Ich hatte gerade den Arm gehoben, um Penny zu winken, da sickerten Uriels Worte durch mein Gehirn. Sofort starrte ich den blonden Erzengel mit dem Zopf an, als hätte Uriel eine Art Scherz gemacht – und zwar keinen besonders guten. »Was… was meinst du mit ‚Habt ihr schon einen Namen‘? Wofür? Für… nein, nein, auf gar keinen Fall. Ich bin nicht schwanger!«, zischte ich mit unterdrückter Stimme. Und als müsste ich es mir noch einmal selbst beweisen, schob ich direkt hinterher: »Es ist unmöglich. Nighton ist steril, ich bin steril und – und ich kriege regelmäßig meine Periode. Du irrst dich. Ich will nichts davon hören.«
Ich hoffte so sehr, dass niemand von den anderen gerade zuhörte. Schon gar nicht Nighton.
Ich hatte erwartet, dass Uriel mir zustimmen, vielleicht sogar darüber lachen würde. Stattdessen sah sie mich ruhig an, und dann, als würde sie mir ein Geheimnis verraten, zog sich ein sanftes Lächeln über ihre Lippen. »Bei übernatürlichen Kindern läuft vieles anders, Jennifer. Ich erkenne die Anzeichen.« Ihre Stimme war weich, fast beruhigend, und doch schienen ihre Worte nur ein dunkles Echo in mir zu hinterlassen.
Übernatürlich.
Kinder.
Anders.
»Nein, das… das kann nicht sein.« Mit einem Mal klopfte mein Herz so laut, dass es schmerzte. Mein Kopf schüttelte sich automatisch, als könnte ich das, was sie sagte, dadurch abstreifen, es zurückschieben in die Welt der Unmöglichkeiten. Aber die Realität kroch wie eiskaltes Wasser in meine Gedanken und ließ keinen Raum mehr für Zweifel. Schwanger. Ich, schwanger?
In der nächsten Sekunde zog sich die Panik wie ein glühender Draht durch meine Adern. Ich war doch selbst noch ein Kind, gerade mal neunzehn, kaum in der Lage, mein eigenes Leben in geordneten Bahnen zu halten. Kinder… das war etwas, das nicht in meine Welt passte. Ich wollte keine Kinder, schon gar nicht jetzt, und vielleicht sogar niemals. Als ich erfahren hatte, dass ich durch Sekeera steril geworden war, hatte ich einen Moment gebraucht, um das zu verarbeiten, doch dann hatte ich mich mit dem Gedanken angefreundet, kinderlos zu bleiben. Was konnte ich einem Kind schon bieten, außer ein gefährliches Leben mit einer grauenhaften Mutter? Ich meine – ich hatte ja selbst nicht mal eine Mutter gehabt, ich wusste nicht, wie sich das anfühlen sollte, jemanden zu lieben und aufzuziehen, ohne zu scheitern.
Warum also war ich jetzt doch nicht unfruchtbar? Das ergab keinen Sinn!
Uriel legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und lächelte mich an. »Bewahre die Nerven. Das ist kein Weltuntergang. Du bist nicht allein. Du hast Nighton.«
Nighton. Meine Panik stieg sprunghaft an, weckte eine Art Angst, die wie eine Faust in meiner Magengrube landete. Was würde er bloß sagen? Er hatte sein Kind vor über einem Jahrhundert begraben müssen. Was, wenn ihn das jetzt komplett aus der Bahn warf, wenn er bei dem Gedanken an ein Kind in Panik geriet und verschwinden würde – oder schlimmer noch, wenn er das Kind etwa auch noch bekommen wollte? Was, wenn das bedeutete, dass ich eine von diesen Teenie-Müttern werden würde, die in ihren besten Jahren nur noch für ihre Kinder existierten und mit sechsundzwanzig schon vier Kinder hatten?
Mein Kopf schwirrte, und es wurde immer schwieriger, auch nur klar zu denken. Nighton und ich hatten doch schon genug Sorgen und Ängste, die fast unerträglich schwer waren – Anna war da draußen, allein und verloren, sie brauchte Hilfe, Selenes Pläne schwebten drohend über uns, Asmodeus gab es auch noch und alles, was dazwischen lag. Und jetzt auch noch das…
Mein Blick flatterte inzwischen unkontrolliert hin und her, mir wurde noch kälter, und mir schien der Boden unter den Füßen zu schwinden. Finger legten sich um meine Kehle und drückten mir die Luft weg. Ich sah nur noch Uriels besorgten Blick, konnte nicht anders, als in ihrem Gesicht nach einem Zeichen zu suchen, dass das vielleicht doch nur ein großer Scherz war.
