Nighton und ich traten in den Thronsaal ein. Mein Herz galoppierte vor lauter Aufregung so schnell, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn es aus meiner Brust hervorgeplatzt wäre.
Der Saal war erfüllt von einem ständigen Summen leiser Gespräche, und überall sah ich Engel, die in kleinen Gruppen beisammenstanden oder leise miteinander redeten. Einige schienen sowas wie Abgesandte zu sein, die offenbar aus verschiedenen Teilen Oberstadts angereist waren, vielleicht um Neuigkeiten oder Anliegen vorzutragen. Andere Engel huschten beinahe lautlos an uns vorbei, Pergamente und Schriftrollen in den Händen, und ich fragte mich, was heute los war. Noch nie hatte ich den Saal so belebt gesehen. Fast glaubte ich, einen Hauch von Unruhe auf einigen Gesichtern zu sehen, aber der Eindruck verschwand so schnell, wie es gekommen war.
Als wir tiefer in den Thronsaal gingen, fiel mein Blick auf eine Gruppe von Engeln, die sogar in dieser gewaltigen Halle herausstachen – die Himmelswache. In meiner Erinnerung hatte die aus einer Handvoll Engel bestanden, die das Innere des Thronsaals bewacht hatten, unter der Führung Greahs. Diese neue, offenbar generalüberholte Himmelswache überragte alle anderen Engel um mindestens einen Kopf und trug Rüstungen, die in einem prächtigen Silber-Gold schimmerten, so poliert, dass das Licht von jeder Oberfläche blendend reflektiert wurde. Von ihren Schultern hingen weiße Umhänge, die bei jeder ihrer Bewegungen wie eine Welle aus Licht zu schimmern schienen. Diese Engel standen vollkommen ruhig entlang der Wände. Ihre Haltung war so aufrecht und stolz, dass es fast unheimlich wirkte. Ihre Rüstungen waren mit neuen, filigranen Gravuren versehen, die beinahe wie verschlungene himmlische Runen aussahen, und an einigen Stellen waren Edelsteine eingelassen, die je nach Lichteinfall bläulich und golden aufleuchteten. Die Helme, die sie unter den Armen trugen, hatten breite Schwingen aus weißem Metall an den Seiten, die sich wie kleine Flügel nach außen streckten – als wäre ihre Rüstung selbst ein Abbild ihrer heiligen Macht.
Was mich jedoch am meisten beeindruckte, war ihre Wachsamkeit. Sie standen regungslos, ihre Blicke kühl und fokussiert auf jeden, der den Thronbereich betrat. Es gab keinerlei Anzeichen von Müdigkeit oder auch nur einem Anflug von Emotionen auf ihren Gesichtern. Selbst als Nighton und ich an ihnen vorbeigingen, musterten sie uns nur kurz, bevor ihre Augen wieder den Raum scannten. Ein leises Frösteln stieg mir die Wirbelsäule hinauf. Diese Wache bedeutete, dass Oberstadt zu allem bereit war – bestimmt wegen Asmodeus und seines Eindringens vor wenigen Wochen. Scheinbar hatten die Engel einige Register gezogen.
Nighton sah über die Schulter zu mir, da ich langsamer geworden war. Also beeilte ich mich, zu ihm aufzuschließen, und so erreichten wir nach wenigen Augenblicken die Stufen, die hoch zum Thron der Obersten führten. Dort erblickte ich auch schon Isara, die sich mit Tharostyn unterhielt, der sich auf seinen Gehstock stützte und uns entgegensah.
Ich öffnete schon den Mund, um Hallo zu sagen, da schaute Isara auf einmal über meinen Kopf hinweg zu einem der drei deckenhohen Durchgangsbögen auf der linken Seite des Saals. Auch ich sah über die Schulter nach hinten.
Alle fünf Erzengel waren gleichzeitig eingetreten und standen nun Seite an Seite im mittleren Durchgangsbogen. Eine seltsame Spannung griff um sich, und ein ehrfürchtiges Schweigen legte sich über den Raum. Selbst die kleinsten Gespräche verstummten abrupt.
Als die fünf sich in pfeilförmiger Formation in Bewegung setzten und auf uns zusteuerten, zog ich an Nightons Ärmel. Er beugte sich zu mir runter, und ich raunte ihm ins Ohr: »Warum sind alle so still?«
»Weil es fast ein halbes Jahrtausend her ist, dass man alle fünf Erzengel beisammen gesehen hat«, erklärte Nighton mir mit gesenkter Stimme, bevor er sich wieder aufrichtete und den Engeln ebenso entgegensah wie alle anderen.
