Thomas und ich hatten gerade die Haustür geschlossen, als Uriel sich zu mir umdrehte. Ihre Augen funkelten ernst, und sie hob ihre Axt an, um sie zu schultern – dabei stieß sie versehentlich gegen den kleinen Kronleuchter an der Decke, der bedrohlich zu schaukeln begann.
»Also«, begann sie, ihren Blick auf mich heftend. »Der Yindarin hat alles erklärt, Menschenkind. Ich werde dir natürlich dabei helfen, dein Erbe anzutreten.« Ein warmes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, das in diesem Moment unerwartet freundlich wirkte. Ihr Blick wanderte zu Anna hinunter, und ihre Augen weichten auf.
»Und in mir wirst du immer eine Beschützerin haben, kleine Seherin«, versprach sie und kniete sich auf eine Weise vor Anna hin, die für jemanden ihrer Größe erstaunlich sanft und behutsam wirkte. Anna sah Uriel mit großen Augen an, ihr Lächeln wirkte ein wenig zaghaft, doch voller Staunen. Neben mir verschränkte Thomas grimmig die Arme, ein misstrauisches Funkeln stand in seinen Augen.
Uriel richtete sich auf und machte sich daran zu gehen, hielt jedoch auf Höhe meines Bruders inne, drehte sich zu ihm um und räusperte sich laut. Das tiefe, vibrierende Geräusch ließ Thomas zusammenzucken und ein wenig zurückweichen. Uriel blickte ihn an, bevor sie mit ihrer behandschuhten Pranke freundschaftlich auf seine Schulter schlug – allerdings mit solcher Wucht, dass es meinen Bruder fast in die Knie zwang.
»Verzeih mir, Mensch, wenn ich dir Angst gemacht habe«, sagte sie bedauernd. Thomas wirkte, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Seine Gesichtsfarbe blieb weiß wie eine Wand, selbst als Uriel sich abwandte und zu Jason hinübertrat.
»Und du, Bruder«, ihre Stimme wurde wieder fest und durchdringend, »du kommst jetzt mit nach Oberstadt. Wir sollten feiern, dass du an die Tafel zurückgekehrt bist!« Ohne ein weiteres Wort packte sie Jasons Pullover und schob ihn vor sich her, ihn dabei liebevoll in eine Richtung drängend, der er mit halb verzogenem Gesichtsausdruck und leichtem Augenrollen folgte. Er tat mir fast leid, wie er von diesem muskulösen Mama-Bär aus dem Haus geschoben wurde – ohne jede Chance auf Widerstand.
Kaum hatten die beiden das Haus verlassen, stieß Anna einen freudigen Quietscher aus und sprang auf Thomas zu, der sich langsam wieder zu fangen schien. Sie schlang die Arme um ihn, und die Anspannung fiel für einen kurzen Moment von uns allen ab. Die anderen zogen sich allmählich in verschiedene Ecken des Hauses zurück, doch Nighton blieb neben mir stehen und schickte mir ein selbstzufriedenes Lächeln.
»Das hat doch gut geklappt«, meinte er und legte mir den Arm um die Schultern. Thomas sah das, und seine Stirn legte sich in Falten.
»Seid ihr jetzt zusammen, oder was?«, rief er entgeistert.
Ups. Ich hatte Thomas nichts von mir und Nighton erzählt. Wann auch?
