Von Montag bis zum Mittwoch der darauffolgenden Woche lag ich also flach. Nichts war zu holen, mir ging es einfach nur dreckig. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so krank gewesen war. Zum Glück endet aber auch irgendwann die schlimmste Grippe, und am neunundzwanzigsten September, genau eine Woche vor meinem neunzehnten Geburtstag, ging es wieder bergauf.
Zwar fühlte ich mich immer noch etwas schlapp, aber mein Husten war deutlich besser und das Fieber restlos verschwunden. Auch meine Glieder schmerzten nicht mehr, als wäre ich einen kilometerlangen Marathon gerannt. Allerdings kam es mir vor, als ob mein Körper noch dabei wäre, sich wieder zusammenzuflicken, und jede kleine Anstrengung brachte mich völlig aus der Puste.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schlief ich zum allerersten Mal wieder gut, ohne nachts von bizarren Fieberträumen geweckt zu werden. Vielleicht lag es auch an Nightons Anwesenheit, der die Nacht neben mir liegend verbrachte und nicht wie die Tage zuvor auf der Luftmatratze nächtigte.
Tagsüber ging es mir dann wieder so gut, dass ich aufstehen, essen und sogar ein wenig für die Schule lernen konnte. Nighton wirkte sichtlich erleichtert darüber, dass ich mich auf dem Weg der Besserung befand.
Auch in der Nacht von Donnerstag auf Freitag schlief ich wie ein Baby - bis ich durch das wilde Vibrieren eines Handys aus dem Schlaf gerissen wurde. Auf einmal kam Bewegung in Nighton, der neben mir lag. Er richtete sich auf, stützte sich auf der Matratze ab und streckte seinen anderen Arm über mich hinweg, um nach dem vibrierenden Handy zu greifen, das meinen Nachttisch zum Erbeben brachte.
»Ist es deins oder meins?«, gähnte ich, zog mir die Decke kinnwärts und warf einen Blick auf den Funkwecker, der elf Uhr morgens anzeigte. Da die Vorhänge und die Rollläden das Licht draußen hielten, war es mir so vorgekommen, als wäre noch tiefste Nacht.
»Deins«, antwortete Nighton nach einigen Sekunden. Das Vibrieren hatte gestoppt. Er klang überrascht, als er nachhakte: »Ist das so eine Art Masche von dir, Leute unter fiesen Namen einzuspeichern?«
Mit geschlossenen Augen grinste ich, die Hand hinhaltend, damit Nighton mir das Handy geben konnte.
»Vielleicht. Wieso? Wer hat angerufen?«
»'Schmieriger Creep'«, las Nighton skeptisch vom Display ab. »Wer ist das?«
Ich seufzte und las nun selbst den Namen des Anrufers. Wieso rief Owen mich an? Ich hatte keinen Termin zum Arbeiten ausgemacht, keine Mail in meinem Postfach bekommen - was er wohl wollte? Außer nerven?
Langsam setzte ich mich auf, knispste das Licht meiner Nachttischlampe an und fuhr mir mit einer Hand durch mein abstehendes Haar.
»Das ist Owen. Du weißt schon.« Ich blickte über die Schulter, bevor ich erklärend hinzufügte: »Mein Boss.«
Nightons Gesichtsausdruck verfinsterte sich schlagartig. Er setzte sich ebenfalls auf und hakte missmutig nach: »Wieso ruft der dich an?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Weiß ich nicht.« Ich drückte auf Rückruf und hielt mir das Handy ans Ohr, vor mich hin murmelnd: »Aber das werde ich gleich wissen.«
Es tutete genau zwei Mal, dann hob am anderen Ende jemand ab. Es war Owen.
»Na, Ascot? Was geht ab?«
»Hey Owen. Nicht viel. Was gibt es?«
»Was es gibt? Du weißt doch noch, was heute ansteht, oder?«
Verdattert runzelte ich die Stirn, und nicht nur ich. Auch Nighton, den ich in diesem Moment anschaute, zog die Stirn in Falten, ehe er die Arme verschränkte und die Augen verengte. Er konnte natürlich jedes Wort hören.
