Als Nighton mich durch die Flure des Schlosses führte, wurde mir klar, dass es diesmal nicht zum Thronsaal oder Kartenraum ging. Stattdessen war unser Ziel eine hohe Tür aus bläulichem Glas, die wie flüssiges Wasser schimmerte. Vor der wartete schon Tharostyn auf uns, der sich auf seinen Stock stützte.
»Ah, da sind Sie ja, Miss Ascot!«, rief er mir entgegen. So langsam wurde ich richtig neugierig. Worum es wohl ging? Und in welchem Teil des Schlosses waren wir hier überhaupt?
Sobald wir bei ihm angelangt waren, griff Tharostyn nach meiner Hand und drückte sie fest. Wieder einmal musste ich die Stärke des alten Engels bewundern.
»Schön, Sie zu sehen. Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich erinnere mich noch an Ihre bemerkenswerte Auferstehung vor einem Jahr, fast, als wäre sie erst gestern gewesen.«
Ich zwang mich zu lächeln. Klar, daran wollte ich jetzt besonders gern zurückdenken. Tharostyn schaute zu Nighton und nickte ihm zu.
»Danke, dass du sie gebracht hast, Nighton aber jetzt such dir eine Beschäftigung, während ich mit Miss Ascot spreche. Das, was vor uns liegt, werde ich allein mit ihr bestreiten. Du kannst nachher am Löwenkopf zu uns stoßen, ich lasse nach dir schicken.«
Deutliches Unbehagen glitt durch Nightons Gesicht und er nahm eine Abwehrhaltung ein.
»Auf keinen Fall lasse ich sie jetzt allein auch nur zum Niesen um die nächste Ecke gehen«, widersprach er sofort erschrocken. »In den letzten Tagen ist jedes Mal etwas passiert, wenn ich nicht in ihrer Nähe war. Und jetzt soll sie Euch allein folgen? Das kommt nicht infrage! Was wollt Ihr überhaupt von ihr?«
Bevor ich etwas sagen konnte, drückte Tharostyn meinen Arm fester, als wollte er mir versichern, dass er alles im Griff hatte. Sein Lächeln war gelassen, doch ich sah die Entschlossenheit in seinen Augen.
»Nighton-«, begann er ruhig, »-deine Fürsorge für Miss Ascot in aller Ehre, aber sie ist kein kleines Mädchen mehr. Sie hat bewiesen, dass sie stark und klug genug ist, um Herausforderungen allein zu meistern. Das, weswegen ich sie habe rufen lassen, geht für den Moment nur sie etwas an. Du musst lernen, ihr zu vertrauen. Und mir.«
Ich hob eine Hand und öffnete den Mund, um meine Meinung dazu zu sagen, doch Nighton ließ mich nicht zu Wort kommen. Unwirsch erwiderte er: »Das ist nicht der Punkt. Es geht nicht um Vertrauen, sondern um Vorsicht. In letzter Zeit gab es zu viele Momente, in denen ich sie fast verloren hätte. Ihr wisst doch, dass die Zwillinge sie jagen, und als wäre das nicht genug, sind inzwischen auch noch die Menschen hinter ihr her. Ich will nicht, dass sie sich in Gefahr begibt, vor allem dann nicht, wenn ich nicht zu hören kriege, was Ihr mit ihr vorhabt.«
Tharostyns Lächeln verschwand, und er erwiderte Nightons forschen Blick nun mit einem Hauch von Strenge.