Mit einem Schlucken erklärte ich: »Tut mir leid, ich wollte es dir und Anna ja sagen, aber… naja, es war einfach viel los.«
Thomas verschränkte die Arme. »Viel los, hm?« Er schüttelte den Kopf, eine saure Grimasse ziehend. »Und wann, genau, hattest du geplant, mir zu erzählen, dass du dich mitten in deinem… übernatürlichen Chaos auf jemanden einlässt? Nach allem, was war, hätte ich als dein großer Bruder sowas schon gerne erfahren.«
Nighton erwiderte mit entspannter Stimme, bevor ich etwas sagen konnte: »Hätte ich bei dir vorsprechen sollen?« Ein amüsiertes Funkeln stahl sich in seinen Blick. »Oder vielleicht eine Art Genehmigung beantragen?«
Thomas verengte die Augen und wich keinen Millimeter zurück. »Nein, Mann.« Er verschränkte die Arme. »Aber ich finde, ich habe das Recht zu wissen, wenn meine kleine Schwester sich jemandem wir dir anvertraut. Du hast ganz schön was auf dem Kerbholz, und sie war echt fertig im Juni, als sie wieder zurückgekommen ist. Hast du überhaupt verstanden, was das für sie bedeutet?«
Nighton nickte leicht, hielt Thomas’ Blick ruhig stand und legte schließlich den Kopf schief, bevor er nachdenklich erwiderte: »Ich verstehe deinen Standpunkt. Und ich respektiere es, dass du deine Schwester schützen willst – ich würde mir Sorgen machen, wenn du es nicht tun würdest. Aber du solltest wissen: Ich bin mir sehr wohl bewusst, was für ein Mensch Jennifer ist und was sie durchmacht. Und ich bin sicher, dass du als ihr Bruder auch weißt, dass sie niemanden an ihrer Seite haben wollen würde, dem sie nicht vollkommen vertraut.«
Thomas kniff die Lippen zusammen, seine Augen noch immer voller Besorgnis. »Ich habe gesehen, wie schwer ihr das alles fällt, und ich werde bestimmt nicht einfach zusehen, wie sie sich in dieser kranken Welt verliert.«
Nighton nickte anerkennend. »Und das ist genau der Grund, warum ich es gut finde, dass sie dich hat. Es braucht jemanden wie dich, der sie in der normalen Welt verankert, Thomas. Aber glaub mir, ich bin hier, um an ihrer Seite zu stehen – und zu kämpfen, wenn es sein muss.«
Ein kurzer Moment der Stille folgte, in dem Thomas’ Anspannung allmählich nachließ. Schließlich nickte er widerwillig und legte eine Hand auf meine Schulter. »Pass auf dich auf, Jen. Ich will einfach nur, dass du sicher bist.«
»Ich versuche es«, murmelte ich und drückte seine Hand. In diesem Moment platzte Anna mit strahlenden Augen und offenem Lächeln in die Unterhaltung.
»Heißt das, Nighton wird dich jetzt heiraten, Jenny?«, warf sie die Bombe in den Raum. Diese Frage brachte mich völlig aus dem Konzept, und ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss. Aber nicht nur mich traf die Frage völlig unvermittelt.
Nighton erstarrte einen Moment, dann hob er beide Augenbrauen und sah Anna an, als wäre er völlig auf dem falschen Fuß erwischt worden. Seine Lippen öffneten sich leicht, als wollte er etwas sagen, doch kein Wort kam heraus. Schließlich schnaubte er leise und wandte den Blick kurz ab, ein leicht verwirrtes Lächeln auf den Lippen. »Äh… das… das ist… ja, eine sehr faszinierende Frage, Anna.« Sein Grinsen wirkte jetzt irgendwie unsicher, und er warf mir einen kurzen, verlegenen Blick zu, der mein Unbehagen nur noch verstärkte.
Ein hektisches, unkontrolliertes Lachen entwich mir, und ich fühlte, wie meine Verlegenheit fast überhandnahm. »Man muss doch nicht gleich heiraten«, erwiderte ich lahm. »Außerdem haben wir ganz andere Probleme. Und du gehst jetzt besser ins Bett. Thomas fährt erst morgen.«
Anna zog eine Grimasse und erwiderte trotzig: »Aber ich will einen Schwager! Und Tante werden will ich auch!«
»Anna!«, stöhnte Thomas, der schon die ganze Zeit mit offenem Mund dastand, als wäre ihm das alles mal mindestens genauso unangenehm wie uns. »Sag mal, was redest du da für Zeug? Das gehört sich nicht!« Er sah mich dann an, und in seinem Blick lag eine Mischung aus Verwirrung, während er die Arme verschränkte und leicht schnaubend den Kopf schüttelte. »Du hast schon gehört, was deine große Schwester gesagt hat, oder?« Er hob eine Augenbraue und setzte an, noch etwas zu sagen, um Anna ins Bett zu schicken, doch ich kam ihm zuvor.