Da hörte ich es. Ein tiefes, rhythmisches Brummen über uns, das näherkam, das Geräusch eines Helikopters, dessen Rotoren durch die Luft schnitten und den Nebel der Panik in meinem Kopf vorerst zerfetzten. Für einen Augenblick wurden meine Gedanken klarer. Der Lärm brachte mich zurück in die Realität, gab mir etwas, das mich ablenkte, woran ich mich festhalten konnte. Ich wollte nicht daran denken, wollte mich nicht damit befassen. Nein, nein!
Drei Helikopter tauchten aus den Wolken auf und zogen schwerfällige Kreise über uns. Plötzlich schalteten sie ihre Scheinwerfer an, grelle Strahlen, die sich durch die Dunkelheit bohrten und auf den reglosen Körper des Grottenmahrs zielten. Das Licht tanzte auf dem ledrigen, zerfurchten Fleisch des Dämons, und ich hielt den Atem an, als sich die Maschinen tiefer senkten.
Da seilten sich auch schon fünfzehn schwer bewaffnete Männer ab, einer nach dem anderen, und sie alle richteten ihre Waffen auf das Monster. Waren das E-VA-Cs in ihren Händen? Jene Waffe, die Kellahan so hoch angepriesen hatte? Nein, oder? Ich konnte das von hier nicht genau erkennen, aber allein beim Gedanken daran, sie könnten mit einer E-VA-C auf Nighton schießen, verkrampfte sich alles in mir. Wir wussten nicht, was diese Waffe konnte - und ich wollte es um keinen Preis herausfinden. Aber wenigstens schien Ajax schon mal nicht bei ihnen zu sein – das steigerte unsere Chancen.
Doch bevor ich weiter beobachten konnte, gab einer der Männer einen Schuss ab. Ein lautes Krachen, das durch die Umgebung hallte, und plötzlich kam Bewegung in den Grottenmahr. Er brüllte zornig, bäumte sich auf, als hätte ihm der Schuss neue Lebenskraft eingehaucht. Grünliches Licht begann unter seiner Haut zu pulsierend, glühend und unheimlich, und plötzlich war er nicht mehr nur eine leblos wirkende Hülle. Er war wütend und lebendig. Sehr lebendig.
Mit einem gequälten Kreischen zerlegte der Wurm den Käfig und versuchte, nach einem der Männer zu schnappen, der ihm nächsten war. Er verfehlte den Menschen zwar, doch als die anderen Soldaten realisierten, dass der Dämon nach einem von ihnen gebissen hatte, eröffneten sie das Feuer. Magazin um Magazin pumpten sie in das Monster, doch es schluckte jede einzelne Kugel, saugte die Angriffe förmlich in sich auf und wuchs, als ob das Feuer es nähren würde. Ich schnappte entsetzt nach Luft und presste mir die Hände auf die Ohren, während Uriel mich beinahe instinktiv mit sich zu Boden zog, als hätte sie Sorge, dass eine der Kugeln in meine Richtung fliegen könnte.
Toller Käfig, stabile Handwerkskunst!
»Wo bleibt denn das Zeichen? Verdammt!«, fluchte Uriel auf einmal und sprang auf. Sie winkte hektisch Ashila zu, die bereits mit einem Pfeil auf den Wurm zielte. Doch nichts schien die Kreatur jetzt noch aufhalten zu können. Der Wurm schlängelte sich vorwärts, streckte sich und verschlang einen schreienden Soldaten mit einem schmatzenden Geräusch, indem er ein zweites Maul ausfuhr – wie ein Schacht, der nach allem gierte, was sich bewegte.
Ich schluckte, der Kloß in meinem Hals fühlte sich wie Stahl an, und der Alptraum da unten ließ meine Gedanken rasen. Es ging gerade alles schief, was nur schiefgehen konnte. Genauso wie… ach, vielleicht hatte Uriel einfach keine Ahnung, es konnte doch auch sein, dass übernatürliche Regeln nicht für mich galten? Ja, genau! Ich musste einfach nur … Nein. Nein, jetzt durfte ich nicht daran denken. Es war viel zu gefährlich, was um mich herum gerade abging, da durfte ich mir nicht erlauben, in meine Gedankenwelt abzudriften. Ich sollte die Nerven bewahren… nein, ich musste.