»Du überschreitest deine Grenzen, Yindarin. Deine Rolle ist es, Miss Ascot zu unterstützen, nicht, sie zu bevormunden. Sie hat ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, welchen Herausforderungen sie sich stellt. Du wirst noch früh genug erfahren, worüber ich mit ihr spreche.«
Nighton trat noch einen Schritt nach vorne. Die Spannung in seinen Schultern war deutlich spürbar. Mit einem leisen Knurren in der Stimme widersprach er: »Ich weiß um meine Grenzen kenne, Meister. Aber das hier geht über bloße Vorsicht hinaus. Warum sollte ich Euch vertrauen, dass Ihr sie sicher zurückbringt? Woher weiß ich denn, dass sich hinter der nächsten Ecke nicht irgendwelche Halsabschneider aufhalten, die genau auf so einen Moment warten?«
»Nighton, bitte, lass mich-« Wieder versuchte ich, mich einzumischen, doch die Spannung zwischen den beiden ließ mir kaum die Chance, mich einzubringen. Tharostyn zog eine ärgerliche Miene und schnarrte: »Es gibt kein 'Warum' oder 'Woher', Yindarin. Du wirst mir vertrauen, weil es das Richtige ist. Miss Ascot ist stärker, als du denkst, und sie verdient die Chance, sich zu beweisen. Wenn du sie wirklich beschützen willst, dann gib ihr den Raum, den sie braucht, um zu wachsen. Deine Übervorsicht wird ihr nicht helfen. Das Folgende ist ihre Entscheidung, nicht deine.«
Nighton schnaubte verächtlich und warf mir endlich einen Blick zu. »Wieso fragen wir sie nicht einfach, was sie darüber denkt?«
Ich schnaubte auf und murrte: »Ist ja nicht so, als würde ich schon seit gefühlten fünf Minuten was dazu sagen wollen!«
Missmutig schaute ich zwischen Tharostyn und Nighton hin und her, die einen raschen Blick wechselten. Der alte Engel stützte sich auf seinen Stock und schaute mich wartend an, während Nighton die Arme verschränkte. Ich suchte kurz nach den richtigen Worten, dann wandte ich mich an Nighton.
»Es ist okay«, sagte ich nach ein paar Augenblicken, meine Stimme so ruhig wie möglich haltend. »Wir sind in Oberstadt. Es wird nichts passieren, hier bin ich bestimmt sicherer als sonst wo. Du hast doch selbst gesagt, dass Teleportgrenzen gezogen wurden. Wer also sollte hier reinkommen? Ich bin nicht allein, und Tharostyn ist bei mir. Er mag alt sein, aber er ist immer noch ein Engel.«
»Alt? Wie reizend von Ihnen, Miss Ascot«, brummte Tharostyn, doch weder Nighton noch ich reagierten darauf. Der starrte mich mit einer Mischung aus Wut und Besorgnis an, bis er schließlich an Tharostyn gewandt hervorpresste: »Na gut. Aber wenn ich sie nicht in einem Stück und lebendig obendrein wiederbekomme, zünde ich erst Eure Bibliothek und dann ganz Oberstadt an, das schwöre ich!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und stapfte davon, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Ich sah ihm nach, unsicher, ob ich das Richtige getan hatte.
Mit einem kurzen Nicken hakte sich Tharostyn bei mir unter. Er schob die Tür auf und zog mich in einen weiten, runden Raum. Bevor die hohen Türflügel hinter uns zufielen, warf ich einen letzten Blick über die Schulter zu Nighton, der stehengeblieben war und mir mit einem unglücklichen Ausdruck nachsah. Sein Gesicht verriet deutlich, wie wenig ihm das alles gefiel.
Der vor uns liegende Raum glich einem Himmelsobservatorium. Über uns wölbte sich eine riesige gläserne Kuppel, durch die die untergehende Sonne goldenes Licht hineinwarf. Sterne begannen bereits, hoch oben am Firmament zu funkeln, und die ersten Dämmerungswolken zogen wie sanfte Schattenspiele über den Himmel. Der Boden des runden Raumes bestand aus glattem, weißem Marmor, der das Licht in allen Farben reflektierte, und an den Wänden hingen prächtige Karten des Himmels und der Gestirne, die in warmem, gelblichem Licht der sinkenden Sonne schimmerten.
In der Mitte des Raums stand ein großer Tisch aus dunklem Holz, auf dem ein antikes Astrolabium und verschiedene Sternenkarten ausgebreitet waren. Die Luft war erfüllt von einem leisen Summen, als ob die Sterne selbst flüsterten. Ich konnte meinen Blick kaum abwenden, so faszinierend war der Anblick.
Tharostyn lächelte leicht, als er meine Faszination bemerkte.