»Genug jetzt«, zischte ich hektisch und legte die Hände auf Annas Schultern. Mein Gesicht wurde noch heißer, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor Verlegenheit in Flammen aufzugehen. »Ab ins Bett mit dir!«
»Aber ich habe doch nur–«
»Nein, nein, ab mit dir!« Ich schob sie sanft, aber bestimmt in Richtung Treppe und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie wild mein Herz schlug. Anna kicherte und drehte sich noch einmal zu uns um, bevor sie die Treppe hinaufging und schließlich im Gästezimmer verschwand.
Thomas seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Tante werden… wow. Sie hat es scheinbar eilig.«
Ich winkte ab, Nightons Blick ausblendend. »Ach, die hat sie nicht mehr alle«, sagte ich, bemüht, möglichst lässig zu klingen. »Anna und ihre verrückten Ideen, du weißt ja. Niemand wird hier Tante.« Ich räusperte mich leicht, wollte das Thema endlich beenden und setzte ein bestimmtes »So« hinterher. »Thomas wird heute hier schlafen, Nighton.«
Nighton nickte, aber ich sah, wie seine Augen sich für einen Moment leicht verengten, als hätte er irgendetwas in der Luft gewittert. Als würde er ahnen, dass wir etwas vorhatten. Kurz bekam ich Angst, doch dann entspannte er sich wieder und zuckte mit den Schultern. »Klar, die Couch steht bereit.«
Thomas atmete aus und nickte, als wäre das Angebot ein erster Lichtblick in diesem verrückten Tag. »Danke.« Er sah mich dann an, und ich spürte die unterschwellige Spannung zwischen uns, die leise Vereinbarung, die unausgesprochen im Raum hing.
Bevor Nighton und ich die Treppe hinaufgingen, tauschte ich noch einen letzten Blick mit Thomas aus und tippte mir leicht aufs Handgelenk – eine stumme Aufforderung, sich einen Wecker zu stellen. Thomas nickte kurz, und eine Welle von Nervosität mischte sich mit der Entschlossenheit in meiner Brust. Ich fühlte mich wie eine Undercover-Agentin, die eine riskante Mission plante, und so ganz wohl war mir dabei nicht. Aber ich glaubte, dass es das Beste für Anna war – und wenn Nighton und die anderen das nicht verstanden, dann hatten sie eben Pech.
»Jen?«, raunte Nighton leise. Ich öffnete die Augen nur einen Spaltbreit. Wir lagen eng aneinander geschmiegt, seine Arme warm und sicher um mich gelegt, und ich war schon dabei, in den Schlaf zu sinken.
»Hm?«, murmelte ich schläfrig zurück.
Seine Hand strich sachte über meine Wirbelsäule, jeder Finger hinterließ eine Spur prickelnder Gänsehaut auf meiner Haut. »Was hat Thomas eigentlich gesagt?«
Diese Frage ließ mich innehalten. Meine Müdigkeit war sofort verflogen. Nightons Stimme klang weich, doch in ihr lag ein Hauch von Misstrauen, das mich alarmierte. Er hatte was mitbekommen, es musste einfach so sein. Ich überlegte hastig, welche Antwort ihn am ehesten zufriedenstellen würde.
»Er ist einverstanden gewesen«, flüsterte ich nach einer Pause. »Nachdem ich es ihm erklärt habe.«
Nighton blieb still, und seine Hand hielt inne, nur für einen Moment. »Obwohl du selbst nicht willst, dass sie nach Oberstadt geht?« Seine Worte klangen ruhig, doch der lauernde Unterton entging mir nicht. Ich unterdrückte ein Seufzen. Dieser Mann war einfach zu aufmerksam.