Allen voran schritt Michael mit stolzgeschwellter Brust. Seine Rüstung – heute eine fast komplett silberne Plattenrüstung – war überzogen mit Gravuren von Flügeln und himmlischen Symbolen, die in goldenem Schimmer hervortraten. In seiner Hand lag sein Riesenschwert. Jeder Schritt, den er tat, schien eine leise, aber tief wirkende Schwingung durch den Saal zu schicken, als würde der Boden auf seine Anwesenheit reagieren.
Rechts von ihm lief Raphael mit düster zusammengezogener Stirn. Er wirkte alles andere als gut gelaunt und eher so, als hätte man ihn gezwungen, heute hier zu sein. Auch er trug eine silberne Plattenrüstung, und über seiner Schulter ruhte sein riesiger Kriegshammer, mit dem ich schon Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Anblick dieser schrecklichen Waffe durchfuhr es mich kurz, aber ich gab mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen.
Ganz rechts folgte Uriel. Ihre mächtige Axt war auf ihrem Rücken verankert. Die beiden geschwungenen Schneiden glitzerten im Licht, als könnten sie die Luft selbst spalten. Im Gegensatz zu gestern trug sie keine Lederrüstung, sondern dieselbe wie ihre Geschwister, nur in weniger bullig. Unter ihrem Arm hielt sie einen funkelnden Helm, und ihr blonder Zopf lag locker über ihrer Schulter. Ihr kantiges Gesicht zierten blaue Streifen, die sie etwas weniger heilig und dafür deutlich wilder wirken ließen. Alles in allen sah sie aus wie eine Kriegergöttin, bereit, um auf alles und jeden draufzuhauen.
Links von Michael ging Gabriel. Er war der Schmächtigste der Erzengel, aber das war seiner kraftvollen Ausstrahlung nicht abträglich. In seinen Augen lag ein durchdringender Ausdruck, der keine Fragen und keine Ablenkung zuließ. Seine filigrane Rüstung war übersät mit kristallklaren Verzierungen und kleinen Lichtpunkten, die wie Sterne in einer klaren Nacht wirkten.
Ganz links, mit einigem Abstand zu Gabriel, kam dann noch Jason. Seine Miene war ausdruckslos, aber ich konnte mir vorstellen, was er dachte - nämlich, dass er gerne woanders wäre. Auch er trug eine Rüstung wie seine Brüder, und das fand ich fast komisch. Noch nie hatte ich ihn in einer Rüstung gesehen. Er lief sonst immer so legere herum. Sein Schwert, das an der Seite hing, wirkte wie ein Teil von ihm, und sein Umhang wogte sanft um ihn, als wollte er damit die Distanz zu seinen Geschwistern wahren.
Die fünf Erzengel traten im Gleichschritt vor die Stufen und blieben wie ein lebendiges Monument stehen. Die Bewegung brachte eine schwere Stille in den Saal, die eben zumindest noch von Schritten erfüllt gewesen war. Tharostyn, der auf der obersten Stufe stand, ließ seinen stolzen Blick über die Erzengel gleiten, als betrachte er ein Bild, das in den Annalen der Engel seit Jahrhunderten nicht mehr zu sehen gewesen war. Anscheinend genoss er diesen Augenblick und die seltene Versammlung der fünf.
Dann nickte er leicht in Richtung Isara, die mit würdigem Ausdruck zurücknickte, und trat schließlich ganz bis an den Rand der obersten Stufe. Mit leicht erhobenem Kinn und fester Stimme, die durch den Saal hallte, begann er zu sprechen: »Wir sind heute hier zusammengekommen, um eine der höchsten Ehrungen zu bezeugen, die unser Reich kennt – die Aufnahme eines Yindarin in die Reihen unserer Gemeinschaft, das Bitten um das göttliche Erbe für ein weiteres Wesen. Jennifer Megan Ascot, geborener Yindarin, nun Mensch, an diesem Tag werden die Erzengel den Großen Einen und die Uralten Götter bitten, dir erneut die Essenz des Yindarin zu verleihen.«
Ich schluckte, während die Bedeutung seiner Worte tief in mein Bewusstsein sickerte. Heute würde ich ein Yindarin werden. Wie unwirklich. Wie seltsam.
