Plötzlich hörte ich, wie oben das Portal aufging, als hätte das Schicksal meine Gedanken vernommen. Tharostyns Stimme drang zu mir herunter. Ich setzte mich auf, mein Herz klopfte schneller. Sofort schwang ich die Beine aus dem Bett und lief nach oben. Der alte Engel stand da, während Sam ihm gerade aus seinem Mantel half. Als Tharostyn mich erblickte, legte sich ein Ausdruck von Resignation auf sein Gesicht. Seine Schultern sanken leicht herab, und in seinen blauen Augen schimmerte Besorgnis. Diese Reaktion verunsicherte mich.
»Ah, Miss Ascot. Zu Ihnen wollte ich gerade«, begrüßte er mich.
Kaum war Tharostyn seines Mantels entledigt, fegte er Sam und Evelyn regelrecht hinaus. Evelyn murrte wütend und stampfte aus der Kirche, nur Sam blieb unsicher stehen, als wüsste er nicht, ob er gehen sollte.
»Was an 'Raus mit Ihnen' haben Sie nicht verstanden, Mr. Hale?« Tharostyns Stimme war scharf, und er wedelte mit seinem Stock in Richtung des Portals. Sein Gesicht war eine Mischung aus Geduld und genervter Autorität.
Sam stammelte: »Tja, also, Nighton hat gesagt, ich soll auf Jennifer aufpassen, also…«
»Und Sie glauben, dass sie in meiner Anwesenheit nicht sicher ist? Frechheit! Raus mit Ihnen!« Tharostyns Augen funkelten streng.
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der alte Engel hatte wirklich eine Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Sam zögerte, seine Schultern sackten, und er folgte schließlich Evelyn, wobei er mir noch einen letzten, besorgten Blick zuwarf. Ich schüttelte den Kopf, fast amüsiert, bevor ich mich wieder auf Tharostyn konzentrierte.
Er schien mich einen Moment zu mustern, dann seufzte er leise. »Sie sehen furchtbar aus, Miss Ascot. Schon wieder so viel Schlimmes, das über Sie hereingebrochen ist... Ich frage mich, wie lange Sie das noch durchhalten.« Seine Stimme klang schwer, fast traurig. »Es macht mir Sorgen. Wirklich. Sie scheinen sich ununterbrochen in einem Strudel chaotischen Terrors aufzuhalten.«
Ich verschränkte die Arme und zog eine Grimasse, bevor ich zugab: »Diesmal war es meine Schuld, dass es so gekommen ist. Ich habe mich selbst in die Falle laufen lassen. Es war dumm von mir. Aber ich hatte trotzdem nicht wirklich eine Wahl.« Seine Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. »Nighton hat Ihnen doch bestimmt alles erzählt?«, fragte ich, und Tharostyn nickte bekümmert.
»Dumm oder nicht, Sie müssen besser auf sich aufpassen«, bat er dann ernst. Doch ich zuckte nur mit den Schultern. »Ich versuche es ja.«
Hustend setzte sich der alte Engel in den großen Ohrensessel, der Teil der Sofagruppe vor dem Altar war.
»Stehen Sie doch nicht so herum, setzen Sie sich«, forderte er mich auf.
Mein Herz schlug schneller, und ich ließ mich auf das Sofa fallen. Ich war gespannt, was Tharostyn zu sagen hatte.
»Zuerst einmal«, begann Tharostyn, »bin ich froh, Sie wohlbehalten wiederzusehen. Ihr Verschwinden hat für ziemliches Chaos gesorgt. Wie Sie sich vorstellen können, war unser Yindarin… außer sich.«
Mein Herz tat einen kleinen Hüpfer bei der Erwähnung von Nighton, doch ich blieb stumm. Tharostyn wartete eine Sekunde, dann sprach er weiter.
»Wie ist es Ihnen in dem unterirdischen Labor ergangen?«
»Beschissen«, entgegnete ich kurz angebunden und verschränkte die Arme. Was war das überhaupt für eine Frage?
»Hm.« Er schien meine Antwort zu übergehen, als hätte ich ihm gesagt, es hätte genieselt.