»Es ist ein besonderer Ort, nicht wahr? Das Himmelsobservatorium ist ein Ort des Wissens und der Einsicht. Hier studieren wir die Sterne und lesen in den Himmeln, was das Schicksal für uns bereithält. Dies war einst der Rückzugsort Azzraels, einem der Erzengel. Allerdings war er lange nicht mehr hier. Eigentlich wollte ich Sie gar nicht hier drin empfangen, aber ich suche ein paar antike Dokumente, die ich irgendwo in diesen Wänden vermute. Aber das braucht Sie nicht zu interessieren.«
Azzrael? Erzengel? Ob er vielleicht Jason meinte? Doch ich zog es vor, nicht nachzufragen und trat stattdessen stumm an den Tisch heran. Meine Finger glitten über die Karten. Was musste hier für ein Wissensschatz liegen? Tharostyn ließ mir die Zeit, die Eindrücke aufzusaugen, bevor er sich auf seinen Stock stützte und leise zu sprechen begann: »Der Verlust Ihres Yindarins tat mir seit jeher sehr leid, Miss Ascot.« Seine Stimme war sanft, fast bedauernd. Überrascht hob ich den Kopf.
»Ist okay«, antwortete ich zögerlich, nicht ganz sicher, was er hören wollte.
Der alte Engel grummelte und zeigte auf eine breite Fensterbank, die mit weichen Kissen ausgelegt war. Wir setzten uns, und er musterte mich mit seinen alten, weisen Augen.
»Machen Sie sich nicht die Mühe, mich anzulügen«, murmelte er. »Ich bin der Berater von Obersten seit Tausenden von Jahren, und ich erkenne eine Lüge, wenn man sie ausspricht.«
Ein wenig unsicher blickte ich auf meine Hände. »Was soll ich denn sagen? Natürlich fehlt Sekeera mir. Ich fühle eine Leere, die andauernd da ist. Als hätte man etwas aus mir herausgerissen. Aber damit habe ich Nighton gerettet. Also war es das wert.«
Tharostyn nickte nachdenklich. Das sanfte Licht der Dämmerung fiel auf sein faltiges Gesicht und ließ ihn fast ein wenig melancholisch wirken.
»Sie waren vielversprechend. Etwas zu impulsiv für meinen Geschmack, aber Sie waren, nein, Sie sind sehr stark.« Er tippte sich an die Schläfe und lächelte. »Hier drin.«
Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, also schwieg ich. Tharostyn erhob sich wieder und ging hinüber zu einem der großen, halbmondförmigen Fenster, durch die der klare Nachthimmel zu sehen war. Für einen Moment schwieg der alte Engel, dann sagte er etwas nachdenklich: »Nighton ist der perfekte Yindarin. Alle Engel und auch die Dämonen wissen es. Er ist stark, er birgt das Potenzial zu außergewöhnlicher Macht, er besitzt Weitblick, Intelligenz, und er hat ein weiches Herz, dessen Entdeckung ich allerdings insgeheim Ihnen zuschreibe. Er hat alle Eigenschaften eines guten Anführers.«
Ich runzelte die Stirn. Warum sprach er jetzt über Nighton?
»Und?«, fragte ich verwirrt. Tharostyn drehte sich zu mir um, seine Augen funkelten wie die Sterne über uns. »Aber es ist nicht sein Geburtsrecht, ein Yindarin zu sein. Dies gebührt Ihnen, Miss Ascot.«
Seine Worte ließen mich zusammenzucken. Entsetzt stieß ich hervor: »Ihr wollt ihm doch wohl nicht den Yindarin nehmen?« Was ein grauenhafter Gedanke!
Tharostyn hob beschwichtigend die Hände und versprach: »Nein, natürlich nicht. Was ich sagen will, ist, dass es Ihr Geburtsrecht ist, einen Yindarin mit sich zu tragen. Sie haben sich auf der gefährlichen Mission in Unterstadt, auf der Sie, wie ich hörte, ungeplant dabei waren, bewährt. Sie, ein Mensch, haben das Yagransin im Alleingang zerstört, Nighton und Miss Jackson vor dem Tode bewahrt, einen Saerperi auf übermenschliche Weise getötet und dabei fast keinen Kratzer davongetragen, was einem Wunder gleicht.«
Er ließ eine bedeutungsschwere Pause folgen, während er mich weiterhin ernst ansah. »Miss Ascot, ich habe Sie nicht hergeholt, um mit Ihnen ein bedeutungsloses Schwätzchen zu halten. Der Rat der Engel, die Erzengel, die Oberste und ich haben entschieden, dass Sie sich einem Ritual unterziehen dürfen, um zu prüfen, ob Sie eines neuen Yindarin würdig sind. Das haben Sie sich verdient, und wir sind Ihnen ohnehin einiges schuldig.«
Mir stockte der Atem. Ich konnte nicht fassen, was Tharostyn da gerade gesagt hatte. Ein Yindarin? Wieder? Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Das war mehr, was ich mir je hätte erträumen können. Dass so etwas möglich war!
