Plötzlich durchbrachen wir die Wasseroberfläche, und ich schnappte gierig nach Luft. Nighton kämpfte darum, uns beide über Wasser zu halten, während die rauen Wellen uns unbarmherzig in Richtung eines von Klippen eingeschlossenen Kiesstrandes drängten.
Ich klammerte mich so fest an ihn, dass es schmerzte, und wir wurden immer wieder von den Wellen hin und her geschleudert. Unter Wasser trat ich auf spitze Muscheln, rutschte auf glitschigen Steinen aus und verfing mich in Seetang, der mich wie Fesseln umschlang.
Endlich erreichten wir den Strand. Als ich keuchend auf die Knie fiel, spuckte ich Salzwasser aus. Mein Herz hämmerte, und ich hielt mir mein nasses Haar aus dem Gesicht, während ich verzweifelt versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Wo sind wir?«, krächzte ich heiser durch das Salzwasser.
Nighton, der wenige Meter vor mir stand und selbst nach Atem rang, sah sich um. Die Klippen ragten steil und bedrohlich in den Himmel, an vielen Stellen waren sie von Salzkrusten überzogen. Auf den schroffen Vorsprüngen wucherte ein kümmerliches Gestrüpp, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie hier Stürme toben mussten.
»Südwestküste Irlands«, antwortete er schließlich. Seine Stimme kaum hörbar über das Rauschen der Wellen hinweg. Er kam durch den Sand auf mich zugewatet und fragte: »Geht es dir gut?«
Südwestküste? Das war immerhin nicht allzu weit von dem Ort, den ich ihm genannt hatte. Ein schwaches Gefühl der Erleichterung durchflutete mich. Dann war mein Ausbruch ja doch zu etwas gut gewesen.
»Ja, alles gut«, keuchte ich, obwohl meine Lunge schmerzte und meine Schleimhäute von dem salzigen Wasser brannten. »Was ist mit dir? Die Schusswunden?«
»Sind schon verheilt«, erwiderte Nighton mit einer lässigen Geste. Während er sich umdrehte und die Klippen erneut musterte, arbeitete er am Waffenholster, das an seinem Oberschenkel befestigt war, und dem Gürtel um seine Hüfte. Mit einer fließenden Bewegung zog er das Magazin aus dem Gürtel und steckte es in seine Hosentasche. Den Gürtel, die schützenden Platten und das Holster warf er achtlos in den Sand.
In Richtung des Meeres zeigend rief ich: »Was ist mit all den Engeln und Dämonen dort unten? Oder mit Gil? Wir können sie nicht einfach zurücklassen!«
Nighton nickte, die Stirn in Falten gelegt, und seine Augen wurden hart. Er starrte aufs Meer, als ob er den Kampf, den wir hinter uns gelassen hatten, noch vor sich sah. Die Fäuste ballend, verkündete er entschlossen: »Wenn du in Sicherheit bist, komme ich zurück. So lange sollten die da unten alle überleben.«
»Gut, und ich komme mit!«, stellte ich klar. Nighton schnaufte.
»Egal, was dir widerfährt, du änderst dich wirklich nie, oder?«, seufzte er, sich schwach grinsend die Augen reibend. »Und nein, Jen, das mache ich definitiv allein. Du kannst nicht so lange Luft anhalten wie ich, du bist keine ausgebildete Taucherin, und allein bin ich viel schneller. Außerdem siehst du aus, als hättest du in den letzten Wochen weder genug gegessen noch geschlafen. Bevor ich dich irgendwohin mitnehme, solltest du erst mal wieder fit werden.«
Er hatte zu einhundert Prozent Recht, und ich wusste es. Also gab ich auf und lenkte ein. Nightons Argumente waren schwer zu ignorieren. Ein Teil von mir wollte noch immer gegen seinen Entschluss kämpfen, doch die Erschöpfung und die Realität ließen mir wenig Raum für Widerstand. Nighton schien erleichtert über meine Einsicht zu sein.
Der Wind nahm zu, peitschte uns kalte Gischt entgegen und ließ mich in meiner patschnassen Gefangenenkluft frösteln. Die dunklen Wolken am Himmel versprachen ein Unwetter. Ich schlang die Arme um mich, um mich warmzuhalten, aber das half nur begrenzt. Nighton bemerkte mein Zittern und schüttelte den Kopf.
»Komm, wir sollten von hier verschwinden. Da hinten gibt es einen Aufgang«, sagte er und schob mich vor sich her, bevor er die Führung übernahm. Ich folgte ihm durch den feuchten Sand und klemmte die Arme unter die Achseln. Der Wind pfiff und trug den typischen Meeresgeruch mit sich. Er wirbelte mein Haar durcheinander und peitschte mir die nassen Strähnen ins Gesicht.