»Ich… ich bin immer noch nicht begeistert davon«, erwiderte ich, »aber Thomas hat eure Argumente verstanden. Und er will ja schließlich auch, dass es Anna gut geht.«
Nighton schwieg erneut, aber ich spürte seine wachsamen Augen auf mir ruhen. Jeder seiner Atemzüge verstärkte mein wachsendes Schuldbewusstsein, als ich daran dachte, was passieren würde, wenn Anna morgen früh weg wäre. Nighton würde mir das übelnehmen – vielleicht sogar mehr, als ich mir eingestehen wollte. Mein Herz schlug schwerer, und ich löste mich sanft aus seiner Umarmung, rollte mich zur Seite und streckte die Hand nach meinem Schlafanzug aus. Es war kalt im Zimmer, und die ungewohnte Distanz ließ mich frösteln.
Ein schneller Blick auf den Funkwecker zeigte mir, dass es bereits halb eins war. Die Zeit lief davon, und Nighton musste schlafen, damit ich Thomas heimlich helfen konnte, Anna aus dem Haus zu bringen. Mein Magen verkrampfte sich leicht bei dem Gedanken.
Ich entschloss mich, etwas Abstand zu dem Lügendetektor zu gewinnen und zu Thomas zu gehen. Also erhob ich mich leise und zog dabei meinen Pyjama an.
»Wohin gehst du?«, fragte Nighton überrascht.
»Ich geh nur runter und trinke etwas«, log ich und lächelte ihn auf eine Weise an, die hoffentlich entspannt wirkte.
Nighton stützte sich auf seine Unterarme und sah mich prüfend an, die Stirn leicht in Falten gelegt. Seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen, sein Blick war jetzt wachsamer als zuvor, als hätte er einen Hauch meiner Nervosität erfasst.
»Nur trinken, hm?« Er hob kaum merklich das Kinn, ließ mich jedoch nicht aus den Augen. Schließlich nickte er langsam und lehnte sich zurück, seine Miene blieb jedoch aufmerksam.
Ich hielt die Luft an, als ich das Schlafzimmer verließ und die Tür hinter mir schloss. Erst draußen stieß ich den Atem leise aus. Wieso musste es nur so schwer sein, ihn anzulügen?
Ich hatte gerade einen Fuß auf den Treppenabsatz gestellt, als ein scharfes Splittern aus dem Zimmer drang, in das wir Anna einquartiert hatten. Das Geräusch ließ mich erstarren, mein Herz raste, und ich hielt in der Stille den Atem an. Ein dünnes, unheimliches Knacken folgte – als würde etwas Schweres in Stücke brechen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
Beunruhigt trat ich langsam von der Treppe zurück und schlich zum Zimmer, meinen Blick auf die Tür geheftet. Eine beunruhigende Stille breitete sich aus, die nur von einem leisen Flüstern durchbrochen wurde, als ob jemand... redete? Doch die Worte waren kaum hörbar.
Plötzlich krachte hinter der Tür etwas Schweres zu Boden, und ein durchdringender Schrei gellte durch das Haus. Ich erstarrte und spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Im nächsten Augenblick stand Nighton, nur mit einer Jogginghose bekleidet, in der Tür zu unserem Schlafzimmer, die Augen weit geöffnet. Er sah mich kurz an, bevor der Schrei ein zweites Mal ertönte, lauter und verzerrter, erfüllt von einer Wut, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit zwei schnellen Schritten war er bei mir und schob mich bestimmt von Annas Tür weg.
»Ich gehe«, murmelte er mit gepresster Stimme, seine Hand fest auf meiner Schulter.
Ich hörte Thomas‘ hastige Schritte, die die Treppe heraufpolterten, und auch die anderen schienen wach geworden zu sein. Türen gingen auf, flüsternde Stimmen erfüllten das Zwielicht des Flurs, das nun von einem nervösen Licht-Flackern aus Annas Zimmer durchbrochen wurde, das unter der Tür hindurchschien. Nighton stieß die Tür auf und knipste das Licht an.
Im Zimmer herrschte Chaos. Auf dem Boden lagen überall Splitter von zerschlagenen Spiegeln, als hätte jemand sie mit voller Absicht zerschmettert. Anna saß auf dem Bett, das Gesicht seltsam verzerrt, während sie einen kleinen Spiegel in der Hand hielt und hineinstarrte, die Zähne entblößt in einem fauchenden Grinsen. Ihr Haar hing wirr über den Schultern, und das seltsamste von allem – sie trug ein schlabberiges, blaues T-Shirt und ein Paar viel zu große, schlammbespritzte Gummistiefel, die ihren Beinen einen grotesken Ausdruck verliehen. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo sie diese Sachen her hatte, aber das war in diesem Moment definitiv nicht das Hauptproblem.
