Anderthalb Wochen waren vergangen, seit Nighton und ich an diesem Krisengipfel teilgenommen hatten. Seitdem war überall eine bizzare Gelassenheit eingekehrt, die sich wie die große Ruhe vor einem Sturm anfühlte. Das machte mich nervös. Wir wussten nie, wann die Zwillinge oder sonst wer wieder zuschlagen würden. Jeder Tag könnte mein letzter sein, und das mit einer gewissen Normalität zu ertragen, glaubt mir, das kann echt stressen. Doch seltsamerweise stellte sich so etwas wie Alltag ein. Ein merkwürdiger, fast langweiliger Alltag. Wer hätte gedacht, dass ich das mal sagen würde?
Jeden Tag ging ich brav zur Schule, hielt mich aus Ärger raus, erledigte meine Hausaufgaben und lernte für anstehende Klausuren. Ich telefonierte regelmäßig mit Anna und Tommy und beschloss sogar, meinen Dad in Suncliff zu besuchen. Das würde allerdings der letzte Besuch für eine Weile sein, wie ich mir anschließend schwor. Schon vor der Begegnung hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, weil ich nicht wusste, was mich erwartete. Suncliff – allein der Name klang für mich nach endlosen weißen Fluren und nervenaufreibender Stille.
Vielleicht hatte ich auch einfach zu viele Horrorfilme geschaut oder zu viele Dokus über Irrenanstalten gesehen. Aber der Gedanke daran, eine psychiatrische Klinik zu betreten, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Zum Glück war Nighton mitgekommen. Ohne ihn wäre ich vermutlich rückwärts aus dem Foyer gelaufen, noch bevor ich den Blick auf die Barrington Bay richtig genießen konnte. Seine bloße Anwesenheit reichte aus, um mich davon abzuhalten, in Panik zu geraten. Während er mit verschränkten Armen neben mir stand, war er die Ruhe in Person – das Gegenteil von dem Chaos, das in mir tobte.
Mein Dad hatte ein eigenes, lichtdurchflutetes Zimmer am Ende eines langen Gangs. Entgegen meinen Erwartungen gab es in Suncliff keine dreckigen, schummrigen Flure, in denen alte Rollstühle standen, und auch keine flackernden Neonröhren an der Decke. Im Gegenteil, die Klinik war ordentlich, modern, und die Pfleger und Ärzte schienen wirklich nett zu sein. Der Einzige, der an diesem sonnigen Winternachmittag nicht nett zu mir war, war mein Dad.
Nighton und ich hatten beschlossen, dass es besser wäre, wenn ich allein reinginge. Er setzte sich im Wartezimmer vor der Station hin und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, bevor er sich ans Ohr tippte – sein Zeichen, dass er mich hören konnte, egal was passiert. Ein beruhigender Gedanke, aber trotzdem klopfte mein Herz, als ich dem Pfleger durch die große weiße Tür folgte, die man nur mit einer Karte öffnen konnte. Der Weg durch den Flur fühlte sich endlos an. Ich spürte die Blicke der anderen Patienten auf mir, neugierig, misstrauisch, als wäre ich ein Eindringling in ihrer Welt. Ich versuchte, keinen Blick zu erwidern, und fixierte den Boden.
Als wir das Zimmer meines Vaters erreichten, sah ich ihn auf einem niedrigen Hocker vor einer Wand sitzen. Er kritzelte mit einem zerbissenen Bleistift wirres Zeug auf die Wand – unleserliche, kryptische Zeichen, doch immer wieder stach ein Wort heraus: 'Yindarin'. Ein Satz fiel mir ins Auge: »Kuckucksei, Kuckuckskind, vom Himmel oder aus der Hölle?« Dazwischen Dämonenzeichnungen und Absätze aus einem seiner alten Thriller. Der Pfleger hatte mir vorhin erklärt, dass Dad seit seinem überwachten Alkoholentzug unter einer schweren Psychose litt. Jeden Tag saß er vor diesen Wänden und füllte sie mit seinem Wahn. Aber zu sehen, wie er da saß und vor sich hinmurmelte, war... anders. Es war schockierend. Ein Gefühl von Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu, und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Insgeheim gab ich mir die Schuld an seinem Zustand.