Kaum, dass mich diese Aussicht hoffen ließ, drängte sich die Angst in den Vordergrund. Freitag. Das Ritual, um Asmodeus zu erwecken. Das Ritual, das ich vielleicht nicht überleben würde. Der Gedanke, dass ich vielleicht keine Zeit haben würde, um mir diesen Traum zu erfüllen, schnürte mir die Kehle zu. Was, wenn es umsonst war? Was, wenn ich sowieso nicht mehr lange zu leben hatte? Ein Teil von mir wollte aufschreien, die Ungerechtigkeit dieser Situation herausbrüllen, aber ich musste die Klappe halten. Niemand durfte von dem Ritual wissen. Trotzdem rangen Schock und Hoffnung in mir. War es etwa wirklich möglich? Sollte ich mich überhaupt freuen, wenn die Zeit so knapp bemessen war? Andererseits war das Einzige, was ich tun konnte, nach vorne zu schauen und das Beste aus dem Moment zu machen. Selbst wenn der bald enden könnte.
Warum also nicht?
Doch wie sollte sowas überhaupt funktionieren?
Bevor ich Tharostyn mit meinen Fragen löchern konnte, blickte der auf eine massive Standuhr, deren Zeiger verrückt zu spielen schienen. Ich konnte jedenfalls keine Uhrzeit auf ihnen ablesen.
»Der Durchgang zum Löwenkopf müsste nun offen sein. Kommen Sie, ich porte uns dorthin.«
Ich wollte fragen, was der Löwenkopf sein sollte, verkniff es mir aber. Stattdessen stand ich auf und ging zu dem alten Engel, der mir seinen Arm anbot. Ich hakte mich bei ihm ein und schloss die Augen, als das Rotieren begann. Augenblicke später spürte ich festen Boden unter meinen Füßen und öffnete die Augen. In der nächsten Sekunde erfasste mich ein Windstoß, der mein Haar in die Luft wirbelte und mich vorwärts schieben wollte.
Wir standen nun auf einer weiten Grasebene außerhalb des Schlosses. Die Luft war kühl und klar, und über uns funkelten die Sterne mit den Zwillingsmonden um die Wette. Das Gras um uns herum wiegte sich in einer sanften Brise, und überall schwebten kleine, leuchtende Wesen durch die Nacht, wie winzige Glühwürmchen, die einen eigenen, magischen Schein ausstrahlten. Das Schloss erhob sich in der Ferne hinter uns, ein majestätischer Monolith aus weißem Marmor, der sich gegen den Nachthimmel abzeichnete. Seine Türme funkelten im Licht der aufgehenden Sterne, und die Dächer strahlten, als wären sie mit flüssigem Silber überzogen.
»Kommen Sie, wir sind gleich da«, sagte Tharostyn und wies auf eine dunkle Silhouette in der Mitte der Ebene. Es schien eine unförmige Felsformation zu sein. Sie war nicht besonders groß oder hoch, aber etwas an diesem Ort ließ mich schaudern. Wir setzten uns in Bewegung, und je näher wir kamen, desto mehr Fackeln entzündeten sich rings um die Form, als würden sie uns den Weg weisen. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Felsen handelte, sondern um einen gigantischen steinernen Löwenkopf. Seine Züge waren so detailliert und präzise, dass es schwer zu sagen war, ob die Natur oder eine mächtige Hand ihn geformt hatte. Ich sah zu Tharostyn.
»Was werden wir hier tun?«, fragte ich und versuchte, nicht zu sehr zu zeigen, wie nervös ich war. Ich bereute bereits, mich auf Tharostyns Seite geschlagen zu haben.