»Anna?«, fragte ich voller Unbehagen. Meine Schwester reagierte nicht, nicht mal ein Wimpernzucken bekam ich. Ich quetschte mich an Nighton vorbei. Was war mit ihr? »Anna! Ich rede mit dir!«
In diesem Moment schoss ihre Hand nach vorn, und der Spiegel flog mit voller Wucht auf mich zu. Er schlug gegen die Wand und zersplitterte in tausend Stücke, direkt vor meinen Füßen. Bevor ich mich bewegen konnte, sprang Anna vom Bett, ihr erneuter Schrei gellte durch das Haus, wild und unmenschlich, und sie warf sich in den offenen Kleiderschrank und schlug die Türen hinter sich zu.
Ich schnappte nach Luft, trat zurück und spürte, wie sich eine der scharfkantigen Scherben in meine Fußsohle bohrte. Schmerz durchzuckte mich, also blieb ich wie versteinert stehen und hielt mich am Türrahmen fest.
Nighton ergriff mich noch in derselben Sekunde an den Schultern und schob mich nach hinten. Ich wollte protestieren, doch da begann der Boden unter uns seltsame, flimmernde Wellen zu schlagen, als wäre er aus einer zähflüssigen Masse geformt, die jetzt in Bewegung geriet. Ein unheilvolles Blubbern stieg auf, und die Ränder des Teppichs begannen zu rauchen. Beißender Geruch drang in meine Nase. Nightons Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Raus mit dir, sofort!«, stieß er hervor, schob mich aus dem Raum und schlug die Tür mit einem dumpfen Knall vor uns zu.
Draußen stand ich da, mein Atem ging hektisch, die Scherbe in meinem blutenden Fuß war sogar komplett nebensächlich. Thomas’ Gesicht war bleich wie eine Wand. Er stand mitten auf der Treppe und sah mich an. Ich erwiderte seinen Blick, und ein unausgesprochenes Verständnis lag zwischen uns – der Plan, Anna wegzubringen, war in diesem Moment geplatzt.
»Was ist denn mit ihr?«, fragte Gil besorgt. Er verschränkte die Arme. »Das war ziemlich gruselig für 'ne Achtjährige.« Evelyn, die am nächsten dran gestanden hatte, zog die Mundwinkel hinab und stimmte schnaubend zu: »Eure Schwester ist ja wohl der absolute Creep.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, drehte sie sich um und ging zurück in das Zimmer, in dem sie mit Nivia und Penny übernachtete.
Die anderen verstreuten sich allmählich, doch Thomas und ich blieben vor Annas Zimmertür, die uns wie ein unüberwindliches Hindernis erschien. Nervös lief ich auf und ab, das Herz hämmerte mir dabei in der Brust. Jeder Schritt fühlte sich an wie eine Ewigkeit, und der Gedanke, dass etwas Schlimmes mit Anna passiert sein könnte, brachte mich fast um den Verstand. Thomas blieb an Ort und Stelle stehen, die Schultern angespannt, die Augen starr auf die geschlossene Tür gerichtet.
Irgendwann, mit einem lauten Knall, flog die Tür auf, und Nighton trat heraus – Anna bewusstlos in seinen Armen tragend. Wie er sie so an sich drückte, sah sie plötzlich klein und verletzlich aus, in sich zusammengesunken in seinem Griff. Die Brandlöcher, die sich über Nightons Hose zogen, schickten eine Welle puren Entsetzens durch meinen Körper.
»Was ist los?«, rief ich, während ich versuchte, einen Blick auf Annas lebloses Gesicht zu erhaschen. Ihre blassen Lippen und die geschlossenen Augen ließen meine Angst nur wachsen.