Es war kein sanfter Aufstieg, sondern ein schmaler, steiler Weg, der in den Stein gehauen und mit alten, salzverkrusteten Seilen gesichert war. Der Aufgang lag wenigstens nicht allzuz weit von unserer Landungsstelle entfernt.
Am Anfang des steilen Aufstiegs wartete Nighton auf mich, seine Augen unablässig zum dunkler werdenden Himmel gerichtet, als ob er jeden Moment einen Sturm erwartete. Sein besorgter Blick ließ mich frösteln, und ich schluckte, als ich ihn schließlich eingeholt hatte.
»Wie sollen wir eigentlich aus Irland wegkommen?«, fragte ich zähneklappernd, während ich mich an den Seilen festhielt, die in die Steinwand geschlagen waren. Meine Füße waren inzwischen so kalt, dass ich kaum noch etwas spürte. Nighton ließ mich vorangehen und folgte mir dicht auf den Fersen.
»Auf dem Grasplateau gibt es in der Nähe des Helikopterfeldes einen Teleportstern«, erklärte er ruhig. »Da müssen wir hin. Dann können wir von hier abhauen. Allerdings wittere ich Menschen in der Ferne - schwer zu sagen, wie viele es sind.«
Der Gedanke, dass wir auf feindlich gesonnene Menschen oder gar diesen Ajax stoßen könnten, setzte mir zu. Eigentlich hatte ich gehofft, dass jeder im Labor draufgegangen wäre. Armer Gil. Wie musste es ihm ergehen? Ob er sich sehr hoffnungslos fühlte?
»Wie hast du mich eigentlich gefunden?«
Nightons Atem streifte meinen Nacken, als er näher rückte.
»Es war nicht einfach. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Dungarvan ein Knotenpunkt war, habe ich mich dort ein wenig auf Menschenjagd begeben. Es dauerte nicht lange, bis ich eine ganze Truppe erwischte. Einige habe ich laufen lassen, andere … nicht. Aber einer von ihnen sprach von Geschäften mit Unterstadt, was mich ziemlich überrascht hat. Genauer gesagt Geschäfte mit den Serpentae. Die Anführerin der Schlangen ist zwar weg, aber der Handel scheint weiterhin zu laufen, auch wenn Oberstadt aufgeräumt hat. Einige aus der Stadt haben wohl mit Menschen Handel betrieben und ihnen Yagransin geliefert. Weiß der Teufel, woher die Menschen wissen, dass es Sekeera schadet. Auf jeden Fall habe ich alles bis zur Quelle hier auf der Erde zurückverfolgt und bin so dieser Organisation namens Turano Industries auf die Schliche gekommen. Dann musste ich nur noch ein wenig Überzeugungsarbeit leisten, um mich in einen Militärhelikopter für neue Rekruten einschleusen zu lassen.«
Seine Erzählung war so unbeteiligt, als spräche er über das Wetter, doch ich konnte nicht anders, als von der Vorstellung, dass Menschen mit Dämonen Handel betrieben, erschüttert zu sein. Mit geweiteten Augen fragte ich, den Schrecken in meiner Stimme kaum verbergend: »Die Menschen betreiben Handel mit Dämonen?«
Nighton schnaufte trocken hinter mir, und ich konnte die Schärfe seiner Antwort in der Luft spüren. »Nicht mehr«, erwiderte er rätselhafterweise, aber ich war zu erschöpft, um weiter nachzufragen. Der steile Aufstieg forderte seinen Tribut, und mein Sichtfeld begann sich langsam zu verengen. Ich hielt abrupt an und lehnte mich an die kalte Steinwand. Mein Atem kam stoßweise, und ich kämpfte, um die aufsteigende Ohnmacht zu unterdrücken. Der drückende Schmerz in meiner Lunge war kaum auszuhalten, und ich konnte das Schwarz vor meinen Augen nicht länger ignorieren.
Normalerweise hätte ich so einen Weg mit Leichtigkeit geschafft, aber nach Wochen voller schlechter Verpflegung, den ständigen, zehrenden Verhören und wenig Schlaf fühlte ich mich, als ob jeder Schritt doppelt so schwer wog.
»Was ist los?«, fragte Nighton besorgt von hinten, und ich spürte seine Nähe, seine Präsenz, wie einen Anker. Ich lehnte mich kurz an ihn, suchte Halt, während die Erschöpfung mich überkam.
»Ich brauche eine kurze Pause. Nur fünf Minuten«, bat ich.
