Es war jedoch nur Nighton und kein blutrünstiges Wasauchimmer. Er hatte sich inzwischen selbst seiner nassen Kleidung entledigt, trug lediglich Unterwäsche und stand so hinter der Couch, eine Hand entschuldigend erhoben, die andere umschloss eine halbvolle Glasflasche mit grünlicher Flüssigkeit.
»Erschreck mich doch nicht so!«, protestierte ich vorwurfsvoll.
»Jaja, die Glöckchen, ich weiß. Sorry«, entschuldigte er sich, ein zerknirschtes Lächeln auf den Lippen. Er hatte die Flasche offenbar schwungvoll auf die Sofalehne gestellt, und das hatte mich aufgeschreckt.
»Was-«, begann ich und betrachtete die etikettlose Flasche misstrauisch. »Was ist das?«
Er schwenkte die Flasche leicht hin und her, dabei blitzte in seinen Augen etwas auf, das ihn wie ein übermütiges Kind wirken ließ, das gerade ein Geheimnis verraten wollte. »Ziemlich guter französischer Absinth«, verkündete er und grinste. »Hast du Lust?«
Einen Moment lang überlegte ich, dann zuckte ich mit den Schultern und streckte die Hand nach der Flasche aus. Etwas, das von innen wärmte, wäre jetzt nicht das Schlechteste. Doch bevor ich die Flasche greifen konnte, hob Nighton sie höher. »Nicht so schnell«, meinte er mit einem Zwinkern. »Das trinkt man nicht aus der Flasche. Ich hole Gläser.«
Während ich ihm nachsah, wie er in Richtung Küche verschwand, fühlte ich ein seltsames Kribbeln in der Magengrube. Er lief sonst nicht so vor mir herum. Das zu sehen, war ... hm, sehr ablenkend. Und jetzt musste ich wirklich aufpassen, ihn nicht wie eine pubertierende Idiotin anzustarren, die noch nie einen halbnackten Mann gesehen hatte. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf, als er zurückkam, mit zwei Gläsern und... einer Konservendose?
Ich blinzelte ihn überrascht an, als er mir die Dose reichte.
»Makkaroni mit Käse. Sieben Jahre alt. Stand auf dem Kühlschrank«, erklärte er stolz und reichte mir dazu eine angelaufene Gabel.
»Du machst Witze«, entgegnete ich ungläubig, bevor ich hastig nach der Dose griff und versuchte, den Metallverschluss zu öffnen. Aber natürlich brach der einfach ab. »Verdammt!«, fluchte ich.
Nighton lachte. »Gib her«, forderte er mich auf und hielt mir die Hand hin. Er warf mir einen schnellen, belustigten Blick zu, bevor er mit seinen Klauen ein Loch in den Deckel der Dose riss. Er vergrößerte es mit Leichtigkeit und reichte sie mir zurück.
»Bitte sehr, die Dame.«
Gierig stocherte ich in der Dose herum, meine Gabel kratzte über das Blech, und als die kalten, matschigen Nudeln endlich meinen Gaumen berührten, verzog sich mein Gesicht automatisch.
»Heilige Scheiße.« Das war... widerlich, und trotzdem schlang ich den gesamten Inhalt innerhalb von einer Minute herunter, als wäre es das Beste, das ich jemals gegessen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so hungrig gewesen war. Neben mir ließ sich Nighton auf dem Sofa nieder und beobachtete mich dabei, wie ich die Konserve fast schon verzweifelt auskratzte. Erst, als ich das letzte Bisschen hinunterschluckte, fiel mir ein, dass ich ihm nicht mal etwas angeboten hatte. Oh Gott. Sofort stieg mir die Hitze ins Gesicht.
»Äh, oh... Wolltest du auch was?« Ich klang kleinlaut, fast schuldbewusst, aber Nighton reagierte nur mit einem schiefen Grinsen.
»Nein, das war schon alles für dich gedacht.« Er hielt mir ein Glas mit grüner Flüssigkeit entgegen, und ich nahm es mit einem Nicken an, noch dankbar für das Essen, und machte den fatalen Fehler, den Inhalt auf einmal runterzukippen.
