Amanda beugte sich hinab und beförderte eine kleine Kiste zutage, die mir bisher noch gar nicht aufgefallen war. Sie öffnete sie und holte ein kleines Gerät heraus, das sie auf den Wohnzimmertisch stellte. Es war klein, rund, schwarz, mit seltsamen Einkerbungen, die im Licht silbern aufblitzten. Es sah für mich aus wie ein klobiges Schmuckstück, das in irgendeinem verstaubten Antiquitätenladen gefunden worden war. Allerdings hatte ich keinen Zweifel daran, dass es etwas völlig anderes darstellte. Auch Nighton, der mich inzwischen losgelassen hatte, beugte sich vor, um das Gerät in Augenschein zu nehmen. »Was ist das?«, fragte er argwöhnisch.
»Das hat uns einer dieser stattlichen Erzengel in die Hand gedrückt. Wie hieß er noch gleich, Pearl? Ich kann die Herren nie auseinanderhalten.« Amanda kniff die Augen zusammen, als müsste sie sich erinnern. Pearl beugte sich vor, um das Gerät auszurichten und antwortete dabei: »Das war Gabriel.«
Amanda nickte. »Ah, genau. Er sagte, dass ihr in letzter Zeit wohl Probleme mit Spitzeln hättet. Und jetzt, wo dieser Kampf vor der Haustür steht, sei das Risiko, dass jemand lauscht, wohl besonders hoch. Dieses kleine Ding hier soll das verhindern.«
»Mhm«, murmelte Nighton, nach wie vor alles andere als überzeugt, während er das Gerät nicht aus den Augen ließ. Auch ich beäugte es misstrauisch.
Sie warf Pearl einen knappen Blick zu. Die nickte, als wäre das alles abgesprochen. Dann drückte Amanda mit ihrem Daumen auf die obere Einkerbung. Im nächsten Moment erfüllte ein leises Summen den Raum. Es war kaum wahrnehmbar, mehr ein Vibrieren in der Luft, aber ich spürte, wie ein prickelndes Gefühl über meine Arme zog.
Ich starrte auf das Ding, sah, wie sich etwas ausdehnte. Es sah aus wie ein feines Netz aus irgendeiner Art Materie, das den Raum durchdrang. Die Luft schien sich für einen Moment zu verändern, wurde dichter, schwerer, und dann… dann war alles wieder wie vorher. Als wäre nichts passiert.
Ich warf Nighton einen Blick zu. Der schaute allerdings nur wachsam umher, als rechnete er jeden Moment mit dem Schlimmsten.
»Und?«, fragte ich schließlich.
»Laut Gabriel kann uns jetzt niemand mehr außerhalb dieses Hauses belauschen«, erklärte Pearl sachlich und griff nach dem kleinen Gerät. »Kein Dämon, kein Engel, keine andere neugierige Seele. Zumindest so lange, wie das hier aktiv bleibt.«
»Praktisch«, fand ich und lehnte mich in die Couch zurück. »Das hätte er ruhig mal früher rausrücken können.«
Amanda stand auf und setzte sich mit einem leisen Seufzen auf die Kante des einen Sessels und sah zwischen mir und Nighton hin und her. »Gut. Jetzt, da wir ungestört sind, können wir den Plan besprechen.«
Plan? Mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, und das gefiel mir gar nicht. Ich schielte zu Nighton, in der Hoffnung, dass er wenigstens irgendetwas sagen würde, um mich vorzuwarnen, aber er wirkte nicht so, als hätte er selbst viel Ahnung von dem, was nun kommen würde.