»Nighton hat nur vage Informationen gegeben. Er meinte, die Menschen dort wüssten mehr, als sie sollten. Haben Sie eine Ahnung, woher?«
Ich runzelte die Stirn und hakte nach: »Wieso klingt das so, als würden Sie mich verdächtigen, irgendwas ausgeplaudert zu haben?«
»Oh nein, nein.« Tharostyn winkte direkt ab. »Das ist nicht der Fall. Der Rat will nur wissen, ob Sie etwas mitbekommen haben, was nützlich sein könnte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts, was sie nicht schon vorher gewusst hätten.«
Er musterte mich noch einen Moment, als würde er überlegen, ob er mir glauben sollte, dann umfasste er seinen Gehstock fester und atmete tief durch.
»Gut.« Er sprach langsamer jetzt, als würde jedes Wort Gewicht haben. »Aber das ist nicht der Hauptgrund, weshalb ich hier bin.«
Unbehagen kroch in meine Magengrube. »Sondern?« Ich schluckte unwillkürlich. Etwas stimmte nicht, das konnte ich an seinem Blick sehen und an der Schwere in seiner Stimme hören.
»Jennifer...« Er hielt inne, als müsste er die richtigen Worte finden, und allein, dass er mich beim Vornamen nannte, ließ Panik in mir aufwallen. »Ich muss Ihnen etwas sagen, und es wird Ihnen nicht gefallen.«
Mein Atem stockte. Das klang ernst, viel zu ernst. »Was denn?«, brachte ich mit trockenem Mund hervor, den alten Engel fixierend.
Tharostyn holte tief Luft. »Wir können Uriel nicht finden.«
Seine Worte schlugen wie ein Hammerschlag ein. Mein Herz setzte einen Schlag aus, und dann galoppierte es los. »Was… was heißt das?«, stotterte ich, obwohl ich die Atwort längst kannte.
»Es tut mir leid.« Tharostyn seufzte schwer. »Das war der Grund, weshalb ich Nighton sprechen wollte, als Sie beide in Oberstadt aufgetaucht waren. Uriel ist und bleibt verschwunden, und auch die anderen Erzengel können sie nicht finden. Nighton meinte, Sie sollten es aus meinem Mund hören.« Er senkte den Blick. »Wir - ich habe Ihnen Hoffnung gemacht, und dafür... dafür bitte ich um Verzeihung.«
Die Worte klangen dumpf in meinem Kopf nach. Tharostyns Hiobsbotschaft hatte mir soeben den fragilen Boden unter den Füßen weggezogen. Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich mich unterschwellig daran festgehalten hatte - an dieser winzigen, flüchtigen Hoffnung, dass ich eines Tages wieder ein Yindarin werden könnte. Und das zerfiel nun wie Staub in meinen Händen.
»Aber – dann sucht weiter!« Meine Stimme überschlug sich.
Tharostyn hob beschwichtigend die Hand. »Miss Ascot, es tut mir-«
»NEIN!«, rief ich und presste meine Hände gegen meinen Kopf, als würde das den Druck in meinem Inneren dämpfen. »Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen!«
Ich wusste, dass ich unfair war. Er konnte nichts dafür, dass Uriel nicht zu finden war. Aber in diesem Moment war mir das egal. Mir war alles egal.
»Das kann doch nicht sein!«, flüsterte ich nach einigen Sekunden, und meine Stimme brach beinahe. »Ich habe alles gegeben! Alles verloren! Nighton… Siwe… Ich habe so viel geopfert.« Ich schnappte nach Luft, während ich spürte, wie mein ganzer Körper vor Anspannung zitterte. Er war noch nicht bereit für so viel Wut.
Tharostyn holte tief Luft, ehe er einwandte: »Und trotzdem haben Sie ein lebenswertes Leben, Miss Ascot. Vergessen Sie das nicht. Sie haben Freunde, die Sie lieben, und die Möglichkeit, mit dem Yindarin an Ihrer Seite zu sein. Ihre Perspektiven...«
»Perspektiven?« Ich sprang auf. »PERSPEKTIVEN? Ich war ein Yindarin! DAS war eine Perspektive! Jetzt?« Ich lachte bitter auf. »Jetzt bin ich nur ein Mensch, der altert, während alle anderen ewig jung bleiben! Und Sie erwarten, dass ich das akzeptiere und glücklich dem Sonnenuntergang entgegenhüpfe?!«
Das Portal öffnete sich, und Sam steckte seinen Kopf durch. Wütend packte ich eines der leeren Gläser vom Couchtisch und warf es in seine Richtung. Es zerschellte an der Tür, und Glassplitter flogen überall hin.