»Zu diesem Zweck«, fuhr Tharostyn fort und sah mich ernst an, »werdet ihr zum Nebelgebirge aufsteigen, zum sagenumwobenen Wolkentor, das den heiligen Hort der Erzengel birgt. Ein Ort, der durch keine irdische Kraft und keine Waffe erreicht werden kann. Nur diese fünf hier – die Erzengel selbst – dürfen dich begleiten, denn sie allein haben das Recht, die Reise zu diesem heiligen Ort anzutreten.«
Moment mal! Hieß das etwa… nein! Nighton durfte nicht mit? Aber ich wollte nicht von ihm getrennt sein! Und warum wirkte er so, als hätte er das gewusst?
Ich tastete beinahe unwillkürlich nach seinen Fingern, was er mit einem sanften, unerschütterlichen Druck seiner ganzen Hand um meine quittierte, der wie ein unausgesprochenes 'Es ist in Ordnung' wirken sollte. Doch es war nicht in Ordnung. Ohne Nighton aufzubrechen, fühlte sich falsch an.
»Verabschieden Sie sich vom Yindarin, Miss Ascot. Es geht gleich los«, sagte Tharostyn da an mich gewandt und nickte mir auffordernd zu. Ich schluckte und sah zu Nighton auf, der nun selbst nach meiner Hand griff und mich aus der formellen, unnahbaren Stille des Thronsaals führte.
Er brachte mich in den Kartensaal in der Nähe. Sobald ich über die Schwelle getreten war, schloss er die Tür hinter uns und drehte sich zu mir um. Seine Augen schauten mich warm, aber auch ein wenig traurig an.
Ich verschränkte die Arme, wollte meine Unsicherheit unter Kontrolle bringen, doch der Gedanke, ohne ihn dort hinaufzusteigen, brannte in mir. »Du wirkst nicht überrascht, dass du nicht mitdarfst. Du wusstest das schon, oder?«, fragte ich anklagender, als ich wollte.
»Ja«, antwortete er ruhig, doch seine Stimme verriet die Spannung, die unter der Oberfläche lag. »Ich muss hierbleiben, das Wolkentor ist für mich tabu. Glaube mir, das fällt mir auch nicht leicht. Vor allem, wenn ich bedenke, dass du und dein ausgeprägtes Talent, dich in Schwierigkeiten zu katapultieren, draußen allein rumrennt.« Seine humorvolle Bemerkung lockte mir ein schwaches Lächeln heraus, aber es verblasste sofort.
»Ich will aber nicht ohne dich gehen.« Ich hielt seinem Blick stand. »Ich will nicht von dir getrennt sein. Das endet doch immer nur in Katastrophen. Ich weiß nicht mal, worüber ich da oben mit den Erzengeln reden soll. Es ist… du weißt, wie sie sind.«
Er seufzte, und in seiner Miene lag ein Ausdruck des Bedauerns, der mir tief unter die Haut ging. »Ich will auch nicht, dass du ohne mich gehst, aber da sind uns wohl die Hände gebunden. Denk einfach dran, was dich am Ende erwartet. So kriegst du die Zeit bestimmt besser rum.«
Er strich mir sanft eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Erzähl mir danach, wie es da oben aussieht, ja? Soll ein unvergesslicher Anblick sein, wie ich gehört habe.«
Bevor ich ihm antworten konnte, zog er mich an sich heran, und die Stärke seiner Umarmung drückte mir beinahe die Luft ab. »Nighton!« Ich japste nach Atem und er lachte leise, ließ mich aber nicht los.
Dann schob er mich von sich, allerdings nur ein Stück weit, und sah auf mich hinab. Ich verlor mich kurz in seinen moosgrünen Augen, die auf mich hinabfunkelten. »Das war vielleicht das letzte Mal, dass ich das Knacken deiner menschlichen Rippen höre. Bald…« Er machte eine Pause, und ein Hauch von Aufregung legte sich über sein Gesicht. »…bist du ebenbürtig. Wenn nicht sogar durch dein Geburtsrecht noch stärker als ich. Sekeera wird es bestimmt hassen.«
Damit entlockte er mir ein Auflachen, und ich erwiderte dünn grinsend: »Oh, auf Wettläufe und Armdrücken kannst du dich definitiv schon mal gefasst machen.«
Da hallte mein Name durch den Gang, und das Grinsen verging mir direkt. Nighton legte eine Hand an meine Wange. Seine Daumen glitten sanft über meine Haut, und ich wurde wieder wehmütig bei dem Gedanken, dass er hierbleiben musste. Auf einmal schlich sich ein vielsagendes Grinsen auf sein Gesicht, und seine Augen glommen verspielt auf. »Hm«, brummte er, und dieses raue Geräusch brachte mein Blut in Wallung. »Was mache ich denn heute Nacht ohne dich?«
»Sch-schlafen?«, brachte ich irgendwie hervor, da ich gerade ziemlich weiche Knie bekam. Nightons Grinsen wurde etwas frecher. »Jetzt ärgere ich mich fast ein bisschen, dass ich dich habe lang schlafen lassen. Wenn du wieder da bist - ach, nein, das sage ich dir noch nicht.«
Empört öffnete ich den Mund und forderte: »Sag!«
Aber Nighton schüttelte den Kopf. »Wirst schon sehen.« Er beugte sich vor, küsste mich und hielt mich noch lange fest, bevor er mir die Tür öffnete. Da erscholl schon wieder mein Name, was Nighton die Augen verdrehen ließ. »Die nerven«, knurrte er.