»Wir betreten einen geheimen Ort«, erklärte Tharostyn. Seine Stimme wurde feierlich. Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Miss Ascot, dieser Ort ist heilig, und das Wissen darum darf niemals an die Außenwelt gelangen. Nicht einmal, wenn Ihr Leben davon abhängt. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, natürlich«, erwiderte ich schnell, denn meine Neugierde wuchs mit jedem Augenblick.
Tharostyn trat an den Löwenkopf heran und griff nach seinem Stock. Er drehte den unteren Teil ab und ließ ein kleines Stück in seiner Manteltasche verschwinden, bevor er den Stock in einer präzisen Bewegung auf den Boden setzte und ihn nach rechts drehte. Ein tiefes Grollen durchbrach die Stille, gefolgt von einem Rattern, als der Boden unter uns leicht bebte und ein versteckter Eingang im Löwenkopf sichtbar wurde. Steinige Tore glitten zur Seite und gaben den Blick frei auf eine dunkle Öffnung, die in die Tiefe führte.
Staunend reckte ich den Hals.
Der alte Engel nahm eine der Fackeln und schritt voran. Ich folgte ihm. Trotz der Dunkelheit spürte ich die Magie des Ortes, sie schien in der Luft zu knistern und mein Herz zum Klopfen zu bringen. Die Treppe, die sich vor uns erstreckte, war steil und lang, und nach einer gefühlten Ewigkeit begannen meine Beine zu schmerzen. Die Luft wurde wärmer, beinahe drückend, und der Weg zog sich in eine scheinbar endlose Tiefe. Unter uns hörte ich das Rauschen von Wasser, und bald darauf kamen wir an einem unterirdischen Bach vorbei, dessen Wasser im Fackelschein silbern glitzerte, als trüge es Sterne mit sich.
Wir kletterten über gewaltige Wurzeln, die von den Wänden der Höhle wuchsen, und bogen schließlich um eine enge Kurve. Vor uns lag eine Kammer, klein aber hoch und in sanftes Licht getaucht, das von den Wänden zu strahlen schien. Hier war es still, beinahe feierlich, und ich spürte eine Art Ehrfurcht, die mich durchdrang. Doch abgesehen davon gab es nichts, was den Ort besonders erscheinen ließ. Keine Altäre, keine Relikte, nur leere Wände und eine Decke, die hoch über uns in der Dunkelheit verschwand. Zweifel stiegen in mir auf.
Tharostyn ließ mich nicht lange im Unklaren. Mit entschlossener Miene hob er seinen Stock und bohrte das untere Ende in einen unscheinbaren Spalt im Felsen. Ein leises Klicken ertönte, und ich erkannte ein winziges Blattsymbol, das in den Stein graviert war. Dann geschah es: Weiter hinten in der Höhle brachen steinerne Stufen aus dem Boden, als würden sie aus dem Nichts gemeißelt, und formten sich zu einem Podest. Darauf begann sich ein golden schimmernder Wirbel zu drehen, ein tanzender Strudel aus Licht, der wie ein Sandsturm wirkte – aber ohne Sand. Es war hypnotisierend, gefährlich, wie ein Versprechen, das mehr verbarg, als es zeigte.
»Nach Ihnen, Miss Ascot. Treten Sie ein, und das Portal übernimmt den Rest«, sagte Tharostyn lächelnd, seine Stimme seltsam heiter. Ich blinzelte unsicher.
»Allein?«, fragte ich zögernd und betrachtete den leuchtenden Strudel mit einem misstrauischen Blick.
»Ich komme direkt hinterher. Aber Sie müssen den Ort formen, den wir gleich betreten.« Tharostyns Worte klangen feierlich, als würde er ein Geheimnis enthüllen, das nur für mich bestimmt war. Allerdings kapierte ich kein Wort. Trotzdem trat ich mit zusammengekniffenen Augen auf das Podest zu und ließ mich nach einem weiteren Zögern von dem Strudel verschlingen.
Wenn doch nur Nighton hier wäre. Mit ihm hätte ich mich sicherer gefühlt.
Ich landete nicht in einer weiteren Höhle, wie ich erwartet hatte. Zu meiner Überraschung fand ich mich im Hyde Park wieder, unter einem sternenklaren Himmel. Es war tiefste Nacht und es war eiskalt. Kein Laut war zu hören, kein Leben regte sich, kein Blatt raschelte, und ich konnte kaum glauben, dass dies der Hyde Park in London sein sollte. Doch ich erkannte die Umgebung nur zu gut. Was war das hier?