Äußerlich sah er aus wie immer – grauer Hausmantel, Schlappen, Pollunder, Hemd und Cordhose, genau wie zu Hause. Aber seine Augen... sie erzählten eine andere Geschichte. Sie waren leer, kalt, ohne die väterliche Wärme, die er mir früher immer entgegengebracht hatte. Ich setzte mich langsam neben ihn, aber er nahm mich nicht wahr, murmelte und kicherte nur vor sich hin. Erst als ich ihm die Hand auf die Schulter legte, stockte er und drehte den Kopf zu mir.
Doch was ich in seinen Augen sah, war kein Wiedererkennen. Es war ein gefährliches, seltsames Funkeln. Plötzlich riss er den Arm hoch, den Stift fest umklammert, und ich erstarrte. Für einen kurzen Moment konnte ich mich nicht rühren, doch dann griff mein Dad mich an. Alles ging viel zu schnell. Der Pfleger reagierte innerhalb eines Wimpernschlags und warf sich auf meinen Vater, bevor der Stift mich verletzen konnte.
Mit einem Aufschrei fiel ich nach hinten und kroch hastig auf allen Vieren vom Bett weg, während der Pfleger meinen Vater zu Boden rang. Ein schriller Alarm ertönte, und nur Sekunden später stürmte ein ganzes Team von Pflegern und ein Arzt ins Zimmer, ein Bett mit Gurten im Schlepptau. Eine blonde Frau – offenbar die Psychologin – packte mich sanft und führte mich hinaus, wo ich sofort mit Nighton zusammenstieß. Noch bevor ich wusste, was ich tat, klammerte ich mich an ihn fest, unfähig, ein Wort zu sagen. Zusammen verließen wir die Station, während die Schreie meines Vaters durch den Flur hallten und mir in den Ohren nachklangen.
Es war furchtbar.
Nighton brachte mich direkt zurück in die Kirche, wo ich einen kleinen mentalen Zusammenbruch erlitt. Den stand ich nur durch, weil er nicht von meiner Seite wich und beruhigend auf mich einredete.
Tja. Das war das erste und einzige Mal, dass ich meinen Vater besuchte. Und als wäre das nicht genug, klopfte am Donnerstag derselben Woche plötzlich das Jugendamt bei Thomas an. In all den Jahren, die ich mit meinen Geschwistern und Dad zusammengelebt hatte, war das nie passiert.
Aber nun hatten sie Wind davon bekommen, wie es bei uns wirklich aussah, und wollten herausfinden, was aus Anna werden sollte. Da Anna adoptiert war, hatte das Jugendamt eine besondere Fürsorgepflicht für sie – zumindest hatte Thomas das so erklärt, als wir telefonierten. Seltsam erschien mir das trotzdem. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich doch auch nicht für Anna interessiert!
Plötzlich fragte ich mich zum ersten Mal, wie Dad es überhaupt geschafft hatte, ein Kind aus einem Waisenhaus zu adoptieren – und das trotz seiner Probleme. Es war, als hätte keiner der Sozialarbeiter bemerkt, dass Dad Alkoholiker war. Hatte er ihnen etwas vorgespielt, oder waren sie einfach nie ihren Aufgaben nachgekommen?
Thomas hatte jetzt vor, die Vormundschaft für Anna zu übernehmen. Er hatte sein Studium abgeschlossen und arbeitete in einer Videospiel-Firma. Mit seinem geregelten Leben standen die Chancen gut, dass das Jugendamt zustimmen würde. Meine Verhältnisse waren viel zu unbeständig, ganz zu schweigen von den Risiken, die ein Leben in meiner Nähe mit sich brachte – vor allem für ein Kind. Thomas versprach, mich über alles auf dem Laufenden zu halten, aber die Sorge um Anna nagte an mir. Was, wenn man sie uns wegnehmen würde? Sie gehörte doch zu uns!