Gerade als ich durch die Tür trat, hielt ich inne und drehte mich noch einmal zu ihm um. Bittend fragte ich: »Kannst du nach Anna schauen, ob es ihr gut geht? Sie ist doch bestimmt ganz allein, und… ich will nur sichergehen, dass es ihr gut geht.«
Nighton versprach es mir.
Ich nickte. Ein Kloß steckte in meinem Hals, aber ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, zurück in Richtung des Thronsaals.
Michael teleportierte uns sechs mitten in einen hellen Laubwald. Kaum dass meine Stiefel den weichen Erdboden berührten, meldete sich in mir eine dermaßen heftige Übelkeit, wie ich sie nach dem Teleportieren noch nie verspürt hatte. Bevor ich etwas tun konnte, kam es mir auch schon hoch. In einem schwallartigen Anfall von 'will-nicht-aber-muss' erbrach ich mich. Peinlich berührt keuchte ich und wischte mir den Mund ab, noch benommen von dieser unerwarteten Reaktion meines Körpers. Selbst die Erzengel verstummten kurz und starrten mich an. Raphael schnaubte sogar abfällig auf.
»Na, na«, brummte Michael schließlich. »War das etwa aufgestaute Aufregung, Jennifer Ascot?« Er zog eine Augenbraue hoch und sah dabei aus, als hätte er erwartet, dass ich eher eine goldene Aura ausstoßen würde als… das da auf dem Boden.
»Äh…tut mir leid«, stammelte ich. Ich rot bis in die Haarwurzeln und klammerte mich am Rest meiner Würde fest, während ich mir den Magen hielt.
Uriel und Gabriel tauschten Blicke, sagten aber nichts. Zumindest nichts, was ich verstehen konnte. Michael sah sich dann mit seinem typischen Generalblick um.
»Wohlan«, begann er laut und räusperte sich. »Meine Brüder und eine Schwester–« Hier verneigte er sich sichtlich grinsend in Uriels Richtung, woraufhin sie bloß aufstöhnte. »Wie besprochen, übernehmen Raphael und ich die Vorhut, überprüfen den Weg und warten am Götterpfad auf euch. Denkt daran, den Menschen sicher zum Pfad zu bringen. Hat jeder von euch an seinen 'Dämonenschreck' gedacht?«
Ein kollektives Aufseufzen ging durch die Engel, und ich konnte mir ein Stirnrunzeln nicht verkneifen. Dämonenschreck?
Raphael rollte mit den Augen und grollte finster: »Michael, wir hatten uns längst darauf geeinigt, dass wir unsere heiligen Waffen nicht so nennen! Und du kannst es die nächsten fünfhundert Jahre lang wiederholen, es wird kein anerkannter Name.« Die anderen Erzengel nickten zustimmend.
Michael verzog das Gesicht, als hätte man ihm das blonde Haar gerade mit einer billigen Tönung versaut. Schließlich zuckte er die Schultern und fuhr fort. »Gabriel, schätzungsweise dauert der Marsch ein bis zwei Tage. Je nachdem, wie gut unser Menschenmädchen hier durchhält.« Ich riss die Augen auf. Ein bis zwei Tage? Wie bitte? Ich hatte gedacht, das würde einen Nachmittag oder so in Anspruch nehmen, nicht mehrere Tage! Michaels Blick glitt schmunzelnd zu mir und ohne Vorwarnung hob er eine schwer gepanzerte Hand und klopfte mir auf die Schulter. Leicht war es nicht, und mein ganzer Körper bebte unter dem metallischen Schlag.