Hinter mir tauchte Tharostyn auf, als sei er aus dem Nichts erschienen. Er schien ganz in seinem Element zu sein, als er eine alte Pfeife aus seiner Tasche zog und sie anzündete.
»Ah ja, jaja«, murmelte der alte Engel zufrieden. »Dann wollen wir mal. Folgen Sie mir, Miss Ascot!«
»Warten Sie! Warum sind wir im Hyde Park?«, rief ich und beeilte mich, ihm hinterherzukommen, als er sich in Bewegung setzte.
»Das ist nicht der Hyde Park, sondern nur ein Abbild von ihm. Weil das hier Ihre Prüfung ist, findet sie an einem Ort statt, der in Ihrem Geist verankert ist«, erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Seine Worte hallten in der Stille wider, und eine neue Welle der Verwirrung überkam mich. War das alles nur eine Illusion? Eine Täuschung meiner eigenen Gedanken?
Nach etwa einer Viertelstunde Marsch blieb Tharostyn abrupt stehen. Er deutete auf ein Gebüsch, das sich dunkel gegen den Horizont abzeichnete.
»So, Miss Ascot. Hinter diesem Gebüsch liegt Ihr Ziel. Was auch immer das Ritual von Ihnen verlangt, ab hier sind Sie auf sich allein gestellt. Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben - zeigen Sie Respekt, wenn Sie gleich die Exeleon, den Ursprung der Schöpfung erblicken.«
Sollte ich das wirklich tun? Ein Teil von mir wollte sofort umkehren, dem Ganzen entkommen. Aber ein anderer Teil – der Teil, der immer noch hoffte, wieder ein Yindarin zu werden, wieder dazuzugehören und zu überleben – hielt mich zurück. Was, wenn dies meine einzige Chance war?
Tharostyn schien meine Unsicherheit zu bemerken, denn er brummte: »Es gibt immer Risiken, Miss Ascot. Doch die Belohnung kann größer sein als die Gefahr.« Er klang fast wie ein alter Geschichtenerzähler, der ein Märchen rezitierte. Wäre mir nicht so mulmig zumute, hätte ich aufgelacht. Außerdem wünschte ich mir Nighton herbei.
Doch ich nickte nur. Tharostyn zog mit ernster Miene an seiner Pfeife und gab mir noch mit auf den Weg: »Wenn die Primals Sie für würdig halten, werden sie Sie mit ihrem urzeitlichen Blut segnen. Wenn nicht... nun, es könnte Ihnen schaden. Sie verletzen.«
Bei den Worten hielt ich die Luft an. So war das also. Kein Wunder, dass Tharostyn damit vor Nighton hinterm Berg gehalten hatte. Der hätte mir das garantiert ausreden wollen. Ich hatte Angst, aber irgendwo tief in mir brannte noch ein Funken Hoffnung. Freitag mochte mein Schicksal besiegeln, aber bis dahin hatte ich noch eine Wahl. Noch eine Chance, mein Leben zu verändern. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Der Rat in Oberstadt hätte wohl kaum beschlossen, mich zu diesem Ritual zuzulassen, wenn meine Erfolgschancen so gering wären.
»Wollen Sie zum Ritual antreten, Miss Ascot?« Tharostyns Stimme durchbrach die Stille.
»Ja«, hauchte ich. Mein Nicken fühlte sich seltsam schwer an.
»Dann gehen Sie. Möge Aona Sie begleiten. Wir sehen uns oben beim Löwenkopf.« Tharostyn wandte sich ab, als wäre die Sache für ihn erledigt. Kurz verharrte ich noch, dann straffte ich mich und ging ich auf das Gebüsch zu, das Tharostyn zuvor gezeigt hatte. Die Zweige zerrten an mir, als ich mich hindurchzwängte, aber ich ließ mich nicht aufhalten. Dann trat ich auf eine Lichtung und erstarrte.
