Am besten sollte ich vorerst mit ein paar Fragen aufräumen, die ihr euch wahrscheinlich schon gestellt habt.
Fangen wir doch mal mit meiner wunderbaren Rückkehr nach London an. Eines kann ich jedenfalls mit voller Gewissheit sagen: Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem ich im feuchten Gras des Hyde Parks erwachte, einem vorbeiziehenden Regenschauer in sein graues Gesicht blinzelnd.
In meinem Kopf hatte neben stechenden Schmerzen ein diffuser Wirbel dominiert, der meine Fähigkeit zu Denken auf ein bares Minimum reduziert hatte. Wenn mich in diesem Augenblick jemand gefragt hätte, wer ich sei, wo ich mich befände, welcher Tag oder welches Jahr gerade wäre oder was geschehen sei - ich hätte auf nichts davon eine Antwort gehabt.
So hatte ich minutenlang einfach nur dagelegen, in das grüne Blätterdach hoch über mir schauend. Neben mir hätte die Welt untergehen können. Mein Zustand hielt so lange an, bis eine feuchte Hundenase an meinem Hals mich zum Zusammenzucken brachte. Kaum eine Sekunde später war mein Sichtfeld dann durch das Gesicht einer fremden Frau verdeckt worden, die mit besorgter Miene auf mich eingeredet hatte. Doch was sie sagte, hatte ich nicht hören können. Es war, als wären meine Gehörgänge mit Watte gefüllt gewesen. Lediglich ihre Lippenbewegungen hatte ich sehen können. Und plötzlich - ich weiß nicht, was der Auslöser gewesen war, stürzte die Realität auf mich wie ein Fels. Mir fiel alles wieder ein. Wirklich alles. Die Erinnerungen hatten mich mit all ihrer Brutalität, ihrer Gnadenlosigkeit gepackt, mir die Kehle zugeschnürt und mich nach wenigen Sekunden in einen haltlosen Weinkrampf getrieben, während dem die Frau hilflos danebenstand.
Was danach passiert oder wie ich nach Hause gekommen war, kann ich hingegen nicht genau sagen. Dazu existieren bis heute nur Fetzen in meinem Gedächtnis. Ich meine jedoch, mich an Pearl Washington zu erinnern, die mich auf ihren Küchenstuhl hinabdrückte und mir eine Decke um die Schultern legte. Und in einer anderen, bruchstückhaften Erinnerung kurz darauf schloss mein Dad mich in die Arme, nur um mich direkt darauf liebevoll zuzudecken.
Die Tage nach meiner Rückkehr verschlief ich komplett. Als ich die Augen dann zum ersten Mal aufschlug und mich in meinem von der Zeit konservierten Zimmer wiederfand, war mir direkt die erdrückende Erkenntnis gekommen:
Ich war ein Mensch.
Ein schwacher, langweiliger, sterblicher, unwichtiger, kleiner Mensch.
Und Sekeera war fort. Meine Sekeera, mein Yindarin, der Nervbolzen hinter meiner Stirn, das Salz in meinen Wunden, mein Licht in der Dunkelheit. Wie sehr hatte ich sie manchmal gehasst und zum Teufel gewünscht, doch zugleich hatte ich ihr so viel zu verdanken.
Den einzigen Vorteil, den der unerträgliche Schmerz über ihren Verlust mit sich brachte, war, dass ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten klar denken konnte. Wenn man das denn als Vorteil bezeichnen konnte.
Warum hatte ich so gehandelt, wie ich gehandelt hatte? Doch nicht aus Liebe zu einem Mann, der für so viel Schlimmes in meinem Leben verantwortlich war? Konnte man das überhaupt Liebe nennen, war es nicht eher die Besessenheit von einem utopischen Gedanken oder einem Wunschdenken? Wie hatten mich meine Gefühle bloß so blenden können? Ich hatte Sekeera geopfert, damit Nighton nicht sterben musste, wer wusste nun, was für ein Monster ich geschaffen hatte? Mit Selene im Nacken könnte er jetzt einfach alles verwüsten, alles ins Chaos stürzen.
Diese Befürchtung, diese Gedanken, diese Vorstellungen, sie alle lähmten mich, fesselten mich ans Bett. Vielleicht hatte Selene die Engel ja bereits ausgerottet. Dann wäre ich dafür verantwortlich, allein ich. Und das nur, weil ich einem albernen Gefühl nachgejagt hatte.