Dementsprechend ratlos gab ich also zu: »Äh - nicht so wirklich. Ich war die letzten Tage krank und-«
»Die Feier meines Dads? Wir wollten zusammen hingehen. Du bist doch fit, oder? Komm schon, ich habe auf dich gebaut, in der kurzen Zeit finde ich keinen passenden Ersatz!«
»Ich-«
»Gut, hätte ich eh nicht anders erwartet. Um sechs also, ja? Und zieh dir was Schickes an!«
Damit legte er einfach auf. Sprachlos und mit offenem Mund verharrte ich. Ich fühlte mich total überfordert. Die Party! Stephen King! All das hatte ich ja vollkommen vergessen. Eigentlich fühlte ich mich nicht wirklich fit genug, um heute Abend auf die Geburtstagsfeier eines mir wildfremden reichen Mannes zu gehen. Aber Leute, ganz ehrlich - für mich gab es kein besseres Verkaufsargument, als den Meister des Horros persönlich kennenzulernen. Dieser Gedanke wirkte direkt beflügelnd auf mich. Krankheit hin oder her, meinen Lieblingsautor würde ich mir nicht entgehen lassen.
»Von was für einer Feier redet der Kerl?«, wollte Nighton direkt wissen. Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Argwohn und Sorge. Kurz erklärte ich ihm Owens Einladung, die ich in den letzten anderthalb Wochen vollkommen verdrängt und vergessen hatte. Nicht freiwillig natürlich, immerhin hatte ich krank in der Gegend herumgelegen. Auch das bahnbrechende Detail mit Stephen King ließ ich nicht aus. Nighton lauschte mir, ohne eine Miene zu verziehen. Erst als ich endete, reagierte er.
»Du gehst da doch nicht etwa mit? Du kennst den Typ doch kaum«, wandte er ungläubig ein und lehnte sich an die Wand, die Arme vor der Brust verschränkend. Offenbar interessierte es ihn herzlich wenig, dass mein Idol auf dieser Party aufzutauchen gedachte. Unsicher hob ich die Schultern an und erwiderte: »Dich habe ich auch kaum gekannt und bin trotzdem mit dir ins Internat gekommen, und?«
Nighton setzte eine dein-Ernst?-Miene auf und entgegnete flapsig: »Das ist ja wohl nicht zu vergleichen. Außerdem hattest du damals keine Wahl. Wenn du nicht freiwillig mitgekommen wärst, hätte ich dich eben in den Kofferraum oder so gesteckt - aber das hier? Wer weiß, am Ende-«
Ich stöhnte auf und griff mir an den Kopf, womit ich Nighton unterbrach.
»Hey, ich verstehe, dass du an jeder Ecke dämonische Verschwörungen witterst, aber doch nicht bei Owen Delaney! Der Kerl ist ein Dummschwätzer, mehr nicht. Und damit werde ich bestens fertig. Außerdem - Nighton! Stephen King! Als ob ich mir den entgehen lasse! Ich liebe, nein, ich vergöttere diesen Mann und seine Bücher, ich MUSS da hin!«
Nighton rollte mit den Augen.
»Ich habe verstanden, dass du ein riesiges Fan-Girl von dem Menschen bist, du brauchst das nicht in jedem Satz betonen. Aberd du hast fast zwei Wochen mit knapp vierzig Grad Fieber im Bett gelegen. Hältst du das wirklich für eine gute Idee, auf diese Feier zu gehen? Vor allem jetzt, wo die Zwillinge dich jagen?« Er musterte mich voller Zweifel. Ich wollte davon jedoch nichts hören und wischte seine Worte beiseite, als wären sie Luft. Außerdem war ich ja schon gestern einigermaßen fit gewesen, und heute hatte ich nicht mal Kopfschmerzen.
Und hey - Stephen King!!!
»Du kommst doch eh heimlich mit, dann kannst du ja verhindern, dass Stephen King mir seinen Kugelschreiber in die Halsschlagader steckt, oder dass Owen mir die Ohren blutig brabbelt«, schlug ich und vor wollte aufstehen, doch das machte mein Kreislauf nicht mit. Sofort wurde mir schwarz vor Augen.