»Rettet die Menschen!« Michaels donnernde Stimme riss mich endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Befehl des Erzengels hallte in der Grube wider, und die Soldaten starrten ungläubig umher, so als hätten sie die Kontrolle über die Situation längst aufgegeben und würden sich lieber mit der fremden Stimme auseinandersetzen, die soeben erschollen war. Das Chaos wurde perfekt, als die Engel und Dämonen, die in ihren Verstecken gewartet hatten, sich nun ebenfalls in die Schlacht stürzten.
Der Grottenmahr, inzwischen doppelt so groß wie zuvor und bedrohlich wie ein Seeungeheuer, peitschte auf die Wände der Grube zu und bohrte sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit ein Loch, das die Erde um ihn herum erbeben ließ. Staub und Schutt wurden durch die Luft geschleudert und begruben Engel, Dämonen und Menschen gleichermaßen. Und der Dämon verschwand ins Erdreich.
Als auf einmal ein Hagel aus Kugeln in den Container einschlug, kreischte ich auf und duckte mich wieder. In meiner geduckten Position bemerkte ich eine Bewegung weit hinter uns, also schielte ich in die Richtung, die entgegengesetzt zu dem Tumult dort unten lag. Dort hinten waren noch mehr Soldaten, und sie kamen unbemerkt auf uns zu. Ein paar von ihnen schoben ein monströses Abschussgerät auf einem Metallwagen durch den Sand der Baustelle – ein riesiges, klobiges Ding mit einer Kanonenmündung, die bedrohlich glänzte.
Ein Blitz durchfuhr mich, als sich mein Blick mit dem eines der Soldaten kreuzte, der daraufhin den Arm anhob. Sie hatten mich gesehen. Und sie wussten, dass ich sie gesehen hatte. Bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, um Uriel zu warnen, richteten die Soldaten die Kanone auf mich, und der eisige Schauer, der mir über den Rücken lief, ließ mich in Panik ausbrechen. Bevor ich darüber nachdenken konnte, stemmte ich mich aus meiner halb liegenden Position hoch und sprang vom Container runter. Mein Körper schien automatisch zu arbeiten, ich musste gar nichts tun.
»Was tust du denn?!«, gellte Uriels Stimme durch den Lärm, sie, doch ich schrie nur zurück: »Vorsicht, die schießen!«
Die Frage, warum ich mich hier vom Regen in die Traufe begab, schoss mir durch den Kopf, aber die Antwort kam mir, bevor ich auch nur auf dem Boden aufkam: Nicht nur ich war jetzt in Gefahr.
Wie um meine Annahme zu bestätigen, schoss ein greller Blitz heran, und ein ohrenbetäubender Knall ließ die Nacht erzittern. Der Container, auf dem ich eben noch gemeinsam mit Uriel gelegen hatte, explodierte. Ich spürte den Druck wie eine Welle, die sich unter meine Füße schob und mich rückwärts auf die Grube zu katapultierte. Alles ging so verflucht schnell, ich hatte nicht einmal Gelegenheit, mich zu erschrecken. Hoch über mir sah ich den geflügelten Schemen Uriels, der sich wie eine Schraube in den Nachthimmel hochdrehte. Mein Körper flog währenddessen halb über den Rand der Grube, bevor die Schwerkraft mich packte und ich den sandigen, unebenen Hang hinabrollte. Dabei verlor ich völlig die Orientierung. Staub wirbelte um mich herum, kleine Steine schürften über meine Haut, und ich war absolut machtlos dagegen. Jeder erneute Aufprall ließ den dumpfen Schmerz in mir widerhallen, und ich bekam nicht mal mit, wie ich unten in der Grube zum Liegen kam.
»Jen!« Nightons panische Stimme war das Nächste, was ich wahrnahm, dicht an meinem Ohr. Seine Hände packten mich und halfen mir auf die Füße, seine Augen huschten prüfend über mich, und ich konnte in seinem Gesicht eine flackernde Besorgnis erkennen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er hastig, wobei er gegen den Lärm der Rotorblätter anschreien musste. Ziemlich benommen nickte ich, kämpfte mit dem Wind, dem Sand in meinen Augen und gegen den Drang an, eine Hand auf meinen Unterleib zu legen.