»Wir fangen mit den Imitationen an«, sagte Pearl schlicht, als hätte sie das Thema schon tausendmal erklärt. »Amanda und ich werden dich mimen, Jennifer.«
»Mimen?«, wiederholte ich verständnislos, meine Stimme etwas zu laut. Ich setzte mich aufrecht hin und lehnte mich vor. »Wie, mimen? Warum? Wofür? Ich – ich verstehe das alles nicht, können wir bitte bei null anfangen?« Ich hatte mit einer Mischung aus Ärger und Verwirrung gesprochen, denn ich verstand wirklich nicht, was hier gerade abging. Doch es war Nighton, der an der Stelle der beiden antwortete. »Tharostyn sagte mir vorgestern, dass er Amanda und Pearl vorbeischicken wird, da er sich gemeinsam mit ihnen einen Plan überlegt hat, um dich in Sicherheit zu bringen. Ich wollte dir schon davon erzählen, aber…«, er schluckte, »...na ja, es gab nicht wirklich einen Moment dafür, wie du weißt.« Der Blick, den er mir bei diesen Worten zuwarf, sagte mehr als tausend Worte. Ich verstand. Also nickte ich langsam und sah wieder die beiden Gestaltwandlerinnen an. »Okay«, murmelte ich bemüht ruhig. »Von mir aus. Also, was heißt das, ihr mimt mich?«
»Es heißt genau das, was du denkst.« Amanda legte die Hände ineinander und sah mich eindringlich an. »Ich bleibe hier in Harenstone und werde so tun, als wärst du weiterhin im Haus. Zwei deiner Freunde, Sam und Evelyn, werden hier sein und so tun, als wärst du hier, und jeder, der draußen sein Unwesen treibt, wird es glauben.«
»Genau, und ich übernehme den mobilen Part«, warf Pearl ein. »Nighton, du und ich, die Seraph und der Dämon namens Melvyn werden so tun, als wäre ich auch Jennifer, und von unterwegs dafür sorgen, dass die richtigen Leute uns sehen und uns folgen.«
Ich starrte die beiden an, mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, aber die Worte ergaben einfach keinen Sinn. »Warum… warum sollte da jemand drauf reinfallen?«, flüsterte ich.
Pearl grinste verschlagen. »Weil wir gut sind in dem, was wir tun. Außerdem sehen wir nicht nur aus wie du, wir riechen aus so, bewegen uns so und-«
»Moment!« Ich hob eine Hand und drehte mich hilfesuchend zu Nighton um, der bisher nicht mal protestiert hatte. Im Gegenteil, er saß einfach nur da, hatte die Stirn gerunzelt und nickte leicht, als hätte er irgendeinen geheimen Sinn dahinter entdeckt, der mir bisher verborgen geblieben war. »Warum reden sie, als würden du und ich nicht…? Was soll das alles?«
Nighton sah mich an, hielt meinem Blick stand, aber ich erkannte die Anspannung in seiner Haltung, die Art, wie seine Hände auf seinen Oberschenkeln ruhten, als müsste er sich zwingen, die Nerven zu bewahren. Er rieb sich die Stirn, atmete tief durch und sagte langsam und ein wenig gequält zugleich: »Weil du nicht hier sein wirst. Ich glaube, ich verstehe langsam, was Tharostyn sich ausgedacht hat.«
Ich wurde immer verwirrter, und doch beschlich mich ein sehr ungutes Gefühl. »Was? Ich verstehe es nicht!«
Nighton atmete aus und sah mir daraufhin direkt in die Augen. »Jen, wenn der Krieg in Oberstadt losbricht, darfst du weder in meiner Nähe noch in diesem Haus sein. Du wärst ein zu leichtes Ziel – für Selene, für Asmodeus, für alle, die dich wollen. Seit klar ist, dass Unterstadt bald angreift, überlege ich schon, wie ich dich aus der Schusslinie bekomme. Das hier könnte eine gute Lösung sein.«
»Aber…« Ich schüttelte den Kopf, jedes Wort blieb mir im Hals stecken. »Aber du…«
»Ich werde nicht bei dir sein können«, sagte er, als hätte er gewusst, was ich fragen wollte. Dabei entging mir nicht der angespannte Ton, der in seiner Stimme mitschwang. »Ich muss hierbleiben und den anderen helfen, alle zu täuschen. Ist doch so, oder?« Er sah zu Pearl und Amanda, die synchron nickten. »Sieh mal, wem würden die Dämonen von uns am ehesten folgen? Einer Jennifer und ihren Freunden? Oder einer, die mit mir unterwegs ist?«
Ich konnte nur noch den Kopf schütteln, bevor ich hervorstieß: »Du willst mich allein lassen?« Meine Stimme klang schwächer, als ich wollte. Die Erkenntnis über diesen ganzen ‚Plan‘ traf mich frontal. Nicht nur, dass ich von Nighton getrennt sein würde, was bisher nie gut ausgegangen war – alle, die mir wichtig waren, würden sich in Gefahr bringen. Für mich.