Zwischen all dem Durcheinander gab es aber auch einen Lichtblick: Gil stieß zu uns. Na ja, gut wäre übertrieben - aber er sorgte für Ablenkung. Ich wusste noch immer nicht so ganz, was ich von diesem eigenwilligen Dämon halten sollte, der am nächsten Tag vor uns stand, einen Seesack über der Schulter und gekleidet in einen knielangen Rock, eine abgedrehte Boho-Jacke und einen Kaschmirpullover. Man hätte meinen können, er wäre einer Witzshow entflohen. Aber als Gil dann mitten in der Kirche ankam und sich eine Kippe anzündete, war ich die Einzige, die sich zuerst wieder fing. Sam und Evelyn starrten ihn noch an, als ich schon von der Couch aufstand und ihn zur Begrüßung umarmte.
Natürlich konnte er sich einen Spruch nicht verkneifen – irgendwas über meinen Zustand, und wie ich wohl ohne ihn am Leben geblieben sei. Ich verdrehte nur die Augen und ließ es unkommentiert.
Nighton nickte ihm wohlwollend zu, Jason begrüßte ihn in gewohnter Höflichkeit und Melvyn dagegen würdigte ihn mit keiner Miene, ganz als wäre Gil einfach nur eine Staubwolke im Raum. Penny, die als Einzige nicht von seinem Aufzug befremdet zu sein schien, kam sofort mit ihm ins Gespräch. Gil blühte bei ihr natürlich gleich auf und ließ sich nur zu gern durch die Kirche führen. Ich grinste in mich hinein, während Sam und Evelyn Blicke tauschten. »Was ist das denn für einer?«, hörte ich Evelyn tuscheln, woraufhin Nighton sie nüchtern informierte, dass Gil Teil von unserem Team sein würde.
Weniger begeistert war ich über unseren anderen Neuzugang: Eloria. Auch heute noch fällt es mir schwer, meine Abneigung von damals gegen sie in Worte zu fassen. Vielleicht war es meine Menschenkenntnis, vielleicht auch nur mein Bauchgefühl – jedenfalls fühlte sich an ihr irgendwas falsch an. Sie war nicht gemein oder herablassend oder so, nein, nein, aber... keine Ahnung. Vielleicht lag es an ihrem Alter. Immerhin war sie über tausend Jahre alt. Vermutlich erlaubte einem das eine gewisse… Überlegenheit? Aber die Erzengel waren ja eigentlich noch älter, und die waren nicht so komisch... zumindest nicht alle. Und trotzdem kam Eloria nicht so richtig bei uns an, weder bei mir noch bei meinen Freunden. Mag sein, dass es daran lag, dass sie zu dem Zeitpunkt erst eine Woche bei uns war, oder aber… daran, dass sie in Nightons Nähe oft ein wenig zu freundlich wirkte.
Ich hatte es mehr als einmal gesehen – ein kurzes Berühren seines Arms, ein charmantes Lächeln, das für meinen Geschmack viel zu lange dauerte, oder diese kleinen Bemerkungen über 'Sterbliche', die sie dann mit einem Seitenblick in meine Richtung garnierte. Ich weiß nicht, ob Nighton das überhaupt bemerkt hat, aber jedes Mal, wenn sie sich an ihn wandte, sprudelte mir das Blut. Ich konnte mir nur vorstellen, wie das für sie sein musste – uralt, weise und dann noch mit Nighton konfrontiert, der Yindarin, der mit ihr auf die Jagd ging, was immer das hieß, und ihr sogar ein wenig Respekt zeigte, was bei ihm eine Seltenheit war.
Wirklich sicher fühlte ich mich nicht, wenn Eloria in der Nähe war. Immer wieder erwischte ich sie dabei, wie sie mich musterte – nicht feindselig, aber zu forsch für meinen Geschmack. Ich erzählte Nighton davon, der nur brummte, dass ihm das auch schon aufgefallen sei. Doch als er sie beiläufig darauf ansprach, lächelte Eloria und meinte, sie sei fasziniert von mir. »Was du aushältst, wie du die Dinge hinnimmst… das ist bemerkenswert«, waren ihre Worte gewesen.