»Natürlich komme ich mit, ist schließlich nicht so, als ob ich da eine Wahl hätte«, meinte Nighton zynisch, doch im nächsten Moment zog er mich schon zurück aufs Bett, sodass ich auf die Matratze plumpste. Leise aufstöhnend griff ich mir an die Stirn und beugte mich nach vorn. Meine Füße berührten den kalten Holzboden, wovon ich fröstelte. In den letzten Tagen hatte die Hitzewelle, die London noch fest im Griff gehabt hatte, schlagartig abgenommen und frühherbstlicher Kälte Platz gemacht. Na gut, kalt war vielleicht etwas zu viel gesagt - aber es war alles andere als heiß.
Nachdem mein Sichtfeld nicht mehr länger körnig erschien, wagte ich einen zweiten Versuch, diesmal aber langsamer. Nighton, der in der Zeit selbst aufgestanden war, hatte beim Ausziehen seines T-Shirts innegehalten und beobachtete mich wachsam, als wäre er jederzeit bereit, einzuschreiten und mich bei einem erneuten Schwindelanfall zu retten.
»Mach langsam«, bat er mich besorgt. Ich nickte und machte einen Schritt nach vorne, doch dann überfiel mich erneut ein massives Schwindelgefühl und ich konnte spüren, wie meine Knie weich wurden. Reflexartig streckte ich eine Hand nach Nighton aus, die er sofort ergriff.
Grummelnd ließ er gänzlich vom Saum seines Oberteils ab und ergriff mich nun an den Armen, womit er mir Halt gab. Kopfschüttelnd und beinahe etwas strafend behauptete er: »Du gehörst ins Bett und nicht auf so eine beknackte Feier. Berühmter Autor hin oder her.«
»Wenigstens bleibe ich ihm im Gedächtnis, wenn ich vor ihm umkippe«, war alles, was ich müde grinsend von mir gab, ehe ich mich an Nighton lehnte. Er war warm und roch gut, und es war lange her, dass ich ihm nahe gewesen war. Klar, wie auch, ich hatte flachgelegen - aber gerade nach dem Kuss, der mich immer noch nachhaltig beflügelte, hätte ich mehr davon gebraucht. Sehr viel mehr. Daher musste ich es jetzt ausnutzen.
Doch das schien Nighton anders zu sehen. Mit sanftem Nachdruck schob er mich von sich, nahm mein Gesicht in beide Hände und fuhr mir mit den Daumen über die Wangen. Mir prüfend in die Augen sehend riet er: »Setz dich besser. Du bist ganz blass. Hast du Hunger? Soll ich dir was zu essen machen, bevor ich deine Schwester abhole?«
Ich schüttelte sofort den Kopf und entgegnete scherzhaft: »Lieber nicht, am Ende fackelst du wieder die Küche ab.«
Nighton grinste verhalten und verdrehte dabei wieder die Augen, denn er wusste, worauf ich anspielte. Vor ein paar Tagen hatte er versucht, einen Nudelauflauf zu machen, und war kläglich daran gescheitert. Und geendet hatte das Ganze in Rauch und Feueralarm. Und einem unförmigen Klumpen schwarzen Materials auf einem Blech.
»Was heißt hier wieder? Es hat nicht gebrannt, kann ich ja nichts für, dass euer Ofen so stark heizt«, versuchte er sich zu verteidigen.
»So stark heizt? Du hast ihn auf Pyrolyse eingestellt!«
Nighton seufzte, ließ mich los und brummte eingeschnappt: »Ja, ist ja gut, ich lasse die Finger von eurer Küche. War nur nett gemeint. Dann beiß doch in den Tisch.«
Damit brachte er mich zum Kichern. In der nächsten Sekunde rutschte mir heraus: »Oder in dich.«
Ups. Wieso hatte ich das jetzt gesagt? Sofort wurde ich rosa. Doch Nighton nahm es glücklicherweise locker, lachte und erwiderte: »Ich bin absolut ungenießbar.« Er warf einen Blick auf die Uhr und wechselte das Thema.