Tagelang lag ich in meinem Bett und starrte die Wand in stummer Verzweiflung an. Ich wollte weinen, schreien, ausrasten, meine Angst vor den Folgen meiner Tat und meinen Schmerz über Sekeeras Lücke rauslassen, aber ich konnte nicht. Natürlich bekam ich mit, wie meine Familie sich die größten Sorgen machte. Sie wusste schließlich nicht, was passiert war, denn ich redete nicht, nicht ein Wort. Ich kann nicht mal behaupten, dass es mich interessiert hätte, wieso mein Dad sich nicht länger in stationärer Behandlung befand oder wieso Tommy und Anna hier waren und nicht in Cambridge, wo ich sie hingeschickt hatte. Nichts interessierte mich.
Ganze vier Tage verstrichen so. Letzen Endes war es Pearl Washington, die Hautwandlerin, die meine Antriebslosigkeit beendete und mich zum Aufstehen bewegen konnte. Dass sie in diesen Tagen relativ viel Zeit bei mir verbracht hatte, neben meinem Bett strickend auf einem Stuhl sitzend, hatte ich mitbekommen, aber genauso ignoriert wie alles andere. Wieso sie da war, hatte ich mir nicht erklären können. Vielleicht hatte mein Dad sich in seiner Not an sie gewandt, immerhin erinnere ich mich ja, nach meinem Aufwachen bei ihr gewesen zu sein. Oder Pearl hatte es selbst angeboten. Wie auch immer. Die Hautwandlerin hatte einfach nur da gesessen und ein altes Wiegenlied gesummt, das mein Dad mir früher oft vorgesungen hatte. Irgendwann hatte ich mich zu ihr umgedreht und sie angesehen, was Pearl mit einem sanften, beinahe mütterlichen Lächeln quittiert hatte.
»Und, bereit für das, was kommt?«, waren ihre ersten Worte an mich gewesen. Zuerst hatte ich geschwiegen, nur um ihre Frage wenige Augenblicke später mit krächzender Stimme zu bejahen. Auch wenn mir gar nicht klar gewesen war, was Bereit bedeuten sollte. Pearl hatte mich mich mit einem vielwissenden Augenzwinkern angesehen, ihr Strickzeug weggelegt und war aufgestanden.
»Dann kommst du nun wohl wieder allein zurecht. Wenn du reden möchtest, du weißt, meine Tür steht dir offen, Liebes.«
Und damit verschwand sie. Einfach so, als wäre ihr eine Art Masterplan gelungen, den ich nur noch nicht durchschaut hatte.
Mein Vater, Anna und Thomas hatten nicht schlecht gestaunt, als sie abends nach Hause kamen und mich im Wohnzimmer vorfanden, wo ich frisch geduscht auf dem Sofa saß, eine Schüssel gesalzenes Popcorn auf dem Schoß und Gilmore Girls schauend, als wäre nie was gewesen.
Das war der Tag, an dem ich mein Tief überwand. Durch Nichts. Es war nichts passiert, das meinen Wandel hätte erklären können. Ich verstehe es selbst nicht so genau.
So froh mein Vater über meinen gebesserten Zustand war, so kurz war die Zeitspanne, bis er mich zur Rede stellte. Er wollte natürlich wissen, was mit mir geschehen war. Auch Thomas, der mitnichten etwas davon vergessen hatte, was im Dezember geschehen war, drängte mich ziemlich. Anfangs sträubte ich mich noch dagegen, da ich die letzten Augenblicke meines Daseins als Yindarin nicht erneut durchleben wollte. Doch dann musste ich daran denken, wie Nighton mir damals die Augen geöffnet und klargemacht hatte, dass ich die ganze Zeit über nicht verrückt gewesen war. Vielleicht brauchte meine Familie einfach dieselbe Bestätigung, und wer war ich, sie ihnen vorzuenthalten?