»Ja… ich glaube schon«, murmelte ich, zwang mich aber, die Benommenheit abzuschütteln und versuchte, das Zittern in meinen Gliedmaßen zu ignorieren. Oh Gott
Doch die Zeit ließ uns nicht lange ruhen. Kaum hatte Nighton mich vom Rand der Grube weggezogen und hinter sich gebracht, war das Scheinwerferlicht des Helikopters auf uns alle gerichtet. Es war so strahlend hell, dass es in meinen Augen schmerzte und mich so arg blendete, dass ich halb hinter Nightons Statur in Deckung gehen musste. Die Soldaten rückten näher, mit blankem Entsetzen und Überraschung in den Gesichtern und fest umklammerten Waffen, deren Mündungen sie auf uns gerichtet hatten.
Vom Rand der Grube gesellte sich neuer Tumult dazu – die Männer, die eben auf Uriel und mich geschossen hatten, seilten sich ab, und die Spannung verdichtete sich. Ich griff unwillkürlich nach Nighton, um mich an seinem Arm festzuhalten. Jetzt war ich hier unten mit all den anderen in diesem Kessel aus Sand gefangen, und konnte nur hoffen, dass die Menschen nicht wieder anfangen würden zu schießen.
Da drehte der Helikopter über uns ab, und für einen Moment war ich erleichtert – vielleicht hatte er den Wurm entdeckt und folgte ihm? Aber… was, wenn die Menschen Verstärkung holten? Was, wenn dieser Ajax schon unterwegs war, um Nighton einzusacken? Mit dem Helikopter verschwand das Licht, doch die blendenden Flecken brannten immer noch auf meiner Netzhaut.
»Identifizieren Sie sich!« Eine harsche Stimme scholl durch die Grube und den Sandnebel, der sich zu legen begonnen hatte. Ich zuckte zusammen. Die Soldaten, die uns eingekreist hatten, standen straff, die Waffen weiterhin auf uns gerichtet. Ich sah, wie Nighton sich kurz zu dem halb verschütteten Loch des Grottenmahrs umdrehte. Er grollte leise, als müsste er seinem Impuls, dem Dämon zu folgen, widerstehen. Ich konnte seine Anspannung als prickelnde Wärme auf meiner Haut spüren, und ich sah, wie es in seinen Augen grün-gräulich aufflackerte. Reflexartig griff ich nach seinem Arm und hielt ihn fest, auch wenn ich wusste, dass ihn das wohl kaum aufhalten würde, wenn er vorhaben sollte, dem Dämon zu folgen oder die Soldatenreihen zu durchbrechen.
Auch den anderen konnte ich ihre Nervosität ansehen – Michael etwa umklammerte sein Riesenschwert, das noch in seinem Heft steckte, Ashila und Namilé sahen immer wieder zwischen den Menschen und dem Loch des Wurms hin und her, und Gil sowie Raphael konnten nicht einmal still auf der Stelle stehen, so aufgeregt wirkten sie.
»Wir müssen den Wurm verfolgen!«, kam es von Nighton. Seine Stimme war kühl und laut, ohne jede Bitte, und wenn man ihn nicht kannte, wäre einem der nervöse Unterton darin entgangen. Doch sobald das letzte Wort seinen Mund verlassen hatte, fuhr ihm der Soldat dazwischen: »Ich sagte, identifizieren Sie sich!« Unter meinen Fingern spürte ich die Muskeln in Nightons Arm zucken, als er sich aufbäumte, doch er widerstand. Hoffentlich riss auch Sekeera sich am Riemen!
Panik breitete sich unter den Soldaten aus, als Nighton sich ein Stück weit in Sekeera verwandelte, was von Tharosytn und Gabriel mit sehr angespannten Mienen beobachtet wurde. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass Nighton die Kontrolle verlor.
