich hinter den feigen Viechern her: »Ja, gute Entscheidung, vor mir wegzulaufen! Ich bin nämlich stärker als ich aussehe und hätte euch-«
»Eigentlich war ich das.«
»AH!«
Ich schrie vor Schreck auf. Mein Herz rutschte mir in derselben Sekunde in die Hose und ich wirbelte herum, wobei ich instinktiv mit dem Schlagstock ausholte. Beinahe hätte ich die aus dem Nichts hinter mir aufgetauchte Person erwischt, wäre die nicht ausgewichen.
Als ich den Jemand im selben Augenblick erkannte, schnappte ich nach Luft. »SAM?!«
Und tatsächlich. Vor mir, in einem Star Trek-T-Shirt, roter Sweatjacke und dunkelblauer Jogginghose, stand Sam, die Augen geweitet und die Hände abwehrend in meine Richtung gestreckt.
»Vorsicht mit dem Ding, die können echt wehtun!«, rief er mit besorgter Stimme und deutete auf den Teleskopstock.
Obwohl mir der Schreck noch im Nacken saß und ich nicht ganz verstand, wo Sam auf einmal herkam, spürte ich Glück in mir aufwallen. Sofort ließ ich die Waffe sinken, überwand den Abstand zwischen mir und Sam und schloss ihn in die Arme. Mein Freund aus besseren Zeiten erwiderte die Umarmung, allerdings eher zögernd. Doch so rasch, wie ich ihn an mich gepresst hatte, schob ich ihn wieder von mir. Hier stimmte etwas nicht. Erst die Ghule und nun Sam? An einem Abend?
»Was machst du hier?«, platzte es aus mir hervor, ehe ich einer Eingebung folgend die Nase krauszog.
»Du bist mir doch nicht etwa gefolgt, oder?«
Sam öffnete schon den Mund, aber ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Stattdessen fragte ich, links und rechts an ihm vorbeisehend, hoffnungsvoll nach Penny und Evelyn. Immerhin hatte ich seit meiner Rückkehr Mitte Juli keinen übernatürlichen Fitzel gesehen, von niemandem. Und je mehr Tage verstrichen waren, desto weniger hatte ich noch damit gerechnet, dass sich einer von meinen richtigen Freunden bei mir blicken lassen würde.
Doch Sam schüttelte bei meiner Frage nur den Kopf und antwortete ausweichend: »Ich bin allein hier.« Aus irgendeinem Grund wirkte er nervös. Wegen der Ghule?
Kurz musterte ich ihn. Mein Glücksgefühl schwand abrupt, denn ihn zu betrachten erinnerte mich an so Vieles, an das ich eigentlich nicht denken wollte. Außerdem ergab sein Auftauchen keinen Sinn. Was tat er hier, bei mir, in dieser gottverlassenen Wohnsiedlung? Das konnte doch kein Zufall sein!
Misstrauen gepaart mit Unverständnis nahmen den Platz des eben noch vorherrschenden Glücksgefühls ein. Also wiederholte ich, die Hände in die Seiten stemmend: »Was machst du hier, Sam?«
Er schob nervös dreinblickend die Brille auf seinem Nasenrücken etwas hoch und hob die Hände an.
»Das sage ich nur, wenn du versprichst, mich danach nicht mit dem Ding da zu verprügeln.« Er deutete auf den Schlagstock. Ich hob eine Augenbraue an und schnaubte.
»Ist ja nicht so, als ob ich ein Mensch wäre und gegen dich keine Chance hätte, aber gut«, erwiderte ich stirnrunzelnd und ein bisschen zynisch, versprach es dann aber doch, als Sam einen Mundwinkel nach unten zog und mich ganz komisch ansah. Er holte tief Luft, ehe er zu sprechen begann.
»Also ich – ich habe ein Auge auf dich. Manchmal. Äh, immer. Naja, also ich versuche es. Ich bin nicht gut darin, wie du bestimmt eben gemerkt hast, aber aller Anfang ist schwer, oder?« Er lachte unbeholfen, während ich nun noch misstrauischer die Augen verengte. Sams Erklärung gefiel mir ganz und gar nicht. Ich konnte spüren, dass ich sauer wurde, denn ich verstand gerade nichts. Fast gereizt fuhr ich Sam an: »Was soll das heißen, du passt auf mich auf? Seit wann? Und wieso?«
Der Wind schwoll wieder an und ließ die Blätter in den Bäumen rascheln. Sam sah über meinen Kopf hinweg und blickte zu allen Seiten, als würde er vermuten, belauscht zu werden. Oder aber er schindete Zeit. Erst, als ich ihm meinen Handrücken gegen den Arm klatschte und ihn auffordernd anblickte, räusperte er sich. Er wirkte beunruhigt, fast schon ein wenig gehetzt. Lag es an den Wesen von eben? Oder doch an dem Thema?