»Ich gehe deine Schwester einsammeln. Und wenn ich wieder da bin, reden wir über die Sache in Unterstadt.«
Verwundert blinzelte ich. »Warum? Kriege ich Ärger?«
Ebenso verwundert legte Nighton den Kopf schief und fragte zurück: »Nein, wieso?« Er zog sich das T-Shirt über den Kopf. Nun wurde ich endgültig knallrot und musste wegsehen. Hölle, was ein Körper.
»Nur so«, murmelte ich und ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie Nighton sich anzog und im Anschluss sein Handy von meinem Nachttisch nahm. Dann trat er auf mich zu, griff nach meinem halb aufgelösten Zopf und legte ihn mir über die Schulter. Ein ungewohnt liebevoller Ausdruck schlich sich in seine Augen, als er ernst sagte: »Ich bin froh, dass es dir besser geht, Jen.«
Ich lächelte, während mich beinahe die nächste Schwächeattacke überfiel - allerdings wegen ihm. Er erwiderte mein Lächeln, ehe er sich umwandte und mein Zimmer verließ.
Anna liebte Nighton inzwischen abgöttisch. Sie himmelte ihn geradezu an. Ob das daran lag, dass er in den letzten Tagen so viel Zeit mit ihr verbracht hatte, oder daran, dass er sich geduldig alles anhörte, was sie ihm erzählte, oder daran, dass sie bei ihm alles durfte - sei es ewig vorm Fernseher sitzen, länger aufbleiben, Cornflakes zum Abendbrot essen oder ihm die Nägel lackieren. Ja, ihr habt richtig gelesen.
Meine kleine Schwester hatte Nighton, dem einst engsten und offenbar fiesesten Diener einer irren Dämonengöttin, die Fingernägel korallenrot lackieren dürfen. Wie auch immer sie ihn dazu gekriegt hatte. Inzwischen war der Lack allerdings wieder ab und ich hatte es leider versäumt, ein Beweisfoto für Penny und Evelyn zu schießen.
Als Nighton und Anna nach Hause kamen, stand ich gerade in der Küche und schob eine Auflaufform mit vier gefüllten Paprikas voller Reis und Hackfleisch in den Ofen. Kurz hatte ich sogar überlegt, den Inhalt der Paprika einfach roh zu essen. Es klingt komisch, aber aus irgendeinem Grund verspürte ich heute Lust auf rohes Fleisch, was mich nicht nur irritierte, nein, es erinnerte mich sehr an Sekeera, die alle Nase lang davon geschwärmt hatte, irgendwen auszuweiden und dessen Organe zu fressen. Ob das mit dem seltsamen Ausbruch in Unterstadt zu tun hatte?
Auf jeden Fall konnte ich mich gerade noch davon abhalten, mir eine Handvoll Hackfleisch aus der Packung in den Mund zu schieben, denn da betrat Nighton die Küche. Anna hüpfte hinter ihm entlang und winkte mir dabei.
»Alles klar?«, erkundigte er sich. Ich nickte, das Hackfleisch hastig in den Kühlschrank stellend. Mein Dad hatte sich vorhin blicken lassen, der immer noch mit den Nachwehen seiner eigenen Grippe zu kämpfen hatte, und Thomas war wieder in der Uni. Eigentlich hätte auch er Anna zur Schule bringen und von dort wieder abholen können, doch meine Schwester bestand drauf, dass Nighton das tat, und der hatte offenbar sowas wie Urlaub von Oberstadt bekommen, denn in den gesamten letzten Tagen war er nicht ein einziges Mal von Isara gerufen worden.
»Lass uns in meinem Zimmer reden, nicht hier«, bat ich, bevor er etwas sagen konnte. Achselzuckend stimmte Nighton zu und folgte mir in mein Zimmer, wo ich die Tür schloss. Eigentlich wollte ich mich einfach nur hinsetzen, und zwar auf mein Bett. Aber ich wollte mir meine Erschöpfung nicht anmerken lassen.
Nighton setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, während ich mich in die zerwühlten Laken sinken ließ. Schon während er zum Reden ansetzte, schaute ich unablässig auf seinen Mund. Ich konnte gar nicht anders.