Einer der Soldaten zeigte auf Nighton und rief: »Das sind Extraterristen!« Er packte seine Waffe fester. »Sir, was sollen wir tun? Soll ich Meldung machen?«
»Ruhe, Fünf!« Der Soldat an der Spitze, offenbar der Anführer, zog sich die Sturmmaske vom Gesicht. Sein wettergegerbtes Gesicht mit dem kurzen grauen Haar sah verkniffen und misstrauisch aus, wie ein Mann, der nichts übersah. Seine Augen glitten über uns und blieben erst an Nighton und dann an mir hängen. Sofort schob sich Nighton vor mich, schirmte mich mit seiner Schulter noch etwas weiter ab, und ich fühlte eine hitzige Welle aus Trotz und Dankbarkeit zugleich in mir aufsteigen.
»Wer seid ihr? Was habt ihr hier zu suchen?« Der Kommandant der Menschen hatte mit scharfer und durchdringender Stimme gesprochen. Ich konnte spüren, wie die Anspannung weiter um sich griff, doch keiner hier antwortete. Wenigstens war Kellahan nicht da, oder Ajax… ansonsten hätte bestimmt schon jemand abgedrückt. Der Gedanke, dass vielleicht schon ein riesiges Sondereinsatzkommando unterwegs war, löste Übelkeit in mir aus. Ich wünschte mir mit jeder Faser, dass es nicht so kommen würde.
Tharostyn schob sich plötzlich an Gabriel und Raphael vorbei, die schützend vor ihm verharrt hatten, und humpelten dem Kommandanten entgegen. Der Mann runzelte die Stirn, als hätte er noch nie jemanden wir Tharostyn gesehen. Der uralte Engel hielt mit einigem Abstand zu dem Menschen an, neigte den Kopf und sprach, und obwohl seine Stimme ruhig und nahezu freundlich klang, schwang ein Hauch Ungeduld darin mit.
»Wir wissen, dass Sie Fragen haben, Mensch, doch der Grottenmahr ist entwischt. Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird er über eure Menschenstadt herfallen. Wollen Sie das riskieren?«
Der Kommandant blieb still, ließ seinen Blick über Tharostyn und dann wieder über den Rest von uns gleiten, bis er ein zweites Mal an Nighton hängen blieb. »Sie da«, sagte er zu Nighton. »Ich kenne Ihr Gesicht. Aus Irland. Sie sind der Hybrid.« Nighton antwortete nicht, aber das musste er auch nicht. Der Ausdruck in den Augen des Mannes verhärtete sich. »An dem Tag haben Sie einen Haufen Männer getötet. Gute Männer!«
»Ich habe getan, was ich tun musste!«, erwiderte Nighton schroff, bevor er auf das Loch zeigte und mit Nachdruck sagte: »Wir haben keine Zeit jetzt dafür, der Mahr könnte das Gebiet längst verlassen haben!«
Mit einem finsteren Blick schnaubte der Kommandant. »Ihr seid Extraterristen«, entgegnete er grimmig, »wer garantiert mir, dass nicht genau das euer Plan war?«
Ein weiterer Soldat in der zweiten Reihe grunzte und lud seine Waffe durch. »Lassen Sie uns das beenden, Sir, bevor diese Monster uns töten!«
»Ich sagte, Ruhe! Das gilt auch für dich, Zwölf!«, rief der Anführer der Menschen verärgert. Tharostyn begann erneut, mit ruhiger Stimme zu sprechen, doch ich hörte ihm nicht zu. Stattdessen sah ich an Nighton hoch. Sein Blick ruhte immer noch starr auf dem Kommandanten, und ich konnte seiner Haltung ablesen, dass er sich am liebsten auf den Mann gestürzt hätte. Wieder verstärkte ich den Druck meiner Hand. Plötzlich drehte er den Kopf leicht zur Seite. Sein Blick traf sich mit dem von Evelyn, und nach einem kurzen, kaum merklichen Nicken von ihm trat sie zwischen den anderen hervor. Sam haschte noch nach ihrem Handgelenk, doch er erwischte sie nicht. Erschrocken hielt ich die Luft an. Was hatte sie vor?!
Ich beobachtete verwirrt und besorgt, wie Evelyn weiter nach vorne schritt. Ihre Augen waren auf den Kommandanten und die anderen Soldaten gerichtet, und sie bewegte sich auf einmal mit einer Eleganz, die so unnatürlich und schillernd war, dass sogar ich einen flüchtigen Schauer in meinem Nacken verspürte. Ich sah, wie Penny die Augen verengte, als hätte sie eine Art Eingebung, und auch Melvyn weiter hinten reckte bereits den Hals. Evelyns Ausstrahlung schien plötzlich wie eine Woge zu sein, die umher glitt und sich auf die Soldaten ausdehnte. Was zur Hölle machte sie da?