Doch er schüttelte nur den Kopf und gab zu bedenken: »Es kommt gleich eine ganze Menge Regen runter, Jen. Wir müssen hier weg sein, bevor es losgeht.«
Natürlich wusste ich, dass er recht hatte. Also biss ich die Zähne zusammen und kämpfte mich weiter nach oben. Der Wind peitschte uns den Geruch des Meeres entgegen, und das donnernde Rauschen der Wellen unter uns mischte sich mit dem drückenden Gefühl, dass uns die Zeit davonlief.
Nach einer gefühlten Ewigkeit – es mussten mindestens fünfzehn Minuten gewesen sein – erreichten wir endlich das Plateau. Mein Körper schrie nach Ruhe, doch bevor ich auch nur erleichtert aufatmen konnte, griff Nighton plötzlich nach meinem Arm und zog mich hinter eine Steinmauer.
»Duck dich!«
Ich stolperte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während ich mich hinter die Mauer presste. Mein Herz pochte in meinen Ohren, und ich bemühte mich, auf das zu lauschen, was er gehört haben könnte. Doch außer dem Wind und dem fernen Tosen des Ozeans war nichts zu hören.
»Was ist da?«, flüsterte ich angespannt. Nighton spähte über die Steine hinweg. Seine Miene war düster, als er sich wieder zu mir duckte.
»Wir sind weiter weg von der Platte, als ich dachte. Anderthalb Kilometer mindestens. Aber das ist nicht das Problem.« Er schnaubte verärgert und fuhr sich mit der Hand durch das nasse Haar. »Da sind etwa fünfzig bewaffnete Menschen, zwei Helikopter und Jeeps. Sie müssen alles aus dem Gefängnis geholt haben, was sie retten konnten, bevor es überflutet wurde.«
Mir stockte der Atem. Fünfzig Soldaten und schwer bewaffnet? Am Ende noch mit der E-VA-C? Und was, wenn sie diesmal treffen würden? Ich schluckte und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Wir können uns da keinen Weg durchmetzeln. Die haben irgendeine Art Superwaffe, die, mit der Kellahan auf dich geschossen hat - am Ende treffen sie dich!«
Nighton grollte zustimmend. Doch anstatt etwas zu sagen, richtete er sich erneut auf und spähte in eine andere Richtung, die Augen wachsam, als würde er nach einem alternativen Plan suchen. Ich sank derweil tiefer gegen die Steine, presste meine Wange gegen das kalte, raue Gestein. Die Vorstellung, hier festsitzen zu müssen, während der Sturm näher rückte und uns von allen Seiten feindliche Soldaten umzingelten, ließ mich resignieren. Ich wollte nur noch nach Hause, ein heißes Bad nehmen und etwas essen. Irgendwas richtig Fettiges. Einen Burger, oder so.
Nighton murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, während ich den Kopf anhob und ihn ansah. Er hob seinen Blick, traf meine Augen und zeigte dann in die Richtung, in die er gerade gespähte hatte. Sein Gesicht war angespannt, aber entschieden.
»Planänderung. Da hinten sind ein paar Gehöfte. Schäfer. Wenn wir die ungesehen erreichen, bleiben wir dort, bis es dunkel ist. Dann schleichen wir uns bei Nacht zur Teleportplatte. Die Menschen sollten bis dahin mit sich selbst und der Rettung ihrer Sachen beschäftigt sein. In der Dunkelheit bin ich ein noch größerer Gegner als bei Tag, vor allem deshalb, weil sie es nicht erwarten werden.«
Er suchte in meinem Blick nach Zustimmung, aber ich hob nur die Schultern. Er war der Yindarin, der wusste, wie man uns hier rausbringt. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.
Nighton streckte mir seine Hand entgegen und deutete auf eine Felsgruppierung rechts von uns, die uns Deckung bieten konnte. Ich ergriff sie, hielt mich fest und folgte ihm geduckt aus unserem Versteck. Die Kälte des einsetzenden Regens kroch mir unter die Haut, erst recht, als der Nieselregen zu einem peitschenden Sturm anschwoll. Es war furchtbar. Der Wind biss scharf durch die nassen Klamotten, während ich mich an Nightons Seite hielt.
Endlich erreichten wir die Felsen. Wir drückten uns an den kalten Stein, beide schwer atmend. Der Regen war so dicht, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Perfekt, um unsichtbar zu bleiben, aber die Kälte und Nässe machten es mir sehr schwer, fokussiert zu bleiben.
Nighton warf einen schnellen Blick über die Felsen. »Sie werden uns nicht sehen«, rief er über das Tosen des Windes, dann zog er mich wieder mit sich. Sein Griff war fest, sicher. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass ich ohne ihn hier hoffnungslos verloren wäre. Erst recht in diesem Wetter.