»Ich wollte dir das eigentlich schon sagen, als wir aus Oberstadt zurückgekommen sind, aber dann warst du ja der Ansicht, sterbenskrank zu werden. Ich mache es kurz: ich muss zugeben, dich unterschätzt zu haben«, fing Nighton an, und ich konnte ihm ansehen, dass es ihm nicht besonders passte, das zuzugeben. Immerhin hatte er da eine sehr festgefahrene Ansicht gehabt, und wir hatten uns auch schon ordentlich deswegen gestritten.
»Wärst du nicht gewesen, hätte man mich und Penny mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Weiten jenseits von Ober- und Unterstadt geschickt. Ich verdanke dir also ein weiteres Mal mein Leben. Außerdem hast du es geschafft, was ich noch weniger erwartet habe, den Kristall zu zerstören, und das ganz ohne mich oder Penny. Also ja, ich habe dich bei Weitem unterschätzt. Du besitzt immer noch die Intuition und Stärke eines Yindarin, man merkt es, auch wenn du kein übernatürliches Wesen bist. Das hast du uns allen gezeigt, vor allem mir. Wir werden dich wohl öfter mitnehmen ab jetzt.«
Seine Worte zauberten mir ein freudiges Lächeln ins Gesicht. Als Antwort stand ich auf, stieg ohne Vorwarnung auf seinen Schoß, fiel ihm um den Hals und umarmte ihn. Der Schreibtischstuhl knackte bedrohlich, doch Nighton fuhr fort, als wäre nichts, während er seine Arme um mich legte.
»Allein schon deswegen, weil ich herausfinden will, was das mit dir und dieser absolut unerwarteten Kampfeinlage gewesen ist. Das war nämlich ziemlich beeindruckend. Aber du wirst trotzdem tun, was wir dir sagen, egal was!«, ergänzte er in gewohnter Strenge.
»Ich mache absolut alles, sofern es nicht wieder direkt nach Unterstadt geht«, versprach ich aufgeregt und grinste, was er aber nicht sah. Bevor er weiterreden konnte, dachte ich an seinen eigenen Kampf und fragte deshalb neugierig: »Was war das mit dir und Keera? Du konntest plötzlich auf sie zugreifen und dich heilen. Das war mindestens genauso beeindruckend.«
Nighton brummte nachdenklich. »Sie ist einfach aus mir hervorgeplatzt und hat mich übernommen. Von auf sie zugreifen war da nicht die Rede. Sie war wütend und hat das getan, was sie wollte. Aber ja, sie hat mich geheilt, doch jetzt ist sie genauso abgeschottet wie die Zeit davor. Aber zumindest fackelt sie nicht mehr mein Nervensystem ab, wenn ich dir näher als einen halben Meter komme.«
»Und du weißt jetzt, zu was du als Yindarim im Stande bist«, versuchte ich ihm Mut zu machen. Er nickte einmal. Das Thema schien ihm nicht besonders zu behagen, was aber daran liegen könnte, dass es ihm schwerfiel, mit mir so offen über meinen Yindarin zu reden. Als der Stuhl wieder knirschte, gab er nach unten schielend zu bedenken: »Wenn du nicht von mir runtergehst, bricht dein Stuhl zusammen. Der ist wohl kaum für unser gemeinsames Gewicht ausgelegt.« Wie um das zu unterstreichen, knackte der Drehstuhl.
Widerwillig murmelte ich, mich an Nighton schmiegend: »Ich will aber nicht. Die ganzen letzten Tage konnten wir das nicht machen. Und diesen krankhaft guten Kuss haben wir auch nicht wiederholt, obwohl du mir das versprochen hast.«
»Stimmt«, erwiderte Nighton. Vorsichtig richtete ich mich auf, wobei der Stuhl besorgniserregende Geräusche von sich gab. Ich konnte spüren, wie Nighton sich unter mir anspannte. Als ich meine Hände hinter seinem Nacken verschränkte, schaute er jedoch zu mir auf und erkannte, dass ich mir ein Grinsen verkneifen musste. Verwundert runzelte er die Stirn.
»Wieso lachst du?«, fragte er sofort neugierig. Nach wie vor grinsend lockerte ich meinen Griff um seinen Nacken und legte beide Hände auf seine Brust.