»Beruhigen Sie sich!« Tharostyns Stimme war ruhig, fast beschwichtigend, aber ich konnte nicht aufhören. Der ganze Raum drehte sich, und ich musste mich an der Couch festhalten, als ein Schwindel über mich kam. Die Erschöpfung der letzten Wochen drohte, mich zu überwältigen.
»Ich will mich nicht beruhigen!«, schrie ich. »Nighton hatte recht! Warum habt ihr mir diese Hoffnung gemacht, wenn ihr doch wusstet, dass Uriel nicht zu finden ist?! Ihr habt mein Leben komplett umsonst aufs Spiel gesetzt!«
Der alte Engel schüttelte langsam den Kopf und seufzte tief. »Der Rat hat genauso gehofft wie Sie, Miss Ascot. Wir alle wollten daran glauben, dass Sie Ihren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen können. Aber wenn wir Uriel nicht finden, ist es unmöglich. Wir können es nicht erzwingen.« Er machte eine Pause, bevor er ernst hinzufügte: »Und wenn ich das sagen darf: Es war Ihre Entscheidung, Sekeera an Nighton weiterzugeben. Niemand hat Sie dazu gezwungen.«
Sein letzter Satz traf mich wie ein Schlag. Mein Mund öffnete sich, und ich starrte ihn an. Das hatte er nicht wirklich gesagt.
»Wie können Sie sowas sagen?«, flüsterte ich entsetzt. Tränen stiegen mir in die Augen. »Sie wissen genau, was Nighton mir bedeutet! Wie hätte ich es nicht tun können?«
Tharostyns Miene blieb hart, als er mich daran erinnerte: »Sie haben Ihre Gefühle über Ihre Bestimmung gestellt. Das war Ihre Entscheidung, und jetzt müssen Sie mit den Konsequenzen leben. Sie können niemanden dafür verantwortlich machen, schon gar nicht die, die versuchen, Ihnen zu helfen.«
Seine Worte schmerzten mehr, als ich zugeben wollte. Ich spürte, wie die Wahrheit in ihnen mich traf, doch anstatt sie zu akzeptieren, wehrte ich mich dagegen.
»Raus!«, schluchzte ich schließlich. »Gehen Sie, Sie alter Faltensack! Ich will nicht mehr mit Ihnen reden!«
Tharostyn zögerte und stand dann langsam auf, mit einem tiefen, bedauernden Seufzer. Er zog sich den Mantel über die Schultern und ging wortlos zur Tür.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal leise, bevor er durch das Portal verschwand.
Aufschluchzend ließ ich mich auf das Sofa fallen. Die Anspannung der letzten Minuten war in jeder Faser meines Körpers spürbar, und die Worte von Tharostyn hallten in meinem Kopf nach. Ich fühlte mich, als würde der Boden unter mir nachgeben, als könnte ich in jedem Moment den Halt verlieren.
Plötzlich hörte ich das Portal erneut aufgehen. Sam, der eben noch die Flucht ergriffen hatte, trat herein. Seine Augen fielen auf die Scherben, die immer noch auf dem Boden lagen. Vorsichtig kam er näher, blieb aber ein paar Meter vor mir stehen, als wüsste er nicht genau, wie er mich ansprechen sollte. Irgendwie reichte sein zögernder Blick, um das Feuer der Wut in mir erneut auflodern zu lassen.
»Was? Was glotzt du mich so an?«, fuhr ich ihn an. Er zuckte zusammen, schob sich die Brille hoch und setzte sich dann ohne ein weiteres Wort neben mich auf die Couch.