Der Absinth brannte wie Höllenfeuer. Ein heißer Blitz schoss durch meine Kehle, und bevor ich es kontrollieren konnte, stiegen mir die Tränen in die Augen und ich hustete.
»Puh... verdammt«, hörte ich Nighton kopfschüttelnd sagen. »Das sollte man wirklich nicht so trinken. Sowas muss man genießen!«
Zu spät. Der Anisgeschmack, bitter und scharf, breitete sich wie Gift aus, und ich hustete weiter, wischte mir über die Augen und schüttelte mich.
»Ja, danke für die Warnung, das Zeug ist einfach ekelhaft!«, keuchte ich mit verzogenem Gesicht. Nighton hob nur spöttisch die Braue.
»Die Jugend von heute hat keinen Geschmack für guten Alkohol«, kommentierte er, während er selbst einen Schluck nahm. Natürlich ohne mit der Wimper zu zucken. So ein Angeber.
Er lehnte sich entspannt zurück und zog eine der Decken über sich. Dabei wusste ich genau, dass ihm nicht kalt war. Selbst jetzt strahlte er noch diese unverschämte Wärme ab, die bis zu mir reichte. Ich hätte mich gern an ihn gelehnt, aber irgendwie traute ich mich nicht. Keine Ahnung, wieso. Also kuschelte mich tiefer in meine eigene Decke, lauschte dem Trommeln des Regens gegen die Fenster und genoss für einen Moment die Stille, die nur durch das Heulen des Windes unterbrochen wurde.
Dann, nach einer Weile, regte Nighton sich und begann zu sprechen. Seine Stimme war leise, ernst, die Augen geschlossen, als würde er versuchen, die Worte vorsichtig abzuwägen.
»Warum hast du die Kirche verlassen? Ich würde es gern verstehen.« Er sah mich an.
Ich hielt inne. Die Sekunden zogen sich in die Länge, während das Heulen des Windes und der Regen lauter zu werden schienen. Innerlich zögerte ich noch einen Moment, fast als wäre es mir von Dorzar antrainiert worden, genau darüber nachzudenken, bevor ich etwas Falsches sagte. Doch dann atmete ich durch. Der gefürchtete Freitagabend war ja eigentlich vorbei. Keine Zwillinge, kein Ritual. Alles lag hinter uns, und Dorzar und Riakeen waren nicht hier. Es war endlich sicher, um darüber zu sprechen. Also - hoffte ich zumindest.
»An dem Abend... bei Owens Party, als Dorzar auftauchte – du weißt schon...« Ich stockte, spürte, wie schwer es mir dennoch fiel. »Da ist noch etwas passiert. Bevor Jason reinkam.«
Nightons Augen verengten sich sofort, sein Kinn hob sich ein wenig, als hätte er den Bruchteil einer Sekunde gebraucht, um zu begreifen, dass ich ihm gerade ein weiteres Geheimnis anvertraute. Eines, das ich ihm die ganze Zeit verschwiegen hatte.
»Was genau?« Er sprach ruhig, aber ich hörte seine Anspannung, als würde er sich zwingen, nicht zu explodieren.
Ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Es fühlte sich an, als würden seine Augen durch mich hindurchschneiden, also starrte ich stattdessen auf meine Hände, die krampfhaft die Decke kneteten. Dann begann ich zu reden. Zögernd, stockend, und es fühlte sich an, als müsste ich jedes Wort mit Gewalt aus mir herauspressen. Ich erzählte ihm von Dorzars Drohung, seiner Aufforderung, nach Harenstone zu kommen, und auch von den Konsequenzen, wenn ich jemandem davon erzählt hätte.
Nighton wurde mit jedem meiner Worte starrer, aber ich sah, wie sich etwas in seinem Gesicht veränderte. Er richtete sich langsam auf, als würde er mich auf eine ganz neue, düstere Weise wahrnehmen.
Als ich endete, schwieg er einen Moment, bevor er leise fragte: »Du hast das die ganze Zeit verheimlicht? Die ganze Woche?« Seine Stimme klang zwar nach wie vor ruhig, aber ich wusste, dass es unter seiner Oberfläche brodelte. Dafür kannte ich ihn inzwischen gut genug.