So kam es wenige Tage später zu dem Abend, an dem mein Vater, mein Bruder und ich im Esszimmer beisammensaßen und ich fast drei Stunden redete. Nicht ein Detail ließ ich bei meiner Erzählung aus. Was mir passiert war, wieso ich so anders aussah als früher, wer Nighton war, dass ich ein weiteres Elternpaar hatte, wer ich mal gewesen war und wo ich in all der Zeit gesteckt hatte. In dem Zuge erfuhr ich, dass mein Vater im März diesen Jahres erfolgreich seine Alkohol-Entwöhnungstherapie abgeschlossen und nach Hause zurückgekehrt war. Thomas und er waren die gesamte Zeit seines Aufenthaltes über in der Barrington Bay Klinik in Kontakt geblieben, sodass meine Geschwister pünktlich zur Entlassung unseres Dads wieder hergezogen waren. Nur ich hatte gefehlt. Ich, das Puzzleteil, das meiner Familie so viel zugemutet hatte.
Für meinen Vater war es eine Zerreißprobe gewesen, zu wissen, dass ich an einem unbekannten Ort war, wenn er nach Hause kommen würde. Einzig und allein Thomas war es zu verdanken, dass mein Dad durchgehalten hatte und der fragile Haussegen nicht in Schieflage geraten war. Er wusste ja, was ich war, er hatte es gesehen und Dad somit klarzumachen versucht, dass ich woanders gebraucht wurde und deshalb nicht zuhause sein konnte. Sowieso hatte ich in meinem Bruder einen wichtigen Zeugen, denn Dad hatte das alles nicht glauben können, weder als Thomas ihm damals erklärte, wo ich war, noch als ich mit meiner Geschichte um die Ecke bog. Natürlich nicht. Ich hätte mir auch nicht geglaubt. Immerhin waren die Geschichten über eine Paralleldimension voller Engel und Dämonen einfach zu fantasievoll, als dass man das jemandem einfach so abkaufen würde.
Doch als Thomas mir nach Kräften beipflichtete und Dad sogar das Video von mir zeigte, das meinen Highspeed-Lauf auf der Bayswater Road veranschaulichte, konnte der es nicht mehr abstreiten. Thomas hatte es von YouTube heruntergeladen, bevor Miss Dawes es hatte löschen lassen.
Ich merkte Dad an, dass es seinen Horizont überstieg, aber er akzeptierte mein früheres Leben. Wenigstens hatte ich ihm versichern können, dass ich nun ein Mensch war und nichts mehr mit Übernatürlichem zu tun haben würde. Er verlor nach diesem langen Gespräch kein Wort mehr über all das, aber ich wusste, dass er mich nun mit anderen Augen sah.
Mein Bruder hingegen ließ ab diesem Abend durchblicken, wie großartig er meine Vergangenheit fand. Er war sogar fast stolz und wohl auch ein bisschen neidisch, dass seine Schwester Superkräfte gehabt hatte. Selbst Wochen danach nervte mich mit seinen Tausend Fragen über Ober- und Unterstadt.
Auch bezüglich Anna ließ ich nichts aus. Ich erzählte, dass die Zwillinge Anna entführt hatten, um sie als Druckmittel gegen mich zu verwenden. Dad fand das so furchtbar, dass es ihm wohl jedes Mal den Atem verschlug, wenn er nur daran dachte. Anna hingegen wirkte, als hätte mit alldem erfolgreich abgeschlossen, denn sie war quietschfidel und machte nicht den Eindruck, als hätte sie einen Schaden davongetragen.
Natürlich war ich froh, dass wir wieder alle beisammen waren und dass es mit Anna und Dad ein so gutes Ende genommen hatte, aber - ich fühlte nicht wirklich Freude, dazu war ich gar nicht im Stande. Nur allzu oft machte sich die Leere bemerkbar, die Sekeera hinterlassen hatte, und dann konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Jeden Tag war es schwer, weiterzumachen, aber ich verbannte die Gedanken an mein altes Leben, meine Freunde, Sekeera und Nighton ganz weit in den hintersten Winkel meines Kopfes und arbeitete einfach mein Tagesprogramm ab. Und so ging das Leben weiter, während ich mich auf die neue Schule vorbereitete. Aufgrund meiner Fehlzeiten und meines veränderten Aussehens war die Churchill High vom Tisch, doch mein Dad nutzte sein Vitamin B, um mich auf seine alte Privatschule zu schleusen, die Robert Service High School auf der anderen Seite des Hyde Parks. Drauf freuen tat ich mich, wie gesagt, nicht. Schon gar nicht nach dem tollen ersten Eindruck, den ich gestern hinterlassen haben musste.