Für einen Moment blieb ich still, mit dem Rücken zu ihm dasitzend. Doch dann drehte mich zu ihm um. Sein mitleidiger Blick tat fast weh, als er leise sagte: »Hab's mitgehört. Tut mir voll leid, Jen.«
Ich hob nur kraftlos die Schultern, wischte mir den Tränenrest von der Nase und murmelte: »Tja, das war’s dann wohl. Ich bleibe für immer ein langweiliger, schwacher Mensch.«
Sam versuchte, es mit einem Scherz aufzulockern: »Langweilig bist du sicher nicht.« Aber als ich ihn scharf ansah, verschwand sein Lächeln sofort. Er seufzte und legte eine Hand auf meine Schulter, die sich schwerer anfühlte, als sie eigentlich war.
»Jason meinte letztens, er hatte immer das beste Verhältnis zu Uriel von uns allen. Vielleicht kann er irgendwie helfen.«
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Bedrückt erwiderte ich: »Ist auch egal. Bestimmt habe ich gerade alles kaputtgemacht. Ich habe Sachen zu Tharostyn gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen. Selbst wenn sie Uriel finden... der Rat wird mir sicher nicht mehr helfen wollen.« Bei diesen Worten brannten mir erneut die Augen, und bevor ich es verhindern konnte, begann ich wieder zu weinen. Alles fühlte sich so verdammt unfair an!
»Ach was«, erwiderte Sam leise, aber entschlossen. »Du hast dich verteidigt, das war alles. Es ist nicht das Ende der Welt.« Doch seine Worte prallten einfach an mir ab. Mein Kopf fiel in meine Hände, und das Schluchzen wollte einfach nicht aufhören. Da hörte ich hörte ein leises Rascheln und sah auf. Sam zog eine Packung Rum-Pralinen unter dem Couchtisch hervor und hielt sie mir unsicher entgegen. Für einen Moment musterte ich ihn, dann riss ich ihm die Packung aus der Hand und stopfte mir eine Praline nach der anderen in den Mund, während ich schniefte. Sam schaute mir dabei zu, mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung im Blick, doch es war mir egal.
Als die Schokolade leer war, warf ich die Packung achtlos zur Seite und starrte an die Decke. »Was soll ich jetzt machen?«, stöhnte ich, obwohl ich nicht wirklich eine Antwort erwartete.
»Der Rat wird weiter-«
»Der Rat kann mich mal!«, schnaubte ich dazwischen und rieb mir frustriert die Augen. Ein Teil von mir wünschte sich, dass Nighton hier wäre. Seine Anwesenheit hatte mich oft beruhigt, selbst in meinen dunkelsten Momenten.
»Du könntest ihnen das ja mal vorschlagen«, witzelte Sam, und diesmal konnte ich ein schwaches Lächeln nicht ganz unterdrücken. Aber die Schwere in mir blieb. Ich stand auf und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht, versuchte die Tränen wegzuwischen, die sich immer wieder ihren Weg bahnten. Dann sah ich zu Sam, der mich mit einem aufmunternden Lächeln ansah.
»Danke, Sam. Und sorry, dass ich ein Glas nach dir geworfen habe«, murmelte ich reuig.
»Schon vergessen«, versprach er sanft und stand auf. »Aber du solltest echt schlafen gehen. Du siehst aus, als wärst du durch die Hölle und zurück. Hast du überhaupt was gegessen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aber mir ist der Hunger eh vergangen. Du hast Recht... ich sollte ins Bett.«
Er nickte, und als ich zur Tür ging, fühlte ich seinen Blick auf mir lasten. »Gute Nacht, Jen«, wünschte er mir. Ich nickte, konnte aber nicht mehr antworten. Die Worte blieben in meinem Hals stecken.
Als ich die Treppe zu meinem Zimmer hinabstieg, spürte ich, wie mir langsam wieder alles entglitt. Seit Tagen, vielleicht sogar Wochen, hatte ich irgendwie über Wasser bleiben können – das Wissen, dass ich vielleicht ein Yindarin werden könnte, hatte mich dabei aufrecht gehalten, auch wenn ich es nicht gemerkt hatte. Doch jetzt? Jetzt fiel alles in sich zusammen. Uriel war unauffindbar, und ich war immer noch ein Mensch. Schwach. Verletzlich. Und offenbar würde ich auch genau das bleiben.