Nighton wirkte damit zufriedengestellt und ich versuchte, das Thema aus meinem Kopf zu verbannen. Trotzdem blieb ein nagendes Gefühl, das ich einfach nicht loswurde – ein leises, kribbelndes Misstrauen.
In dieser ersten Woche wich Nighton so gut wie nie von meiner Seite. Und wenn er es dann doch tat, dann nur, um mich in die Obhut meiner Freunde zu geben – meistens Jason oder, zu meinem Leidwesen, auch mal Eloria. Unser Verhältnis wurde von Tag zu Tag intensiver, als hätte ich das nicht schon längst gespürt. Er gab mir so viel Kraft, auf eine Art, wie ich sie in niemand anderem fand. Ohne ihn, sowohl als Freund, der mir zuhörte, als auch als den, den ich liebte… ich mag mir nicht vorstellen, wohin mich meine düsteren Gedanken sonst getrieben hätten. Oft genug wollte ich mich einfach nur unter meine Bettdecke verkriechen und nie wieder herauskommen. Aber Nighton war da. Zum Glück, immer wieder dachte ich das. Er blieb ruhig, selbst wenn ich es nicht konnte, und hielt mir die Hoffnung an Uriel fest, wenn sie mir immer mal wieder entglitt. Jeden Tag liebte ich ihn mehr, und auch er zeigte mir seine Gefühle auf eine Art, die mich jedes Mal mehr an ihn band. Inzwischen hatte er gar nichts mehr mit dem Nighton gemein, den ich damals auf der Landstraße zum ersten Mal bewusst getroffen hatte. Dieser Nighton war finster, gemein, und sein Verhalten voller Warnsignale gewesen - der jetzige Nighton hingegen war sanft, fürsorglich und lieb. Alles Adjektive, die ich ihm vor einem Jahr noch niemals gegeben hätte. Aber er schien an unserer innigen Beziehung so zu wachsen wie ich. Die Spannungen der letzten Wochen jedenfalls waren vergessen, und am Ende dieses ersten Wochenendes keimte in mir der Gedanke auf, dass vielleicht doch alles gut werden könnte.
Zusammen mit diesem Gefühl kam mir eine Woche nach dem Gipfel und damit zwei Wochen vor Weihnachten eine Idee. Es war Montagabend, als ich sie bei Nighton ansprechen wollte, während er mir beim Abendessen-Vorbereiten half. Er mühte sich ernsthaft mit dem Gemüseschneiden ab. Aus irgendeinem Grund hatte er darauf bestanden, das riesige Fleischermesser zum Schneiden zu nehmen, was bei mir nur zu amüsiertem Kopfschütteln führte. Dementsprechend intensiv war sein Kampf mit der kleinen Selleriestange. Der große Yindarin, der mühelos jeden Gegner erledigen könnte, hatte ernsthafte Probleme mit einer einfachen Stange Sellerie. Das fand ich ziemlich lustig. Natürlich konnte ich mir einen Kommentar nicht verkneifen.
»Der Sellerie ist kein Dämon, den du zerlegen musst. Du darfst den nicht so hacken! Die Stücke werden doch viel zu groß.« Nighton schaute mich an und ließ das Messer sinken. Er schnaubte, doch anstatt etwas zu sagen, begann er, den Sellerie in super langsamen Bewegungen zu schneiden. Übertrieben langsam, millimeterweise, als hätte er alle Zeit der Welt.