Durch den strömenden Regen jagten wir weiter. Der Boden unter uns war schlammig, rutschig, und jeder Schritt eine Anstrengung. Mein Atem ging stoßweise, aber ich biss die Zähne zusammen. Es gab keinen Platz für Schwäche, nicht jetzt!
Irgendwann tauchte vor uns ein schemenhafter Umriss auf. Es war ein einstöckiges Haus, dunkel und verlassen. Es stand auf tiefen Stelzen, umgeben von einem weitläufigen Zaun. Der Regen machte es schwer, Details zu erkennen, aber ich sah genug. Verfallene Blumentöpfe lagen auf der Veranda, und an den Zäunen hingen schmuddelige Fellbüschel. Schafe, dachte ich. Oder das, was von ihnen übrig war.
Endlich erreichten wir die überdachte Veranda. Als wir die paar Stufen hinaufstiegen, ließ der Regen zumindest über uns nach. Ich holte tief Luft, schob das nasse Haar aus meinem Gesicht und sah zu Nighton hoch, der mich losließ. Er legte einen Finger an die Lippen, und seine Augen blitzten in einem grünlichen Schimmer auf, der mich kurz erstarren ließ. Ich hielt den Atem an, als er sich leise an die alte Holztür lehnte, das Ohr dagegen presste und die Stirn in Falten legte. Jedes Knarren des Hauses verstärkte die Spannung.
Nach endlosen Sekunden wich er von der Tür zurück, aber seine Haltung blieb wachsam, als er sich mir näherte. »Es ist verlassen. Niemand da«, verkündte er. Ich atmete erleichtert aus. Zum Glück. Hier waren wir anscheinend erst einmal sicher – für den Moment.
Er griff nach dem Türknauf, ruckte daran, bis es im Schloss knackte, und öffnete die Tür vorsichtig. Ein kalter Hauch kam uns entgegen, als ob das Haus selbst uns willkommen heißen wollte. Oder warnen. Aber nichts geschah.
»Komm«, forderte er mich auf und trat ein. Ich folgte ihm sofort, froh, dem Regen und dem Wind zu entkommen.
Drinnen war es still, fast zu still. Der alte Holzboden knarzte unter unseren Füßen, und eine dicke Schicht Staub bedeckte alles, als ob die Zeit hier seit Jahren stillgestanden hätte. Überall um uns herum pfiff der Wind durch Ritzen und Lücken im Gebälk. Es war schwer zu sagen, wie lange das Haus schon leer stand.
Rechts von uns lag eine kleine Küche, wie aus einer längst vergessenen Zeit. Die Vorhänge, zerfressen von Motten und vom Alter gezeichnet, hingen schlaff vor dem Fenster. Auf der Spüle sah ich eine verdorrte Pflanze, die ihre Äste wie knorrige Finger in den Staub ragen ließ. Alles hier wirkte wie ein Relikt aus einem anderen Leben.
Ich wischte mir über das Gesicht, trat an die Spüle und drehte vorsichtig den Wasserhahn auf. Nichts. Natürlich. Ich hätte es wissen müssen, aber die winzige Hoffnung, die ich gehabt hatte, kam mir sofort lächerlich vor. Dann wagte ich einen Blick in den Kühlschrank – er war leer, bis auf ein Glas Gewürzgurken. Ich hielt es hoch, drehte es in der Hand und suchte nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum. 2001. Echt jetzt?
Nighton, der gerade ein paar alte Decken aus einer Truhe nahe der Tür gezogen hatte, sah zu mir. Als ich ihm das Glas zeigte, entwich ihm ein Schnauben. Dazu schüttelte er den Kopf, als wollte er mir sagen: »Besser nicht.« Also stellte ich das Glas zurück.
Während Nighton die Vorhänge zuzog und alles absicherte, wanderte ich umher. Im Nebenzimmer entdeckte ich einen klobigen, uralten Fernseher, der auf einem abgewetzten Lederkoffer stand, und daneben zwei wackelige Bücherregale, die unter der Last der Jahre zu ächzen schienen. Der Staub darauf war dick.
Der Doppelsitzer vor dem Fernseher sah verlockend bequem aus, mit seiner ausgezogenen Liegefläche, die zu einem breiten Bett wurde. Doch ich zögerte, mich draufzusetzen – der Regen hatte mich komplett durchnässt, und ich tropfte noch immer auf den knarrenden Holzboden.