Ohne es zu bemerken, schoben sich die Männer ein wenig auseinander und folgten Evelyn mit den Blicken. Einigen stand sogar der Mund ein Stück offen dabei. Es war, als hätte ihre Feindlichkeit auf einmal keinen Platz mehr hier, als ob Evelyn die Luft selbst in etwas Reines und Schwereloses verwandelte. Ein schwelender Duft, süß und fremd, legte sich über die Grube, der mir zu Kopfe stieg und mich schwindeln ließ.
»Halt die Luft an«, raunte Nighton mir über seine Schulter hinweg zu. Im nächsten Moment schon hob Evelyn den Kopf, und ihre Stimme glitt aus ihrem Mund wie ein sanfter Singsang, aber in einer Tiefe, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Sie klang fast ein bisschen… äh, wollüstig? Als mir das klar wurde, schnappte ich nach Luft und hielt den Atem an, ganz wie Nighton es mir gesagt hatte. Den Grund dafür kannte ich nicht, aber ich vertraute ihm – er wusste schon, wozu das gut sein sollte.
»Niemand wird euch verletzen«, versprach Evelyn an die Soldaten gewandt, deren volle Aufmerksamkeit sie nach wie vor besaß. »Alles wird gut. Lasst uns zusammenarbeiten.« Ihr Blick wanderte sanft über jeden einzelnen der Männer, und in ihren Worten schwang ein Rhythmus mit, der so hypnotisch war, dass selbst ich mich an ihrem Versprechen festhalten wollte. Und tatsächlich, die Soldaten ließen langsam die Waffen sinken. Irgendwie, und das konnte ich mir nicht genau erklären, spürte ich, dass Evelyn ihnen gerade eine Art Schutzgewissheit einflüsterte. Ich konnte einfach nur starren und dastehen, die Wangen aufgeblasen.
Nighton lehnte sich leicht zu mir. »Sukkubus-Gene«, murmelte er in einem Ton, der beinahe amüsiert klang. Über diese Worte hinweg vergaß ich, die Luft weiter anzuhalten, die mir daraufhin mit einem Plopp-Geräusch entwich. Mir klappte der Mund auf. Evelyn? Evelyn, die nichts ernst nahm, immer auf Streit aus war und alles ins Bett zerrte, was nicht bei drei auf dem Baum war? Gut, Letzteres passte, aber… ein Sukkubus? Hieß das, sie war mit Lilith verwandt, dem Sukkubus schlechthin, der Selene diente? Hm, also wenn das so war, würde das tatsächlich einiges erklären. Vor allem ihre Art gerade – und dass die meisten Männer auf sie zu fliegen schienen. Das war ja schon in Dun’Creld so gewesen. Wieder schaute ich in die Gesichter der Soldaten. Sie waren vollkommen in Evelyns Bann, die Augen glasig und voller Ehrfurcht.
Evelyns Stimme perlte noch einmal durch die Luft. »Ihr seid sicher bei uns. Wir schützen euch.«
»Gut«, murmelte der Kommandant der Menschen, völlig gefangen von Evelyns Bann. Seine Augen schimmerten ganz glasig dabei. Mit Mühe schien er seinen Blick von ihr loszureißen und räusperte sich. »Wir haben auf einen Notruf hin erfahren, dass hier ein Extraterrist sein Unwesen treibt. Ich nehme an, das gerade war er?« Er zeigte mit dem Daumen hinter sich auf das halb verschüttete Loch. Einige der Engel und Dämonen nickten. Ich konnte den Argwohn immer noch spüren, der herrschte, aber Evelyn hatte dafür gesorgt, dass ein Teil der Anspannung gewichen war. Sie stand immer noch an Ort und Stelle und fixierte die Soldaten.
»Ganz recht, Mensch«, bejahte Michael schließlich und trat an Tharostyns Seite, bevor der alte Engel übernahm. »Diese Art von unbeseeltem Dämon nennen wir Grottenmahr.« Er setzte an, das Wesen und seine Herkunft detaillierter zu erläutern. Doch in diesem Moment streifte Nighton meine Hand ab und ging in die Knie, um eine der Patronenhülsen vom Boden aufzuheben. Ein stechender Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus, als das Metall seine Haut berührte, und fluchend ließ er es beinahe wieder fallen, bevor er es durch den Stoff seiner Jacke abschirmte. Wut glomm in seinen Augen auf, als er die Hülse genauer betrachtete und sie dafür etwas anhob. Auch ich wollte einen Blick auf das Metallding werfen, das Nighton so interessierte, doch da platzte der schon in Tharostyns Erläuterungen hinein.