Ich verdrehte die Augen. »Du musst doch nicht gleich in Zeitlupe…«
Er hob die Hand in die Luft, als wollte er mich wie ein Lehrer zum Schweigen bringen, und machte in exakt demselben Schneckentempo weiter. Ich grinste und stöhnte zugleich auf, aber er hielt sich einfach zurück, kein einziges Wort. Stattdessen sah er mir geradewegs ins Gesicht, musterte jede meiner Reaktionen, während er die Selleriestücke so übertrieben langsam schnitt, dass es fast unerträglich wurde. Langsam, ganz langsam, zeichnete sich ein schmales, selbstzufriedenes Grinsen auf seinen Lippen ab – nur ein Hauch von Spott darin, gerade genug, um mich zur Weißglut zu bringen, ohne dass ich ihm etwas hätte vorwerfen können.
Schließlich hob ich die Hände in die Luft und kapitulierte. »Schon gut, du hast gewonnen. Ich kritisiere deine Schneidetechniken nie wieder, versprochen.«
Er hielt kurz inne, eine Augenbraue leicht gehoben, aber das amüsierte Funkeln blieb in seinen Augen, während er das Tempo endlich ein wenig anzog. Erleichtert beobachtete ich ihn einen Moment, bevor ich mich umdrehte und mich rücklings an die Theke lehnte.
»Weißt du«, begann ich nachdenklich, »ich wollte mit dir über etwas reden. Jetzt, wo wir die Zeit dafür haben, »wäre Training vielleicht keine schlechte Idee. Wir haben immer noch nicht herausgefunden, was das für ein Impuls in Unterstadt war. Vielleicht würde ein wenig Kampftraining was nützen, um nochmal so etwas auszulösen?« Ich spürte einen leisen Nervenkitzel bei den Worten und war mir nicht sicher, ob er es bemerkte. »Ich meine… du könntest mir ja wieder ein bisschen was beibringen. Damit ich nicht völlig nutzlos bin, wenn wir auf Mission gehen.«
Nighton hielt inne, und nickte langsam, den Blick auf den Sellerie gerichtet. »Keine schlechte Idee«, sagte er schließlich. »Daran hatte ich auch schon gedacht. Wird Zeit, dass du wieder in Form kommst.«
Ich verengte die Augen und verschränkte die Arme. »In Form kommen?«
Was bei Gottes grüner Erde sollte denn das jetzt heißen?
Er brauchte einen Moment, bis er meinen Tonfall bemerkte und sah schließlich verwirrt zu mir. »Ja. Was soll der Todesblick?«
»Ach nichts«, entgegnete ich schnippisch, »außer dass ich ja anscheinend nicht in Form bin.« Ich musterte ihn mit einem gespielt beleidigten Ausdruck.
Nighton allerdings kaufte mir mein geschauspielertes Verhalten ab, hob die Augenbrauen, das Messer in der Hand, und wirkte sichtlich ratlos. »Bist du ja ... auch nicht?«
Ich verschränkte die Arme noch fester. Das wurde ja immer besser. »Willst du damit etwa sagen, dass ich fett bin?«
Seine Verwirrung wich einem leisen, genervten Stöhnen, und er schüttelte den Kopf. »Jen, so habe ich das nicht gemeint. Aber wenn du dich bei Missionen verteidigen willst, ist es doch sinnvoll, wenn du wieder mehr… Routine hast. Das wollte ich sagen.«
»Routine, aha.« Ich ließ den Blick schweifen und zog die Lippen zusammen. »Schon klar. Routine. In Form kommen. Wie auch immer.«
Er legte das Messer beiseite und sah mich jetzt voll an, ein Hauch von Belustigung und Panik in seinen Augen. »Bist du jetzt… ist das dein Ernst?«
Ich verkniff mir ein Grinsen und erwiderte: »Nein. Ich ärgere dich nur. Ich habe schon verstanden, wie du es gemeint hast.«
Nighton seufzte auf, schnalzte mit der Zunge, kommentierte: »Du machst mich wahnsinnig« und griff nach der Paprika. Ich grinste nur. Kurz herrschte Schweigen zwischen uns, das ich damit beendete, indem ich bemüht um einen entspannten Tonfall fragte: »Du… äh, du gehst diesmal im Training aber ein bisschen sanfter vor, oder?« Die Erinnerungen an die unzähligen Male schossen mir dabei durch den Kopf, in denen ich letztes Jahr im Training ordentlich hatte einstecken musste.
