Während Jennifer auf dem höchsten Gipfel Oberstadts dem Abgrund ihrer Ängste entgegensah, überbrückte Selene die vierzig Kilometer gen Osten zum Himmelspalast in weniger als zehn Minuten. Ihr Windschneider krachte mit solcher Wucht vor den Toren des Schlosses der Engel nieder, dass der Boden unter seinen Pranken erbebte und die Mauern wie unter unsichtbarem Druck wackelten.
Selene sprang behände von dem Flugwesen und stieß die Portalflügel auf. Die Türen prallten gegen die Wände, und der Aufprall riss Mikrorisse in das uralte Mauerwerk. Marmorbrocken und Staub rieselten hinab. Die paar Engel, die im Saal Dokumente, Kisten und Waffen schleppten, erstarrten augenblicklich. Ihre Augen weiteten sich vor Furcht und Unglauben, als sie die bekannte und dennoch veränderte Gestalt erblickten, die wie ein Schatten vor dem rosaroten Abendhimmel aufragte. Auch die Himmelswache, jene stoischen, furchtlosen Wächter der Engel, die an den Wänden entlang Stellung bezogen hatten, brauchten einen Moment, um zu realisieren, wer da gerade die geheiligten Hallen betreten hatte. Doch dann rief einer von ihnen donnernd: »Halt, Eindringling!«, und sogleich ging ein entschlossener Ruck durch die Himmelswache, als hätte sie sich von ihrem Schock erholt. Beinahe synchron begaben sich die Wächter in Angriffsstellung und bewegten sich in halbkreisförmiger Formation auf die ehemalige Dämonin zu, die nach wie vor zwischen den Portalflügeln verharrte. Sie ließ ihren spöttischen Blick über die Himmelswache gleiten, bevor sie das Kinn senkte und raunte: »Ja, kommt her, ihr treuen Wächter Oberstadts. Begrüßt das Ende der Engel.«
Mit einem kraftvollen Ruck riss sie die Arme auseinander, und damit ging eine Welle aus Kraft einher, die sich wie eine sengende Explosion auf die Umgebung entlud. Sie fegte die Himmelswache um, die nach hinten katapultiert wurde und zu einem unkoordinierten Haufen aus Plattenrüstungen und verdrehten Gliedmaßen wurde. Selene grinste nur siegessicher. Die Luft um sie herum schien sich mit einem Flimmern aufzuladen, und eine drückende Hitze ließ die Banner an den Wänden zu Asche zerfallen, während nahe Blumen verdorrten und in sich zusammenstürzten. Mit einem langsamen, gefährlich ruhigen Schritt lief sie los, jede ihrer Bewegungen wirkte durchtränkt von kalter Überlegenheit. Ohne hinabzusehen, stieg sie über die Engel hinweg, die am Boden lagen und vor Schmerzen stöhnten. Ihre eisblauen Augen funkelten dabei, und das grausame Lächeln auf ihren Lippen ließ die übrigen Engel im Saal noch tiefer in die Schatten zurückweichen. Oh ja, sie genoss die eingeschüchterten Blicke dieser Würmer. Es war ein besonderer Balsam für ihre Seele.
In weniger als zwei Minuten erreichte sie den Rosenturm. Das Domizil des toten Sehers Azmellôn, das sie nicht hatte betreten können. Bis jetzt. Bis heute. Ohne ihre Hand heben zu müssen, öffnete sich das schwere Portal wie von selbst. Kaltes, trübes Licht erfüllte den Raum mit den Kristallwänden, der verlassen schien. Doch er war nicht gänzlich leer.
Vor einem hohen Bücherregal stand ein kleines Mädchen. Blonde Locken fielen über ihre Schultern, und ihre großen, verwunderten Augen blickten auf die Gestalt, die sich ihr näherte. Selenes Lächeln vertiefte sich, ihre Schritte hallten bedrohlich im Turm wider, als sie auf das Kind zuging. Der Puls der Finsternis um sie herum verstärkte sich, und mit jedem Schritt fraß sich die Hitze weiter in die Mauern des Turms.
»Du musst Anna sein«, raunte Selene, mit einer Stimme süß wie Honig, während ihre eiskalten Augen das Kind von Kopf bis Fuß musterten. Anna wich ein wenig zurück, und ihre Hände ballten sich vor Unsicherheit. Doch die Dämonengöttin beugte sich ein wenig zu ihr hinab, sodass ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des Mädchens entfernt war. »Keine Angst. Nighton hat mich geschickt, um dich zu holen.«
»Nighton?« Die Verwirrung in Annas Stimme spiegelte sich in ihren unschuldigen Augen. Sie trat einen Schritt zurück. »Er hat gar nichts gesagt!«
»Oh doch, kleine Seherin.« Selenes Lächeln wurde breiter, doch es erreichte nicht ihre Augen. »Hier ist es nicht sicher. Sie alle wollen dich benutzen, um böse Dinge zu tun. Nighton weiß das. Jennifer auch. Deswegen bin ich hier, um dich an einen Ort zu bringen, wo dir niemand etwas tun kann.«
Das Mädchen zögerte, sah hinunter auf ihre Füße. »Ein Schloss?«, fragte sie leise und voller Hoffnung.
Selenes Augen blitzten auf. »Ja, ein wunderschönes Schloss – ganz für dich allein.«
Dass sie damit ein TÜRschloss meinen könnte, kam Anna gar nicht in den Sinn. Sie blinzelte, dann schob sie langsam ihre Hand in die von Selene. Der Raum schien dunkler zu werden, als der neu auferstandene Yindarin die kleine Hand umschloss, mit einem Griff fest wie Stahl. Die Falschheit von Selenes Lächeln blieb dem Kind verborgen. Ein letzter Blick der Unschuld, bevor Anna ihr folgte – ohne auch nur zu ahnen, dass sie in den sicheren Untergang ging.
Niemand widersprach Selene. Auch nicht ein kleines, argloses Mädchen.