»Vor einem Jahr hast du auf diesem Stuhl gesessen und ich dort drüben und ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Und jetzt sitze ich auf dir drauf, was damals noch ein utopischer Gedanke war, deshalb lache ich. Ich glaube, mein Hirn kommt damit nicht klar«, gab ich zu und fuhr mit einem Finger die Linie seines Schlüsselbeins nach. Nighton schnaubte leise, sagte aber nichts. Er schien nicht zu wissen, wie er angemessen reagieren sollte.
Ich jedoch wusste, was ich wollte. Ich wollte mehr, wollte herausfinden, wohin das hier führen könnte.
»Ich will mehr«, raunte ich und beugte mich langsam vor. In Nightons Augen blitzte es auf. Bevor ich aufbegehren konnte, kam plötzlich Bewegung in ihn. Er schlang seine Arme um mich, stand mit mir in den Armen auf und stellte mich auf die Füße. Überrascht blinzelte ich.
Kurz überlegte er, dann griff er nach meinen Händen und hielt sie fest.
»Ich kann mir vorstellen, was du mit diesem mehr meinst, aber nein, nicht so. Du bist noch nicht vollständig gesund, deine kleine Schwester mit ihren Elefantenohren sitzt ein Zimmer weiter und-«, er zögerte, »-ich fände das etwas überstürzt. Lass es uns langsam angehen, ja? Das alles ist Neuland für mich und ich will es auf keinen Fall wieder versauen, verstehst du?« Mit bittender Miene schaute er auf mich hinab. Ich hingegen schluckte und sank etwas in mir zusammen. Oh. Er war nicht bereit? Irgendwo hatte er ja Recht, vor allem mit meiner Krankheit, aber ... ein Teil von mir hatte nicht damit gerechnet, zurückgewiesen zu werden. Andererseits schien es trotzdem ein gutes Zeichen dafür zu sein, dass er es ernst meinte.
Nighton entging meine Reaktion nicht. Er verstärkte den Druck um meine Hände und hob sie ein Stück empor, seinen Blick intensivierend und bemerkte mit einem vielsagenden Lächeln um den Mund, bei dem mir ganz anders wurde: »Außerdem ist dieses knarzende, uralte Bett die reinste Katastrophe.«
Natürlich wusste ich, worauf er anspielte. Damit brachte er mich zum Lachen.
»Blödmann«, kommentierte ich schwach grinsend und entzog ihm meine Hände, um mich zu setzen. Offenbar war ich wirklich nicht vollständig fit, zumindest fühlte ich mich auf einmal weniger gut als noch vor fünf Minuten. Wenn mein geliebter Autor da heute Abend nicht auftauchen würde... Meine Knie waren weich und mein Herz pumpte, als wäre ich einen Marathon gelaufen. Auch mein Kopf fühlte sich an wie eine aufgedrehte Heizung. Auch das entging Nighton in keinster Weise. Ein stark zweifelnder Blick streifte mich.
»Also tut mir ja leid, dass ich dir damit in den Ohren liege, aber da du selbst nicht drauf zu kommen scheinst, muss ich wohl weiter versuchen, es dir klarmachen. Du gehörst ins Bett, Jen«, kommentierte er ernsthaft und ohne jeden Schalk oder Spott. Ich stöhnte leise und versicherte dennoch: »Es geht schon. Ich sollte jetzt nach dem Essen sehen.« Damit erhob ich mich. Nighton hielt mich zurück und reichte mir die Packung mit Paracetamol, die er von meinem Schreibtisch genommen hatte.
»Nimm wenigstens eine hiervon, wenn du schon nicht auf mich hören willst«, bat er mich seufzend.
Ich gab klein bei, nahm die Tabletten und spülte eine von ihnen mit einem großen Schluck Wasser runter, das in einem Glas auf meinem Nachttisch stand.
»Brav«, lobte Nighton im Anschluss trocken.
Ich grollte nur: »Haha!« Damit lief ich in die Küche, um die Paprika vor dem Feuertod zu retten.
Ob das heute Abend gut gehen würde?
Keine Ahnung.
Aber Stephen King war es wert.