Nighton zerteilte die Paprika, und ein übertrieben ernstes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Sanfter? Ja, klar«, versprach er in einem Ton, der nach dem genauen Gegenteil klang. »Weißt du, ich dachte mir, ich fange gleich mit ein paar Vollkontakt-Schlägen an, dann kannst du mal zeigen, was du so draufhast. Oder vielleicht üben wir erstmal deine Reflexe und ich lasse dich in Zeitlupe fallen. Aus fünf Metern Höhe. Man muss ja realistisch trainieren.«
Mir entglitten die Gesichtszüge, und ich spürte, wie mir das Herz in die Hose rutschte. »Fünf Meter… wie bitte?«
Er hielt kurz inne, sein Blick blieb auf mir hängen, und dann breitete sich sein herausforderndes Grinsen über sein ganzes Gesicht aus. »War nur Spaß, Jen.« Er lachte auf. »Witzig, dass du mir das zutrauen würdest.«
Ich brummte auf und drehte mich zum Herd herum, um eine der Platten anzuschalten. Das war dann wohl die Retourkutsche für mein eigenes Täuschungsmanöver. Aber hey, zu meiner Verteidigung: er hatte fast achtzehn Jahre meines Lebens damit verbracht, mir die schlimmstmöglichen Tode zu wünschen... wer wusste schon, wie schnell man solche Verhaltensmuster ablegte?
Nighton reichte mir das kleingeschnittene Gemüse und versicherte mir: »Mach dir keine Sorgen. Dein Vorschlag ist gut, und ich werde schon aufpassen, dir nicht wehzutun. Immerhin kann ich dich ja nicht heilen. Soweit scheinen Sekeera und ich noch nicht zu sein.«
Ich verdrehte die Augen, aber das flaue Gefühl in meinem Magen blieb. So ganz vertreiben konnte er meine Zweifel nicht. Ob es so klug gewesen war, diese Idee laut auszusprechen?
Am nächsten Tag stand eine Matheklausur an, die ich gnadenlos in den Sand setzte. Entsprechend mies drauf war ich, als Nighton mich um vier Uhr von der Schule abholte – bestens gelaunt, wie schon die Tage zuvor. Warum er heute so gut drauf war, wurde mir schnell klar, als ich hinter ihm die Kirche betrat. In meiner Abwesenheit hatte er den hinteren Teil des Mittelschiffs, direkt vor dem Beichtstuhl, zu einer Art Sparring-Bereich umfunktioniert. Ein Quadrat aus Isomatten lag auf dem Boden, ein Baustrahler erhellte den Bereich, und am Beichtstuhl waren Zielscheiben aus Papier angebracht. Etwas abseits entdeckte ich ein ausgebreitetes Bettlaken mit mehreren, ehrlich gesagt, ziemlich gefährlich wirkenden Waffen.
Zu meinem großen Leidwesen gab es auch noch Publikum. Penny, Sam und Evelyn hatten das Sofa vom Altar weggezogen und so platziert, dass es nun mit dem Rücken zur restlichen Couchgruppe direkt auf den Trainingsbereich zeigte. Sie saßen dort bereits, und als wir eintraten, fiel mir die Schüssel Popcorn auf, die auf Sams Schoß thronte. Offenbar waren die drei bereit, sich das Spektakel genüsslich anzusehen. Sofort rutschte mir das Herz in die Hose.
Mein Gesicht sprach wohl Bände, denn Nighton, der gemerkt hatte, dass ich wie angewurzelt neben dem Flyerständer stehengeblieben war, drehte sich halb zu mir um. »Ich dachte mir, je früher, desto besser«, erklärte er und wies auf sein Werk, als wäre das alles kein Grund zur Panik.
Oh je. Darauf war ich mental nicht vorbereitet. Warum nur hatte ich das vorgeschlagen?