Aber naja.
Mein Leben wusste weitergehen.
Wenn auch in eine andere Richtung, als ich es mir gewünscht hatte.
Heute war Sonntag, der neunundzwanzigste August. Die Wanduhr über dem Kühlschrank zeigte halb zehn an und am Frühstückstisch war es so ruhig wie selten. Mir fiel es schwer, mir die Übermüdung, die innere Unruhe wegen gestern und den kleinen Kater nicht anmerken zu lassen. Ich wollte nicht, dass mein Dad Lunte roch. Als trockener Alkoholiker brauchte er es nicht mitzubekommen, wenn ich trank, zumindest war ich dieser Meinung.
Dad saß mir im Morgenmantel gegenüber am Küchentisch, in der einen Hand einen dampfenden Kaffee und in der anderen eine aufgeschlagene Zeitung. Anna hockte rechts von mir und pickte mit der einen Hand alle orangenen Frootloops aus ihrer Schüssel. Tommy stopfte sich zu meiner Linken gerade den dritten Bagel in den Mund, während er auf seinem brandneuen iPad die Nachrichten durchlas. Letzte Nacht im Bett hatte ich ihm noch rasch eine SMS geschrieben, damit er nicht extra losfahren würde. Tommy hatte daraufhin nur drei Fragezeichen geschickt, doch ich hatte ihn auf heute vertrösten können. Allerdings schien er in diesem Augenblick nicht daran zu denken, was mir sehr recht war.
Schließlich räusperte mein Vater sich, faltete die Zeitung zusammen und fragte an mich gewandt: »Na, hattest du Spaß auf der Party? Sind die neuen Mitschüler nett? Hast du schon Freunde gefunden?«
Er nahm einen Schluck Kaffee und schaute mich an. Ich allerdings ließ mir Zeit mit der Antwort.
»Nein, zum Teil und nein«, nuschelte ich zwischen zwei Löffeln Müsli.
Dad runzelte die Stirn. »Soso, aha. Na, das gibt sich bestimmt noch. Und wann warst du zuhause? Ich habe dich gar nicht kommen hören. Wollte dein Bruder dich nicht abholen?«
Seufz. Da war es, das Verhör. Mein Dad machte sich seit meiner Rückkehr ständig Sorgen um mich und musste immer alles ganz genau wissen.
Ausweichend erklärte ich: »Mich hat jemand mitgenommen. Und gehört hast du mich nicht, weil ich extra leise gewesen bin.«
»Und die Wunde da an deinem Hals? Dieser dicke Kratzer da? Dich hat doch niemand geschubst?«
Ich betastete die Kruste. »Nein. Ich bin über meine Füße gestolpert. Die Treppe war rutschig. Du kennst mich doch.«
Vorsichtig blinzelte ich meinen Vater an. Der hatte die Augen verengt und strich sich über den Bart. Da klingelte es überraschenderweise an der Tür.
»Endlich, mein Paket! Bioshock zwei, ich komme!«, jubelte Thomas so laut, dass Anna mit den Ellbogen vom Tisch rutschte und mit geweiteten Augen durch die Gegend blickte. Mein Bruder sprang euphorisch auf und rannte aus der Küche. Dad blickte ihm irritiert hinterher.
»Es ist doch Sonntag! Da liefert niemand – wie hat er das genannt? Ist wohl schon wieder ein Computerspiel. Der Junge hat nichts anderes im Kopf als seinen Computer! Also, Jennifer, wo waren wir? Ach ja, deine Verletzung. Du bist eine Treppe heruntergefallen, sagst du? Wo wart ihr?«
Genervt stöhnte ich und schaufelte mir eine große Portion mit besonders viel Milch in den Mund, um Zeit zu schinden. Meinem Vater entging das natürlich nicht. Missbilligend runzelte er die Stirn.
Da tauchte Thomas mit ungewöhnlich weißem Gesicht in der Tür auf. Er wirkte nervös. Dad sah zu ihm und erkundigte sich: »Wer war es denn? Doch nicht die Post? Immerhin ist Sonntag!«
Thomas murmelte nur: »Keine Post.« Dann trat er beiseite.