Sich windend fragte er mich: »Müssen wir das auf einer Straße klären? Ja, schon gut!«
Ich hatte mitten in seiner Frage den Schlagstock umklammert, was ihn wohl dazu verleitet hatte, umzuschwenken. Zwar hatte ich nicht vor, Sam damit zu hauen, aber er schien zu glauben, dass ich es tun würde, und diesen Umstand würde ich ausnutzen, wenn es sein musste.
Er hob erneut beschwichtigend die Hände an und erklärte: »Ich bin dein temporärer Wächter. So was Ähnliches jedenfalls, also glaube ich, ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Ich passe auf, dass dir nichts passiert. Und das mit den Ghulen war absolut nicht geplant, glaub mir! Ich wollte mir nur einmal einen freien Abend machen, weil es so anstrengend ist, andauernd unter deinem Fenster zu stehen – jetzt hör auf, dieses Teil nach mir zu schwingen, ich will mit dir nicht darum ringen müssen!«
Bei der Beschreibung seiner täglichen Aktivitäten war mir der Kragen geplatzt.
»Was?! Du hast wohl einen Komplettschaden! Wer hat dir erlaubt, unter meinem Fenster zu stehen?«, schimpfte ich los, doch Sams folgende Worte brachten mich schlagartig dazu, innezuhalten und ihn aus aufgerissenen Augen anzustarren: »Nighton hat‘s befohlen! Bitte nicht schlagen!«
...
Nighton hatte … was?
»Du verarschst mich!«, stieß ich entgeistert hervor und ließ den Schlagstock sinken.
Sam jammerte: »Ich wünschte, es wäre so! Dann könnte ich nämlich die neue Pokémon-Edition in Ruhe zocken oder die Kataklysmus-Schlachtzüge in WoW durchrennen, aber nein, ich muss dir folgen! Den ganzen beschissenen Tag, ja, genau, da guckst du, mich hat man auch nicht gefragt! Und dann schaue ich einmal nicht hin und du wirst fast – oh, er köpft mich!«
Sein Klagen ignorierend schüttelte ich den Kopf. Mir wollte das nicht in den Kopf.
»Aber wieso sollst du auf mich aufpassen? Ich bin doch nur ein Mensch! Was will er denn noch von mir? Und wieso macht er das nicht selbst? Ist sich wohl zu fein geworden!«
Sam ächzte auf und schlug sich mit einer Hand gegen die Stirn. »Und das fragst du mich«, grunzte er mehr zu sich selbst, ehe er mir antwortete: »Er ist neuerdings ein super-wichtiger Yindarin, der hat eben keine Zeit mehr, Babysitter für dich zu spielen.«
Dafür warf ich Sam einen tödlichen Blick zu, zeigte mit dem Stock auf ihn und zischte: »Du kannst dem super-wichtigen Yindarin sagen, dass er am nächsten Straßenrand verrecken kann! Ich hoffe, da überfährt ihn noch einer und verteilt seine hässliche Visage auf der Straße, damit die Löwen und Tiger ihn fressen können! Und WEHE dir, da kommt jetzt irgendein Kommentar, dass es in diesen Breitenkreisen keine freilaufenden Löwen und Tiger gibt!«
Damit verkürzte ich den Schlagstock und stampfte an Sam vorbei, immer der Straße folgend. Dabei hörte ich Sam leidig etwas in seinen nichtvorhandenen Bart murmeln, was ganz gefährlich nach »Er hat nichts davon gesagt, wie anstrengend das sein kann« klang.
Ich wirbelte sofort zu Sam herum, als ich seine Worte vernahm. Oh nein, nein, nein, ich hatte mich doch hoffentlich verhört.
»Wie war das?«, fauchte ich.
»Nichts, nichts!«, beeilte Sam sich zu sagen. Aufgebracht drehte ich mich wieder um und lief weiter, weg von Sam. Ich war wütend und verwirrt und irgendwie auch besorgt, da ich die anderthalb ereignislosesten Monate meines Lebens verlebt hatte, und dann änderte sich das alles wieder rapide an einem einzigen Abend. Es war ein Fehler gewesen, hergekommen zu sein. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.