»Ja, äh… sieht super aus!«, stotterte ich nervös und umklammerte meine Tasche, die sich plötzlich klamm anfühlte. Meine Finger waren ganz schwitzig. Als wir gestern darüber geredet hatten, klang das Ganze nicht so, als ob er heute schon loslegen würde. Das – das ging mir einfach zu schnell!
Nighton zog seinen Pullover aus, sodass er nur noch ein schwarzes Achselshirt trug, und ließ dann die Schultern kreisen. »Angst?«, fragte er und schickte mir einen herausfordernden Blick.
Im Hintergrund sah ich Penny, die mir einen gehobenen Daumen zeigte, und Evelyn, die Geld von Sam und dem gerade dazustoßenden Gil einsammelte. Moment – wetteten die etwa?!
»Nein«, log ich tapfer, während meine Augen unwillkürlich auf seine Arme glitten. Ausrede, ich brauchte eine Ausrede! »Ich… ich habe nur viele Hausaufgaben.«
»Ha! Die hat eher Schiss«, spottete Evelyn, woraufhin ich sie mit einem bösen Blick bedachte. Sie kicherte und griff nach der Popcornschüssel. Offenbar war das hier für sie die große Abendvorstellung.
Gil stemmte die Hände in die Seiten und rief: »Ach, bitte, das wird doch ein Kinderspiel für dich, oder, Jennifer? Ich habe auf dich gesetzt, enttäusch' mich nicht!«
»Leute«, seufzte Nighton. »Hört auf. Sie hat schon genug Angst.« Er sah mich an und kam langsam auf mich zu. »Ich werde mein Bestes geben, vorsichtig zu sein, versprochen. Und dein Schulkram kann warten - das hier ist wichtiger.«
Wie kam ich jetzt bloß aus dieser Situation heraus?
»Ich… ich habe aber Kopfschmerzen«, brachte ich hervor, spürte dabei jedoch sofort die Panik in mir aufsteigen. Wenn er das so ruhig sagte, dann bedeutete das meistens, dass er absolut sicher war – oder? Oder etwa nicht??
Kaum ausgesprochen, flog mir schon Popcorn an den Kopf. »Und als Nächstes schiebt sie ihre Periode vor!«, höhnte Evelyn.
»Maul halten, Evelyn, ich sage es nicht nochmal!«, knurrte Nighton sofort in ihre Richtung. Seine Augen blitzten kühl auf, als er hinzufügte: »Sie ist ein Mensch. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du unter ihren Voraussetzungen gegen mich antreten müsstest?«
Evelyn ließ sich nicht beeindrucken und zwirbelte genüsslich eine ihrer orangefarbenen Strähnen. »Siegessicher, natürlich«, erwiderte sie mit einem selbstgefälligen Grinsen. »Man muss doch nur deinen wunden Punkt treffen, und du knickst ein wie ein Zweig.«
Nighton hob interessiert eine Augenbraue und trat ein paar Schritte in ihre Richtung, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ach ja?« Seine Stimme klang ruhig, aber ich konnte erkennen, dass ihr Kommentar ihn gereizt hatte. Und ich war heilfroh, dass die Aufmerksamkeit vorübergehend von mir abgelenkt war.
»Dann erleuchte mich mal«, forderte er sie heraus, »wo ist denn mein wunder Punkt?«
Evelyn schaufelte sich eine Handvoll Popcorn in den Mund und deutete mit der anderen völlig ungeniert auf Nightons Mitte. »Na, wo wohl? Einfach da reintreten, Jen, und schon hast du ihn. Da kann er noch so stark sein.«
Nighton prustete verächtlich los. »Weil ich ja auch tatenlos stehen bleiben würde, während sie ausholt. In der Zeit könnte ich dir zwanzig Mal das Genick brechen, Evelyn. Ein wirklich großartiger Vorschlag.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Jetzt halt den Rand und hör auf, sie zu verwirren.«
Er drehte sich zu mir und winkte mich mit einem auffordernden Blick näher. Meine Tasche rutschte aus meinen schwitzigen Händen zu Boden, und mein Magen zog sich zusammen. Das konnte ja heiter werden.