Nighton marschierte zur Treppe und lief ins Erdgeschoss. Thomas und ich folgten ihm. Unten öffnete er die Haustür, sodass die winterliche Nachtluft hereindrang, und entgegnete über die Schulter: »Keine Zeit für Erklärungen. Ich bringe Anna nach Oberstadt.« Sein Ton ließ keine Widerrede zu. »Mach die Tür hinter mir zu, Jen.«
Und bevor ich etwas erwidern konnte, war er in die Dunkelheit verschwunden. Neben mir blieb Thomas wie erstarrt stehen, das Gesicht bleich und die Fäuste geballt. Sein Blick fixierte die Stelle, an der Nighton mit Anna in der Finsternis verschwunden war.
»Na dann«, murmelte er rau, mit einer Stimme, die vor Kummer und Zorn gesättigt war. Ich sah ihn an, doch er erwiderte meinen Blick nicht. Eine verzweifelte Stille legte sich über uns, die Worte blieben mir im Hals stecken, und ich fühlte mich genauso hilflos wie er. Unser Plan war gescheitert, bevor wir überhaupt damit anfangen konnten. Was vielleicht… besser so war, wie ich mir eingestehen musste, nachdem ich das gesehen hatte.
»Das heißt also, ich werde sie nicht wiedersehen?«, fragte Thomas plötzlich verbittert. »Wie soll ich das Grandma beibringen? Sie hat das mit Dad schon nicht verstanden!« Seine Stimme zitterte, und seine Fäuste ballten sich fester, die Knöchel traten weiß hervor. »Es ist alles – alles kaputt.«
Ich wollte ihm antworten und versuchte mir Worte zurechtzulegen, die Trost spenden könnten. »Sie wird es gut in Oberstadt haben, Tommy, und… es gibt bestimmt einen Weg, wie du sie noch besuchen kannst.«
»Das ist deine Schuld!«, warf er mir mit einem Mal vor. Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb, und ich wich unwillkürlich zurück. Entsetzt starrte ich ihn an, doch er ließ nicht locker. »Du hast dieses ganze Übernatürliche in unsere Familie gebracht. Wegen dir… ist Dad–« Er brach ab, doch der bittere Vorwurf in seinen Augen war noch deutlicher als seine Worte.
Meine Wut flammte auf, das Zittern verschwand aus meiner Stimme, und ich schob den Unterkiefer vor. Er tat mir weh. Sehr weh. »Überleg dir deine nächsten Worte sehr gut, Thomas«, zischte ich.
Er mied meinen Blick und eine dunkle Röte breitete sich auf seinen Wangen aus. Dann schnaubte er, bevor er sich mit mühsam beherrschter Wut abwandte und ins Haus stürmte. Kurz darauf kam er zurück, seine Sachen in den Händen, den Kiefer angespannt.
»Wenn Anna etwas passiert–«, begann er auf mich zeigend, bevor er wieder abbrach, als wären seine Worte geradewegs in seiner Kehle erstickt. Mit einem letzten, zornerfüllten Blick schob er sich an mir vorbei und stapfte in die Nacht hinaus, schmiss seine Sachen ins Auto, stieg ein und fuhr ohne einen weiteren Blick zurück die Einfahrt hinunter.
Ich blieb wie festgefroren zurück. Die Kälte der Nacht biss sich schmerzhaft in meine Haut, doch der Kloß in meiner Kehle war schlimmer. Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich schluckte sie hinunter und zwang mich zur Beherrschung. Wahrscheinlich war es wirklich das war das Beste für Anna… und trotzdem schmerzte es so unendlich, dass meine Familie noch weiter auseinandergerissen wurde.
Nach einiger Zeit, in der ich nur so dagestanden hatte, drehte ich mich um, ging zurück ins Haus und schloss die Haustür hinter mir. Sie fiel mit einem dumpfen, endgültigen Laut ins Schloss, der im ruhigen Haus widerhallte. Ich versuchte ins Bett zu gehen, doch Schlaf war unmöglich.