Vor mir erhoben sich zwei gewaltige, miteinander verwachsene Eichen, die den Wellington Arch fast vollständig umschlossen. Dicke, hellblau leuchtende Ranken wanden sich um die Stämme und funkelten im Mondlicht. Blumen blühten an den Ranken, und silbrige Partikel stoben wie Feenstaub aus ihnen hervor in die Luft, glitzerten kurz und segelten dann lautlos zu Boden. Zu den Wurzeln der Eichen befand sich ein Teich, auf dem ein paar Seerosen trieben und an dessen Ufer Farn und Schilf wucherten. Die Bäume schienen zu leben, ihre Äste bewegten sich, als würden sie mich begrüßen, ihre Blätter raschelten leise, obwohl kein Wind wehte.
Magisch. Das Wort schoss mir durch den Kopf, und für einen Moment vergaß ich alles um mich herum.
Doch dann hörte ich es. Es war ein Raunen, tief und alt, das aus den Tiefen der Erde zu kommen schien.
»Eine Fremde und dennoch Bekannte, sieh, ein Mensch hat uns aufgesucht«,
sagte die Stimme, und die Äste der Bäume rauschten leise. Ich zögerte, wusste nicht, ob ich antworten sollte. War dies ein Test? Eine Prüfung meines Mutes? Da gesellte sich eine zweite, glockenhelle Stimme dazu, die aus der Luft selbst zu sprechen schien.
»Wer stört unsere Ruhe?«
»Tritt näher, Mensch«,
forderte mich die tiefe Stimme auf, und obwohl ich zögerte, fühlte ich mich gezwungen, zu gehorchen. Ich trat an den Rand des Teiches. Das Wasser war still und dunkel, und ich konnte mein eigenes Spiegelbild darin sehen.
»Noch näher, damit wir deine Aura wahrnehmen können«,
bat die Frauenstimme sanft, und ich trat näher, bis meine nackten Füße das kühle Wasser berührten. Ich zitterte, aber nicht vor Kälte.
»Wer seid ihr?«, wagte ich schließlich zu fragen, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Mein Herz klopfte heftig, und ich fühlte mich, als stünde ich am Rande einer großen Entdeckung.
»Wir sind die Mitte und der Rand, wir sind der Anfang und das Ende«, antwortete die tiefe Stimme. »Wir sind die Ewigkeit und das Hier und Jetzt. Wir sind das Herz dieser geweihten Welt und wachen über unsere Kinder. Wir sind die Exeleon, das Zentrum, jene, mit denen die Schöpfung begann. Wir sind die Seelen von Aona und Erakhlén, miteinander verwachsen, um diesen Hort zusammenzuhalten.«
Ich machte große Augen. Ein sanftes, vielstimmiges Lachen erklang, als ob die Bäume selbst lachten.
»Doch nun sprich, Yindarin. Welches Begehren treibt dich zu uns?«
Ich atmete tief durch und fand endlich meine Stimme.
»Genau deswegen bin ich hier. Ich bin kein Yindarin mehr, denn ich habe ihre Seele verloren«, begann ich, doch ein plötzlicher Windstoß riss mir die Worte aus dem Mund. Das Flüstern wurde lauter, dringlicher.
»Nicht verloren«,
flüsterte die Frauenstimme.
»Das stimmt«, gab ich zu, die Arme um den Leib schlingend. »Ich habe meinen Yindarin jemand anderem geopfert, um ihn zu retten.«
Wieder herrschte Stille, doch ich konnte das Pulsieren der Energie zwischen den Bäumen spüren.
»Ein selbstloses Opfer«, murmelte die tiefe Stimme. »Das Herz eines Yindarins ist stark, auch wenn es menschlich ist.«
»Ich möchte wieder ein Teil dieser Welt sein«, wisperte ich und spürte, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. »Die Engel wollen, dass ich mich eurem Ritual unterziehe. Und ich - ich will es auch.«
Erneut Schweigen. Die Bäume bewegten sich leise im Wind, als ob sie über meine Worte nachdachten. Dann, plötzlich, bewegten sich die Wurzeln der beiden Eichen. Sie brachen aus dem Boden hervor, wie lange, dunkle Schlangen, die sich langsam auf mich zu bewegten.
»Wenn es dein Wille ist, Jennifer Ascot-«, begann die tiefe Stimme, »-bette dich in das Moos und entblöße deine Handgelenke.«