»Nicht allein«, mischte Amanda sich sanft ein. »Zwei sehr fähige Individuen werden dich begleiten. Der Dämon Gillean und der Engel Nivia. Bei ihnen wirst du sicher sein.«
»Das ist nicht dasselbe!«, rief ich heftig. Ich sprang auf und trat einen Schritt zurück. In meiner Brust hatte sich die Panik ausgebreitet wie ein Virus. Jede Erinnerung an die Momente, in denen ich ohne Nighton gewesen war, schoss mir durch den Kopf – die Ghule, das Sumpfmonster, der Agrameos, Dorzars Übergriff, TI. All das hatte mich fast umgebracht, und jetzt sollte ich mich wieder darauf verlassen, dass alles gut ging? »Das… das könnt ihr nicht ernst meinen. Ich will nicht, dass sich irgendwer für mich in Gefahr begibt, und Nighton, du weißt, dass ich das Unglück nur so anziehe, wenn du nicht bei mir bist!«
»Ich weiß, wie oft es schiefging, wenn du allein warst, aber ich weiß auch, wie oft wir keine andere Wahl hatten. Und denk ja nicht, dass ich will, dass du gehst, Jen, ich hasse den Gedanken, dass du so weit weg bist und ich nicht bei dir bin. Nur das hier könnte der einzige Weg sein, dich wirklich in Sicherheit zu bringen«, erklärte Nighton eindringlich und ein bisschen verzweifelt, während er ebenfalls aufstand. Er bewegte sich langsam, als wollte er mich nicht noch mehr verschrecken. Als er vor mir anhielt, durchzog auf einmal Resignation seinen Blick. »Und seien wir mal ehrlich – die Anzahl von den Momenten, in denen ich bei dir war und dir trotzdem etwas passiert ist, spricht mehr als für sich. Manchmal glaube ich sogar, es macht gar keinen Unterschied, ob ich auf dich aufzupassen versuche oder nicht. Aber ich will daran glauben, dass es diesmal anders ist.«
»Ach, und warum?« Ich verschränkte wütend die Arme.
Nighton hielt meinem Blick stand. »Weil diesmal nicht nur mir dein Schutz obliegt, sondern uns allen. Und Gil und Nivia sind nicht wie die anderen. Sie wissen, wie man gefährliche Situationen meistert, haben beide jahrhundertelange Lebenserfahrung. Sie sind hier mit die Besten, Jen. Wenn ich irgendjemandem zutrauen würde, dich zu beschützen, dann ihnen. Außerdem…«, er suchte kurz nach Worten, »ist es wichtig, alle da draußen glauben zu lassen, dass du bei mir bist, damit du Zeit gewinnst. Weil du… DU…«, sein Blick wurde intensiv und vielsagend, »…wirklich in Sicherheit sein musst.«
Ich wollte widersprechen, mich tierisch aufregen, ihm und den anderen beiden vorwerfen, dass das ein schrecklicher Plan war, dass ich das nicht zulassen konnte. Aber dann sah ich seinen Blick, den er bei dem intensiv hervorgebrachten zweiten ‚Du‘ aufgesetzt hatte. Es war derselbe, den ich schon gestern Abend im Bad von ihm bekommen hatte, diesen Ausdruck, eine Mischung aus Sorge, Schuld und etwas, das ich nur als Hoffnung deuten konnte. Seine Worte rollten durch meinen Kopf. Und dann wurde es mir klar. Er dachte an das Baby. An den neuen Yindarin. An unsere Verantwortung ihm gegenüber.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schloss kurz die Augen. Er hatte Recht. Es ging nicht nur um mich, und selbst wenn es so gewesen wäre, es gab nicht wirklich eine andere Möglichkeit, damit musste ich mich wohl oder übel abfinden. Aber das machte es nicht einfacher.