»Ihr schießt reines Yagransin auf unbeseelte Dämonen?« Erschüttert und wütend zugleich funkelte er die Menschen an. Tharostyn warf ihm einen raschen, tadelnden Blick zu, doch Nightons Stimme schwoll nur noch an. »Wisst ihr eigentlich, was ihr da tut? Was Yagransin für ein Material ist? Es ist eine Droge für Dämonen, ein Kampfstimuli! Ihr Vollidioten verstärkt damit genau das, was ihr zu bekämpfen versucht!« Sogar Michael warf Nighton bei dessen unsensiblen Worten jetzt einen maßregelnden Blick zu, doch es war der Kommandant der Menschen selbst, der sich nun verteidigte, indem er einen Schritt vor tat und rief: »Unsere Waffenforschung geht dich mitnichten etwas an, Hybrid! Du kannst froh sein, dass wir das HQ noch nicht informiert haben, sonst säßest du schon in einer Zelle des Bunkers!«
»Oh, denkst du das, ja?«, knurrte Nighton und machte einen Schritt auf den Menschen zu, der nicht zurückwich. Nightons Blick glühte, und ich konnte die Spannung in ihm förmlich greifen. Auch die Erzengel und die anderen strafften sich, als machten sie sich bereit, dazwischenzugehen.
»Lass mich dich an etwas erinn…«
»Nighton, lass ihn, es ist keine Zeit für dieses Platzhirschgehabe! Der Wurm!«, fiel ich Nighton unwirsch ins Wort, was den dazu brachte, zu mir zu sehen. Ich bekam noch mehr Blicke ab, doch ich blendete alle aus und schaute stattdessen flehend zu Nighton, der einmal nickte und sich anschließend straffte. »Du hast Recht«, lenkte er sanft ein, bevor er mit kühler Stimme an den Kommandanten gewandt sagte, ohne diesen anzusehen: »Wir sind nicht hier, um Krieg zu führen. Jedenfalls nicht heute.«
»Richtig, richtig danke, Yindarin«, löste Tharostyn Nighton mit einem Seitenblick ab, der Bände sprach. »Wir bieten euch unsere Hilfe an, um das Wesen zu jagen, das weder Eures- noch Unseresgleichen verschont. Keiner von uns möchte einen Konflikt mit euch Menschen, und ich denke, da spreche ich für alle von uns.« Er trat nach vorne. Ich konnte sehen, dass einige der Soldaten ihre Waffen wieder umklammerten, als würde ihnen das helfen, die Situation durchzustehen. Tharostyn hielt inne und stützte sich auf seinen Stock. »Stellt euch vor, wie wir hier einen historischen Meilenstein setzen könnten – eine Allianz zwischen Menschen und übernatürlichen Wesen, die Hand in Hand kämpfen, um die Diener der Hölle zu vernichten!«
Die Worte des alten Engels hallten in der Stille wider, durchzogen von einer Hoffnung, die beinahe ergreifend war. Dass wir den Wurm absichtlich hier platziert hatten und ihn mehr oder weniger auf London losließen, ließ Tharostyn dabei natürlich aus. Das hätte den Moment wohl ruiniert.
Ein leises Murmeln ging durch die Soldaten, Blicke flackerten unter den Helmen hin und her, und nach einem kurzen, zögerlichen Nicken des Kommandanten sanken die Gewehrläufe allmählich wieder. Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich merkte erst jetzt, dass ich erneut die Luft angehalten hatte, und das, obwohl Evelyn ihre Kräfte gar nicht benutzte. Neben mir schloss Nighton kurz die Augen, als hätte auch er für einen Augenblick gezittert, doch als er mich ansah, lag nur ein Hauch von Erleichterung in seinen ungewöhnlich dunklen Augen.
»Gut gesprochen, Meister«, lobte Gabriel und trat nun selbst vor in die Mitte der Gruppe. »So lauscht nun unserem Plan.«