Aber Sam schien nicht gewillt zu sein, mich gehen zu lassen. Er rannte mir hinterher und rief: »Ich sage es ihm ja, aber warte! Wohin willst du? Du kannst nicht allein durch die Dunkelheit gehen! Die Ghule sind immer noch hier draußen. Ich habe sie nur kurz vertrieben, du musst bei mir bleiben.«
Sam schloss zu mir auf und sah sich wachsam um. Mit seiner neuen Rolle ging er mir gehörig auf die Nerven, was ich auch durchblicken ließ.
»Außer sterben muss ich hier gar nichts. Ich rufe mir ein Taxi und fahre heim. Und du wirst mich nicht davon abhalten, versuche es nicht mal!«
Sam schien da anderer Ansicht zu sein. Das bewies er mir auch postwendend, indem er mir von hinten unter den Achseln durchfasste und dann mit einem Rauschen seine gigantischen Flügel zu den Seiten entfaltete. Dann hob er einfach so ab und zog mich mit sich in die Luft.
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich schrie vor Panik auf, als meine Füße die Bodenhaftung verloren. Die Straße und die Bäume sowie die dunkle Wohnsiedlung wurden rasant kleiner.
»Lass mich sofort wieder runter!«, brüllte ich gegen den Wind und strampelte ein paar Mal, erfüllt von Wut und der Angst, Sam könnte mich fallenlassen. Der antwortete nicht, sondern bewegte sich mit energischen Flügelschlägen durch die Nacht, mich eisern festhaltend.
Der unfreiwillige Flug dauerte nicht mal fünf Minuten. Bald tauchten der Hyde Park und direkt darauf die Bayswater Road auf und ich konnte mein Zuhause erkennen. Inzwischen klapperten mir die Zähne, da Sam sehr hoch flog.
Er setzte zum Landeanflug an, doch anstatt mich auf dem Gehweg neben der Hauptstraße abzusetzen, landete er mit mir auf dem Dach. Erst da ließ er mich los. Ich ging in die Knie und hielt mich an einem Schornstein fest. Mein Herz wummerte. Ärgerlich schaute ich hoch zu Sam, der sich die Oberarme massierte und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Hey, Genie! Und jetzt? Wie soll ich vom Dach runterkommen? Soll ich vielleicht selbst fliegen?!«
Ich gab mir nicht die leiseste Mühe, nett zu sein. Sam hatte mich zwar vor den Ghulen gerettet, wofür ich dankbar sein sollte, doch das gelang mir gerade nicht. Er hatte mit seinem Auftauchen und seinen Aussagen zu Nighton meinen Abend nämlich restlos ruiniert und war nämlich dabei, alte Wunden aufzureißen, die ich notdürftig selbst geflickt hatte. Ein Teil von mir wollte Nighton nie mehr wiedersehen, weil er mich belogen und verraten und meine Familie in Gefahr gebracht hatte, doch der andere, fast genauso große Teil sehnte sich mit aller Macht nach ihm und würde alles in Kauf nehmen, damit er wiederkäme. Doch ich war zu stolz und zu wütend, um das zuzugeben. Nein, nein, er sollte bloß wegbleiben! Das wäre für uns alle besser. … Oder?
Sam schaute betreten drein und verkündete, gleich wieder da zu sein. Ich blinzelte nur einmal und dann war er schon weg. Gereizt warf ich die Arme in die Luft und riskierte dafür meinen sicheren Stand. Beinahe wäre ich abgerutscht. Vorsichtig sank ich in die Knie und presste meine Wange gegen den Backstein des Kamins. Durch meinen Kopf schossen die Gedanken wie Projektile umher. Ich war nicht im Stande, sie zu sortieren und einen von ihnen herauszupicken, dafür war ich heute Abend zu viel Bowle und Sinneseindrücken ausgesetzt.
Was das wohl alles zu bedeuten hatte? Sechs Wochen Stille von allem Übernatürlichem und jetzt das.
Indem er sich an der Regenrinne hochhievte und mich zu sich winkte, beendete Sam jäh das Gedankenfeuerwerk in meinem Kopf. Ich ließ den Schonstein los und kroch auf Sam zu, der mich zu sich heranzog, ehe er seine Schwingen entfaltete und mit mir gemeinsam vom Dach fiel. Ich kniff die Augen zusammen, als sich das eklige Gefühl des freien Falls in meinem Magen breitmachte.