Ich ließ die Schultern sacken, und damit auch meine Abwehrhaltung. »Wohin wollt ihr mich bringen?«
Pearl und Amanda tauschten einen Blick, der mir sagte, dass sie das auch nicht wussten. Doch Nighton zögerte nicht, als er antwortete: »Zu deiner Tante Margaret. Nach Schottland.«
»Wie bitte?«, ächzte ich und riss die Augen auf. »Du willst, dass ich zu ihr gehe? Sie hasst mich, Nighton, und wird mich vermutlich nicht mal reinlassen! Sie hat mich noch nie leiden können, weil sie mich für den Tod von meiner Mum, ihrer Schwester, verantwortlich macht!«
»Du bist schon mit deutlich schlimmeren Anfeindungen als Hass fertig geworden«, erwiderte Nighton ruhig. »Außerdem ist es genau deswegen der beste Ort. Und Selene weiß auch nichts von Margaret. Sie-«, er stockte, sah kurz zu Amanda und Pearl, bevor er sich straffte und fortfuhr. »Ich habe Selene nie von ihr erzählt, weil es keinen Grund dafür gab. Deine Tante ist also ein blinder Fleck. Ich werde mich darum kümmern, dass sie dich nicht fortschickt.«
Ich wollte widersprechen, glaubt mir, ich wollte es so sehr. Doch ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Also flüsterte ich leise und mit belegter Stimme: »Okay.« Trotzdem nagte ein unangenehmes Gefühl an mir. Als hätte ich gerade einen Fehler begangen, indem ich zustimmte.
Nighton trat näher, und ich spürte die Hitze auf meiner Haut, die mit seiner Nähe einherging. Er ergriff mich an beiden Schultern und raunte: »Wir schaffen das.« Obwohl ich nicht wusste, wie, glaubte ich ihn. Oder versuchte es zumindest. Als er erkannte, dass ich nicht vorhatte, zu protestieren, ließ er meine Schultern los, und ich merkte, wie er die Luft ausstieß. Kurz glaubte ich sogar, einen Hauch von Erleichterung in seinen Augen zu erkennen.
Im Hintergrund räusperte sich Amanda. »Gut. Morgen früh wird es losgehen.«
Ich blinzelte, überrascht und auch ein wenig entsetzt. Morgen schon? Das war… so bald! Mein Magen zog sich erneut zusammen, und ich spürte, wie ich mal wieder gefährlich nahe an den Rand einer Heulattacke geriet. Mit brüchiger Stimme fragte ich an alle gewandt: »Wie lange muss ich denn bei meiner Tante bleiben?«
Nighton, der meinen heranrollenden Gefühlsausbruch ebenfalls zu wittern schien, reagierte sofort. Sanft erklärte er: »Nur, bis alles vorbei ist. Ich werde dich abholen, sobald ich kann. Solange bleiben Gil und Niv rund um die Uhr bei dir.«
Ich sah ihn an und suchte in seinem Blick nach irgendetwas, das mit Halt geben konnte. Aber mit einem Mal wirkten seine Augen schwer, als würde er über etwas nachdenken, das er nicht mit mir teilen wollte. Es war nicht das erste Mal, dass er so wirkte, als ob sein Kopf schon weiter in der Zukunft war. Ich wollte zu gerne wissen, was ihn beschäftigte, aber der Kloß in meinem Hals war zu dick. Stattdessen schluckte ich und blinzelte die ersten Tränen weg – mehr oder weniger erfolgreich. »Und wie soll das morgen ablaufen?«, presste ich hervor.
Pearl übernahm das Wort, allerdings nicht, ohne mir ein sanftes, beinahe mitleidiges Lächeln zu schenken. »Ganz einfach. Heute Abend noch briefen wir die anderen, die bald eintreffen dürften. Amanda wird dann morgen früh die ersten Schritte machen. Sie wird deine Gestalt annehmen und hier im Haus ein paar belanglose Dinge erledigen. So Sachen wie vor dem Fenster stehen oder durchs Haus laufen. Alle Diener der Dämonengöttin, die zweifellos schon irgendwo da draußen sind, sollen sehen, dass du hier bist. Sobald das erledigt ist, fahren Nighton und ich, in deiner Gestalt, zusammen mit der Seraph und Melvyn los. Wir werden dabei genug Aufmerksamkeit erregen, um die meisten, wenn nicht alle Dämonen auf unsere Spur zu locken.«
»Das heißt, hier werden drei Jennifers auf einmal herumlaufen?«, fragte ich skeptisch. »Das fällt doch auf, oder? Ich meine, wenn es plötzlich drei von meiner Sorte gibt, werden die nicht misstrauisch? Und was, wenn Dorzar und Riakeen mit da draußen sind? Die kennen mich. Die können mich bestimmt von euch unterscheiden.«