Mein Mund wurde trocken und ich musste schlucken. »Ich hatte Angst, Nighton. Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht? Die Zwillinge... sie hätten überall sein können. Ich habe Dorzar einfach alles geglaubt. Nach dem, was er mit mir machen wollte...« Ich brach ab, da die Erinnerungen mich überwältigten.
Nightons Gesicht verhärtete sich auf eine Art, die mir die Kehle zuschnürte. »Was ich getan hätte?«, zischte er. Seine Stimme war nicht länger ruhig. Nun klang sie scharf, fast schneidend. »Ich hätte es mir gesagt! Wir hätten gemeinsam einen Plan gemacht! Die Zwillinge sind nicht unbesiegbar! Denkst du, ich hätte einfach zugesehen, wie deiner Familie etwas passiert?« Seine Augen funkelten vor Wut. »Und was dachtest du, passiert in Harenstone? Dass du das allein durchstehen könntest? Oder war das dein Plan? Dich zu opfern?«
Ich konnte seinen Zorn spüren, wie eine Welle, die auf mich zurollte. Ich schluckte erneut schwer und zog mir die Decke bis zur Nase hoch, als könnte ich mich so schützen. Aber es half nichts. Nighton sah mich durchdringend an.
»Glaubst du wirklich, du hättest das überlebt?«, fuhr er rau und fordernd fort. »Oder warst du etwa bereit, dich selbst aufzugeben?«
Ich konnte nichts sagen. Alles in mir zog sich zusammen. Ich fühlte mich nackt, ausgesetzt, als hätte er alles durchschaut, was ich so verzweifelt zu verbergen versucht hatte.
Seine Augen flammten auf, als die Erkenntnis ihn traf. »Verdammt, Jennifer!«, brach es aus ihm heraus. »Das war wirklich dein Plan, oder?!«
Ich konnte nicht mehr. Die ganze Hitze, die in mir brodelte, die Wut, die ich auf mich selbst und auf Dorzar gerichtet hatte – alles schoss auf einmal an die Oberfläche. Mit einem lauten Knall stellte ich das Glas auf den Tisch und richtete mich abrupt auf.
»So, du willst wissen, warum ich Dorzar geglaubt habe?«, fuhr ich ihn an, wobei sich meine Stimme vor aufgestauter Wut und Schmerz fast überschlug. »Du willst wirklich wissen, was er getan hat?«
Nighton öffnete den Mund, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Er hat mich aufs Bett geworfen.« So zu reden, fühlte sich an, als würde ich das alles nochmal durchmachen, aber ich zwang mich dazu, fortzufahren. »Ich bin runtergefallen, wieder aufgestanden. Und dann hat er mich gepackt-«, ich griff nach Nightons Arm und drückte fest zu, »-und mich wieder aufs Bett gedrückt. Ich wollte fliehen, aber er hat mich gewürgt, weil ich nicht schnell genug geantwortet habe.«
Ich spürte, wie Nighton mich unterbrechen wollte, ich sah die Verzweiflung in seinen Augen aufleuchten, aber ich sprach einfach weiter, während meine Worte immer schneller und lauter und brüchiger aus meinem Mund kamen.
»Er hat meinen Kopf festgehalten und mir gesagt, ich müsse schweigen, oder meine ganze Familie würde sterben. Er sagte, er wolle mir beweisen, dass er es ernst meinte, und dann-« Meine Kehle schnürte sich zu. »Er stand am Fußende des Bettes, hat an meinen Fußgelenken gezogen, bis ich flach lag, und-«
Nightons Hände packten mich plötzlich fest an den Oberarmen. »Hör auf!«, flehte er mich an. Seine Stimme war erfüllt von Schmerz, fast erstickt vor Schrecken. Ich erstarrte und blinzelte ihn an. Die Tränen liefen auf einmal heiß über meine Wangen. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass ich weinte.
»Und du fragst dich noch, warum ich nichts gesagt habe?«, flüsterte ich.
Nighton versuchte, etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort hervor. Stattdessen lockerte er seinen Griff um meine Arme und zog mich im nächsten Moment an sich. Seine Arme schlossen sich fest um mich, und ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Sein Herzschlag hämmerte schwer und laut in meinen Ohren.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. Er hob mein Gesicht an, wischte mit seinem Daumen die Tränen weg und legte seine Hand sanft an meine Wange.