Irgendwann gegen sechs Uhr morgens hörte ich leise Schritte auf der Treppe und schreckte aus einem leichten, unruhigen Schlaf hoch. Auf einmal stand Nighton über mir, sein Gesicht war von sanfter Sorge erfüllt, und ich spürte, wie seine heiße Hand sich behutsam an meine Wange legte. Das Buch, in dem ich noch etwas gelesen hatte, nahm er mir ab, während ich blinzelnd zu ihm aufsah.
»Wie geht es Anna?«, wollte ich sofort wissen.
»Besser«, versprach Nighton. Seine Stimme klang ruhig und tief, und während er sprach, schob er mir einige verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Berührung hatte etwas Tröstliches, und für einen Moment sank ich wieder in mein Kissen zurück. Aber das Gefühl von Leere blieb hartnäckig, grub sich tiefer, je mehr ich an Thomas und Anna dachte.
»Und jetzt?« Ich schluckte schwer. »Was passiert jetzt mit ihr?«
Nighton stand auf, nur um über mich drüberzusteigen und sich selbst hinzulegen. »Sie ist in Sicherheit. Hier in der Menschenwelt war sie… überfordert, mehr, als ich befürchtet hatte.« Er sah mich an. »In Oberstadt wird sie lernen, mit den Reizen umzugehen. Man wird sie gut behandeln.«
Die Worte beruhigten mich nur wenig, und ich nickte schwach, meine Gedanken noch immer bei Anna – und bei Thomas, der jetzt fort war und den ich so schnell wohl nicht wiedersehen würde.
»Wo ist Thomas?«, fragte Nighton leise, als hätte er meine Gedanken gelesen. Bei der Erwähnung meines Bruders und seinem Abgang zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen.
»Er ist gegangen«, flüsterte ich den Tränen nahe. »Und er gibt mir die Schuld an allem.« Einen Moment lang sagte Nighton nichts, dann legte er langsam einen Arm um mich und zog mich sanft an seine Brust. Ich ließ es zu und schloss die Augen, während seine Arme sich fest um mich schlangen.
»Du hast keine Schuld, hörst du?«, brummte er, und ich spürte das aufrichtige Bedauern in seiner Stimme. Seine Hand strich sacht über mein Haar, und die tröstende Wärme seiner Berührung dämpfte den Schmerz, wenn auch nur ein wenig. Ich nickte, atmete tief ein, ließ die Müdigkeit und die Traurigkeit los, so gut es ging, und lehnte mich still gegen ihn.
Für eine lange Weile blieben wir so liegen. Da regte sich Nighton und hob mein Kinn an, sodass er mir ins Gesicht sehen konnte. »Ich weiß, dass es jetzt schwer ist«, begann er leise. »Aber ich denke, es gibt etwas, das dich ein wenig aufmuntern könnte.« Ein vorsichtiges Lächeln spielte um seine Lippen, bevor er fortfuhr: »Uriel hat mit Tharostyn gesprochen – alle Erzengel sind bereit. Sie warten auf dich. Sie wollen dich zu einem Yindarin machen, Jen.«
Ein kleiner Funken Freude flackerte in mir auf, doch der Kummer, den Anna und Thomas hinterlassen hatten, legte sich wie ein dunkler Schleier darüber. »Also… es ist wirklich so weit?«, fragte ich. Mein Herz war schwer und zugleich ein wenig aufgeregt.
Nighton nickte und sah mich mit einem warmen Blick an. »Eine Auferstehung wird nicht alles heilen können, das weiß ich«, sagte er ernst. »Aber es ist ein riesiger Schritt, der dir guttun wird. Ein Schritt zurück in unsere Welt – und vielleicht gewinnst du dadurch ein bisschen Halt, gerade jetzt. Und Selene und Asmodeus können sich dann schwarz ärgern.«
Ein zaghaftes Lächeln huschte über mein Gesicht, und für einen kurzen Moment verflog die Traurigkeit in mir. Ich würde wieder ein Yindarin werden. Kaum vorstellbar.
»Danke«, flüsterte ich und drückte seine Hand. Die Umwandlung würde stattfinden, und vielleicht würde sie mir die Stärke geben, all das durchzustehen – selbst wenn die Gedanken an meine zerrüttete Familie mich immer begleiten würden.