»Du denkst, drei Jennifers fallen auf?« Amanda lachte leise, als hätte ich einen besonders niedlichen Witz gemacht. »Gerade das ist der Punkt. Verwirrung ist genau der Sinn der Sache. Sie sollen nicht wissen, wo sie zuerst hinschauen sollen. Die dunkle Göttin wird sich die Haare raufen, wenn sie das hört, dass ihre Schergen sich uneinig sind, welche Spur sie verfolgen sollen. Wir werden auch falsche Hinweise legen, die suggerieren, dass du in einer ganz anderen Richtung unterwegs bist. Selene wird nicht wissen, wem oder was sie glauben soll. Damit werden wir sie und all ihre Untergebenen psychologisch ausmanövrieren.«
»Ja, und dann wird sie aus lauter Frust persönlich hier aufkreuzen, wenn sie es nicht eh schon vorhat, und mich einkassieren wie eine ausstehende, besonders saftige Belohnung!«, zischte ich unbeabsichtigt sarkastisch. Nighton runzelte die Stirn, bevor er die zwei Gestaltwandlerinnen anschaute. »Da hat sie Recht. Selene wird alles versuchen, weil sie und Asmodeus besessen von ihr sind und sie für ihre Pläne so dringend brauchen«, wandte er ein. Amanda nickte, entgegnete aber ernsthaft: »Aber sie wird sich nicht so schnell bewegen, wie ihr denkt. Sie wird sicherstellen, dass sie auf der richtigen Spur ist, bevor sie handelt. Und genau diese Unsicherheit wollen wir ausnutzen. Dennoch-«, sie machte ein ernstes Gesicht. »Es stimmt, es gibt natürlich auch Risiken. Für den Fall, dass Selene und ihre Lakaien etwas durchschauen, hat sich Meister Tharostyn gemeinsam mit Michael eine andere Möglichkeit überlegt. Eine Art Notfall-Plan.«
Nighton wurde hellhörig, genau wie ich. Allerdings kam ich ihm zuvor und fragte misstrauisch: »Was für einen Notfallplan?«
Pearl erklärte: »Ein Zeitspalt. Nivia oder Gil können deinen Teleporter spalten, Nighton, und dadurch einen Sprung durch Raum und Zeit machen. Keine Verfolger, keine Dämonen – niemand kann euch dort finden.«
Nighton schüttelte wild den Kopf und rief entgeistert: »Was? Ein Zeitspalt? Ihr wisst, wie instabil diese Dinger sind! Es ist schon ein Wunder, dass Jen damals durch ihren Sprung nicht zerfetzt wurde!«
»Du hast Recht, Nighton«, gab Pearl zu und wiegte den Kopf hin und her. »Damals hatte aber niemand Kontrolle über die Situation, das war zumindest mein Eindruck aus dem, was der alte Meister uns erzählt hat. Diesmal haben wir mit Gil und Nivia aber Leute, die die Erfahrung und die Mittel mitbringen, um den Spalt stabil zu halten – zumindest für lange genug, um sich und Jennifer in Sicherheit zu bringen. Sie wissen bestimmt, wie man eine Zeitspalte stabilisiert. Und wenn nicht, kann Michael es ihnen immer noch erklären. Er als Turmwächter sagte, er habe viel mit Teleporten zu tun und kenne sich aus. Aber ja. Es ist sehr riskant. Es gibt keine Karten, keine Sicherheiten, und man weiß nie, wo man landet. Oder wie man zurückkommt. Aber die beiden finden sicher einen Weg.«
Ich stöhnte auf. Ein Zeitspalt? Das erleben, was ich schon mal unbeabsichtigt herbeigeführt hatte? Gut, ich war freiwillig in Irland geblieben, aber auch nur, weil ich geglaubt hatte, keine Wahl gehabt zu haben. Nur jetzt war alles anders. Das Wissen darum, dass ich bald schon wieder durch eine andere Zeit wandern könnte, fühlte sich schwer an, fast wie eine Tür, die ins Nichts führte – und möglicherweise nie wieder zurück. Ich wollte gar nicht daran denken, was das bedeuten würde. »Das klingt nach einer beschissenen Idee«, kommentierte ich entsetzt und verschränkte die Arme. Amanda und Pearl nickten, und Amanda erwiderte: »Es ist keine Idee, Liebes, es ist Plan B. Und wir alle hoffen, dass wir ihn nie brauchen.«
Hilfesuchend sah ich zu Nighton, der in diesem Moment kurz die Augen schloss, als würde er nach Worten suchen. Dann wandte er mir langsam sein Gesicht zu und murmelte mit schwerer Stimme: »Ich will auf keinen Fall, dass es so weit kommt. Zeitspalten sind nichts, was ich mit dir je riskieren wollte. Aber… wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann nur als allerletzte Option.« Er schluckte merklich und warf mir einen gequälten Blick zu. »Lieber mit Nivia und Gil verloren in einer Zeitspalte, aber mit Hoffnung auf Wiederkehr, als in den Händen von Selene und diesem verrückten Primal. Das sehe jedenfalls ich so.«
Ich stöhnte erneut auf, sah aber ein, was er meinte. Puh, ich hoffte wirklich, dass es nicht so weit käme. Trotzdem gefiel mir das alles nicht. Alle hatten irgendwie einen Plan, eine Rolle, eine Aufgabe. Alle wussten, was zu tun war – außer ich. Und obwohl alles um mich herum zu meinem Schutz geschah, fühlte ich mich seltsamerweise so allein wie nie zuvor.