Sam hielt sich an einem Mauervorsprung fest und half mir, durch mein Fenster zu klettern. Ich gab mir Mühe, leise zu sein, um niemanden zu wecken.
Sobald ich sicher auf dem Parkettboden meines Zimmers stand, trat ich zurück ans Fenster und schaute nach unten zu Sam, der sich am Fensterbrett festhielt und aus seinen braunen Augen zu mir aufsah. Er wirkte unglücklich.
»Wir hätten auch einfach die Haustür benutzen können«, murrte ich und zog meine Jeansjacke aus.
»Besser nicht«, entgegnete Sam leise und warf einen kurzen Blick auf die Straße unter sich. »Ghule folgen Gerüchen, und wenn sie dich nicht finden, falls sie dich überhaupt suchen, geben sie für diese Nacht Ruhe. So haben wir morgen Nacht Zeit, sie aufzuspüren und zu töten.«
Ich legte den Kopf schief. »Wer ist wir?«
Sam stöhnte auf und lehnte seine Stirn an den Kunststoffrahmen des Fensters. Da er nicht so groß wie der super-tolle Yindarin war, konnte er seine Arme nicht einfach auf den Rahmen legen und in mein Zimmer schauen.
»Ich rede zu viel«, kam es von unten.
Seine Worte schürten meine Wut.
»Ach, eigentlich will ich es gar nicht wissen, wenn ich so drüber nachdenke. Hör auf, mich zu beschatten! Ich brauche keinen Beschützer und ich will auch keinen. Richte das deinem – deinem Boss aus, oder was er auch immer jetzt für dich ist. Oh, ach ja, und falls er fragt, nein, ich will ihn nicht sehen! Er soll gefälligst da bleiben, wo der beschissene Pfeffer wächst!«, forderte ich von Sam und wollte das Fenster schließen, aber er räusperte sich ein letztes Mal.
»Das kann ich dir nicht versprechen. Ich werde ihm einiges erklären müssen zu heute Abend. Immerhin sind dir Ghule gefolgt, was nicht hätte passieren dürfen. Du bist ja jetzt ein Mensch und eigentlich sollten sie sich nicht für dich interessieren.«
»Tja«, knurrte ich. »Scheint wohl, als hätte ich immer noch einen Fanclub unter den unbeseelten Dämonen.«
Kurz schwieg Sam, dann setzte er einen traurigen Ausdruck auf und murmelte: »Wir alle vermissen dich sehr, Jen.«
Für einen Augenblick vergaß ich meinen Ärger und spürte Traurigkeit in mir aufkeimen. Doch mein Freund aus Yindarinzeiten ließ mir keine Chance, zu reagieren, denn er lauschte kurz und eröffnete mir dann, dass er meinen Vater den Gang entlangkommen hörte. Damit stieß er sich vom Fenster ab und ließ sich nach unten fallen.
Ich hingegen machte einen Hechtsprung in mein Bett und riss mir die Decke über den Kopf. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte.
Mein Dad öffnete ganz vorsichtig die Zimmertür. Ein einzelner Lichtstreifen erhellte die Wand über mir und ich hörte, wie er näher geschlichen kam.
Ich tat, als ob ich schlafen würde. Also zog mein Dad sich ebenso leise wie er eingetreten war zurück und machte die Zimmertür zu.
Ich atmete tief durch und wartete, bis seine Schritte auf dem Flur verklungen waren. Erst dann schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf, um mich des Kleides zu entledigen, das ich achtlos auf meinen Schreibtischstuhl warf. Schnell schlüpfte ich in meinen Pyjama und besah mir anschließend die blutig verkrusteten Wunden an meinen Knien, meinen Handballen und an meinem Schlüsselbein. Weh taten sie nicht mehr. Aber die am Schlüsselbein entstellte mich ziemlich. Missmutig betastete ich die daumennagelgroße Wunde vor dem Spiegel. Das würde mich morgen in Erklärungsnot bringen.
Es war etwa viertel vor eins, als ich das Deckenlicht ausknipste und in mein Bett schlüpfte. Nur schlafen konnte ich nicht. Andauernd waberte ein gewisses Gesicht durch meinen Kopf und ich versuchte, es zu verdrängen. Das war jedoch leider unglaublich schwer.
Und so wurde es später und später, und als ich einschlief, dämmerte es bereits.