»Ich kann nicht ungeschehen machen, was er dir angetan hat«, begann er leise, »aber ich schwöre dir, dass er es nie wieder tun wird. Du musst mir aber versprechen, dass du sowas nie wieder vor mir verheimlichst. Du kannst mir vertrauen, Jen. Ich weiß, dass ich dir das nicht immer leicht gemacht habe, aber... jetzt ist alles anders.«
Ich schaffte es gerade noch, zu nicken. In Nightons Augen blitzte etwas auf, ein Ausdruck, den ich nicht ganz deuten konnte – vielleicht Zorn, vielleicht Bedauern. Aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem verzweifelten Grinsen, und er seufzte: »Ich glaube, ich bringe dir demnächst einen Peilsender an.«
Trotz allem musste ich lachen. Es war ein echtes, leises Lachen, das aus mir herausbrach, bevor ich es verhindern konnte.
»Mach das«, erlaubte ich und versuchte zu lächeln. Aber meine Lippen fühlten sich schwer an, steif, als würde mir selbst das Lächeln nicht mehr so leicht fallen wie früher. Nighton seufzte erneut, und die Schwere in der Luft schien für einen Moment nachzulassen.
»Ich brauche noch was von dem Absinth«, bemerkte ich. Er nickte nur, griff nach der Flasche und goss uns beiden nach. Diesmal trank ich langsamer, vorsichtiger. Der Geschmack war immer noch widerlich, aber die Wärme, die sich in meinem Bauch ausbreitete, war angenehm, denn sie lenkte mich von der Kälte ab, die noch immer in meinen Knochen steckte.
Als ich das Glas geleert hatte, reichte ich es Nighton, und er stellte es wortlos zur Seite. Er lehnte sich zurück, und ich zögerte nur einen Moment, bevor ich meinen Kopf an seine Schulter legte. Für einen kurzen Augenblick spannte er sich an, dann legte er seinen Arm um mich und zog mich enger an sich.
Wir saßen still nebeneinander, während sich die Dunkelheit um uns herum ausbreitete. Die Anspannung, die in mir gebrannt hatte, ließ langsam nach, und ich spürte, wie eine seltsame Ruhe über mich kam. Endlich war alles gesagt. Alles, was ich so lange in mir getragen hatte, war draußen, und die Erleichterung, die ich verspürte, war überwältigend. Doch dann fiel mir etwas ein. Kellahans Worte blitzten durch meinen Kopf. Eigentlich wollte ich sie beiseite schieben und nicht an sie denken. Doch es ging nicht. Sie hatten sich festgeheftet wie Magneten, wollten raus, wollten von Nighton gehört werden. Doch ich musste vorsichtig sein, durfte nicht zu direkt werden.
»Du hast mal gesagt, dass du aus Norwegen kommst, oder?« Meine Stimme war ruhig, aber innerlich spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Ein Teil von mir war neugierig, ein anderer ... nun ja, der wollte Kellahans Worte bestätigt wissen.
Nighton nickte wortlos, seinen Blick auf den Fernseher richtend.
»Aber dein Name klingt nicht gerade norwegisch. Kieran James Arvid Hudson? Bist du sicher, dass du keine englischen Wurzeln hast?« Ich versuchte es leicht klingen zu lassen, unbekümmert, als würde ich nur plaudern wollen.
Nightons Augenbrauen schossen überrascht nach oben. »Woher weißt du meinen vollständigen Menschennamen?« Seine Stimme klang härter, als ich erwartet hatte.
»Kellahan. Oder Owen. Sein richtiger Name ist Kellahan«, gab ich schlicht zurück. »Der Kerl hat seine Hausaufgaben gemacht. Er weiß wirklich alles über dich und mich.«
Nighton wandte seinen Blick ab, fixierte stumm den Fernseher in meinem Rücken, als würde er sich auf die Schwärze der Oberfläche konzentrieren. Für einen Moment dachte ich, dass er nicht antworten würde – dass ich zu weit gegangen war.
Doch dann, leise und fast widerwillig, begann er zu sprechen.