»Was passiert, wenn ich mit dir und den anderen zwei weggefahren bin?«, wechselte Nighton dann auf einmal unverhofft das Thema.
Pearl schlug das eine über das andere Bein. »Wenn du, die Seraph, Melvyn und ich weg sind, werden Nivia und Gil mit Jennifer ins Auto steigen und direkt hoch in den Norden Schottlands fahren. Zu Jennifers Tante. Diese Idee war gut. Während der ganzen Sache darf es aber keinen Kontakt unter euch allen geben. Keine Handys, kein Internet, gar nichts. Ihr wisst ja, in der heutigen Zeit ist alles nachverfolgbar, und auch die Dämonen sind moderner geworden. Es wird nur über den Dreifuß kommuniziert, und das auch erst, wenn Jennifer sicher bei ihrer Tante eingetroffen ist. Das ist übrigens eine Anweisung von Meister Tharostyn. Aber bis ihr da oben ankommt, dürfte es ja ein paar Stunden dauern, je nachdem, wie die Witterungsbedingungen draußen sind. Und sobald du dort bist, heißt es warten.«
Ich sah mit an, wie Nighton sich wieder setzte, und beschloss, es ihm gleichzutun. Sobald ich das kühle Leder der Couch unter mir spürte, fragte ich: »Warum teleportieren wir uns nicht direkt?«
»Teleporte sind genauso nachverfolgbar«, erklärte Nighton düster und stützte seinen Kopf auf seine Hand. Nachdem er das ausgesprochen hatte, hingen seine Worte in der Luft, und ich spürte, wie meine Kehle immer trockener wurde. Keine Verbindung zu Nighton. Keine Verbindung zu Penny, Sam oder irgendwem sonst. Ich würde es nicht erfahren, wenn einem von ihnen etwas passierte. Ein alptraumhafter Gedanke. Trotzdem atmete ich tief durch und nickte. »Verstehe«, murmelte ich mit dünner Stimme.
Die Stille, die folgte, war schwer und unangenehm. Irgendjemand hätte sie durchbrechen müssen, doch wir alle schienen unseren eigenen Gedanken nachzuhängen. Die Luft im Wohnzimmer schien mir die Kraft zu rauben, und ich wollte einfach nur noch weg. Ich musste raus aus diesem Raum, raus aus dieser erdrückenden Diskussion. Bevor die Angst, die in mir brodelte, noch aufsteigen und überkochen würde. »Ich gehe mal das Gästezimmer vorbereiten«, verkündete ich schnell, ehe ich darüber nachdenken konnte. Niemand hielt mich auf, als ich aufstand und das Wohnzimmer verließ. Ich hörte nicht einmal ihre Reaktionen, falls es welche gab. Meine Füße trugen mich mechanisch durch den Flur, und ich zwang mich, einen Schritt nach dem anderen zu machen.
Im ersten Stock schlossen sich meine Hände um den Türrahmen des Gästezimmers, bevor ich die Tür öffnete. Der Raum war leer, ordentlich, und doch kam er mir wie ein Mahnmal vor. Ich würde morgen schon hier weg sein, weit weg von allen, die mir wichtig waren. Und wer wusste schon, wann ich wiederkommen würde?
Mit einem tiefen Atemzug begann ich, die Bettwäsche zu wechseln.
Ich musste irgendetwas tun.
Ich musste irgendetwas vorbereiten.
Ich musste mich davon ablenken, was mich erwartete.