Mein Blick glitt zu einem offenen Türbogen, der in das nächste Zimmer führte. Auf einem wuchtigen Schreibtisch lag ein Chaos aus Papieren, zerknitterten Rechnungen, vergilbten Briefen und Zeitungsfetzen, die wild durcheinandergewirbelt schienen, als hätte jemand hastig das Weite gesucht. Alles wirkte unangetastet – ein bedrückendes Zeugnis dafür, wie schnell das Leben hier vermutlich zum Stillstand gekommen war. Ich widerstand dem Drang, in dem Papierstapel herumzuwühlen, und trat stattdessen durch einen weiteren Bogen zurück in den Eingangsbereich. Meine Finger strichen über das Geländer der Treppe, wo kleine Pfützen auf den Stufen glänzten. Wahrscheinlich Wasser, das durch das undichte Dach eindrang.
Nighton stand neben dem Lichtschalter, an dem er gerade herumtestete, und beobachtete mich. Sein Gesicht war in tiefe Schatten gehüllt, als er langsam den Kopf schüttelte. »Kein Strom«, verkündete er.
»Das Dach leckt auch«, ergänzte ich, während ich die Pfützen betrachtete. Nighton nickte knapp und überlegte laut: »Dieses Haus steht bestimmt schon viele Jahre leer. Turano Industries wollte wohl niemanden in seiner Nähe.«
Der Gedanke machte mir plötzlich das Herz schwer. »Stell dir vor, wie das für die Leute hier gewesen sein muss«, seufzte ich leise. »Einfach alles zurücklassen zu müssen…«
Unter der Treppe entdeckte ich noch eine Tür, die in ein winziges Bad führte. Der modrige Geruch schlug mir sofort entgegen, als ich den Kopf durch die Tür steckte. Kein Wasser, keine Hoffnung auf irgendeine Form von Komfort. Trotzdem – an der Wand hingen ein paar alte Handtücher, die überraschend trocken und benutzbar wirkten.
»Schau mal!«, rief ich erfreut und hielt sie triumphierend aus der Tür des Bads, sodas Nighton sie sehen konnte.
»Das ist ein Anfang«, hörte ich ihn zufrieden sagen, bevor ich ihm zwei der Handtücher zuwarf, die er mit einer mühelosen Bewegung auffing.
Dann nahm er sich die Decken, die er vorhin gefunden hatte, und trat an mir vorbei. »Du solltest das da ausziehen, bevor du wieder krank wirst«, riet er beiläufig, während er mich mit einem Blick von oben bis unten musterte.
Ich wollte gerade widersprechen, da flog mir schon eine karierte Decke entgegen, die ich gerade noch rechtzeitig zu fassen bekam.
»Und was soll ich stattdessen anziehen?«, begann ich, doch Nighton hatte bereits geantwortet, bevor ich meine Frage zu Ende stellen konnte.
»Ich schau nach, was ich oben noch finde. Aber bis dahin – die hier ist besser als das, was du anhast.«
Ich hielt die Decke in den Händen und spürte, wie mir heiß wurde, obwohl ich eigentlich völlig durchgefroren war. Sollte ich mich etwa hier, mitten im Flur, umziehen? So direkt vor ihm?
Nighton bemerkte mein Zögern, doch er deutete es auf seine eigene Weise. »Brauchst du Hilfe?«
Ich schüttelte den Kopf. Er nickte einmal, bevor er die knarrende Treppe hinaufstieg. Ich folgte ihm mit den Augen, bis er außer Sicht war. Sobald ich sicher war, dass er mich nicht sehen konnte, schälte ich mich hastig aus dem grauen Zweiteiler. Meerwasser und Sand hatten sich im Stoff festgesetzt. Die Feuchtigkeit ließ mich frösteln, und mein Körper roch nach salziger See – etwas, das ich merkwürdigerweise fast beruhigend fand.
Schnell trocknete ich mich mit einem der alten Handtücher ab, wickelte mich dann fest in die Wolldecke und fühlte, wie die Wärme langsam zurückkehrte. Mein nasses Haar tropfte weiterhin, und ich versuchte es so gut es ging auszuwringen, bevor ich es über meine Schultern fallen ließ.
Endlich, halbwegs warm eingepackt, ließ ich mich auf das Sofa im Wohnzimmer sinken. Die Decke zog ich bis über meine kalten Füße, während ich dem prasselnden Geräusch des Regens lauschte. Der Sturm draußen schien nur noch heftiger zu werden, doch für einen Moment fühlte ich mich geborgen. Meine Augen fielen zu, und ein Hauch von Frieden legte sich über mich.
Doch die Stille wurde abrupt von einem dumpfen Geräusch zerrissen – nur wenige Zentimeter neben meinem Ohr. Panisch fuhr ich in die Senkrechte.