»Aber wir wissen ja«, fügte er hinzu und blinzelte mir verschwörerisch zu, »dass du im Durchhaltevermögen kaum zu übertreffen bist.«
»Na, danke«, murmelte ich, mir die Schultern reibend, bevor ich kleinlaut zugab: »Ich… ich wusste nicht, dass es so lange dauert. Ich fürchte, ich bin schlecht ausgestattet.«
»Bist du nicht«, widersprach Jason schief lächelnd und drückte mir auf einmal meine schwarze Umhängetasche mit den Pins in die Hand. Verwirrt nahm ich sie an. »Dein Freund kümmert sich besser, als du denkst.«
Bei den Worten bekam ich rosa Wangen und setzte ein zerknirschtes Lächeln auf. Dass Nighton an sowas gedacht hatte … irgendwie war das zu schön und gleichzeitig so unerwartet, dass ich fast sprachlos war. Hätte ich doch nur gewusst, dass das so ein Gewaltmarsch werden würde!
»Dann wäre das ja geklärt. Wir sehen uns weiter oben, Jennifer Ascot«, verabschiedete Michael sich würdevoll und verbeugte sich vor mir, während er Raphael ein Abflugzeichen gab. Eine kleine Druckwelle wirbelte mir beim Abheben der beiden die Haare ins Gesicht, und ich wischte sie beiseite, bevor ich genervt die Augen verdrehte. Immer diese ständigen Verbeugungen!
Uriel richtete sich auf, stemmte die Hände in die Seiten und rief in die Runde: »Gut! Dann lasst uns den Berg bezwingen!«
Wir setzten uns in Bewegung. Uriel ging voran, mit energischen, unerschütterlichen Schritten, gefolgt von Gabriel und dann mir. Jason bildete das Schlusslicht und hielt sich ein wenig abseits, als sei er innerlich auf einem anderen Pfad unterwegs.
Als ich mich beim Gehen kurz umdrehte, schimmerte durch die Baumwipfel in weiter Ferne der Glanz der Türme des Schlosses. Es stand da, im Sonnenlicht, wie ein Zeichen von Beständigkeit – und irgendwo dort waren Anna und Nighton. Ohne mich. Der Gedanke fuhr kalt durch die kleine Vorfreude auf das, was vor mir lag. Doch ich straffte die Schultern und drehte mich wieder nach vorne. Konzentrier dich, Jen, dachte ich. Vor mir lag der Aufstieg – und er war lebensverändernd.
Ein Gebirge erhob sich vor uns. Seine schroffen Berggipfel verloren sich hoch oben in den Wolken, und der gewaltige Schatten des Berges fiel über uns wie eine Mahnung. Die Luft war schwer vom Nebel, der in trägen Bahnen durchs Tal glitt und sich am Boden und zwischen den Bäumen sammelte. Etwas an diesem Ort flößte mir Ehrfurcht ein – und einen Hauch von Unbehagen.
»Wo genau sind wir eigentlich?«, fragte ich und versuchte, das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren. Jason schloss zu mir auf und erkläre: »Wir befinden uns an den Ausläufern des Nebelgebirges. Der Berg vor uns ist der Thurgrat, einer der Großen Sieben. Sein Name bedeutet ‚Götterdämmerung’.«
»Und was… erwartet mich da oben?« Ich legte den Kopf in den Nacken, um zu sehen, wo der Gipfel endete. Ich konnte ihn nicht erkennen, als würde der Berg selbst das Geheimnis seiner Höhe wahren.
»Zuerst der Götterpfad, den wir gleich erreichen«, antwortete er. »Dort beginnt der Aufstieg in Form einer Treppe.«
Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Bergsteigen war definitiv nicht mein Ding, und eine Treppe zum Wolkentor klang nun wirklich nicht wie ein gemütlicher Spaziergang.
»Und dann?«, fragte ich, bemüht, meine Nervosität zu überspielen.
Uriel warf mir von vorne einen Blick über die Schulter zu, und ihre harten Züge wurden für einen Moment weich. »Geduld, Menschenkind. Schone deine Kräfte, rede nicht so viel. Du wirst sie brauchen.«
Ich klappte den Mund zu. Sie hatte Recht.
Ohne ein weiteres Wort führte sie uns weiter durch den dichten Wald, immer näher auf den gewaltigen Berg zu. Das Laub raschelte unter meinen Schritten, doch die anderen bewegten sich lautlos. Jason lief inzwischen an meiner Seite und warf seinen Geschwistern immer wieder dunkle Blicke zu. In seinem Ausdruck lag Wut, vielleicht auch Bitterkeit. Ich spürte das gespannte Band zwischen ihm und den anderen, doch traute mich nicht, ihn danach zu fragen.
Plötzlich machte Uriel abrupt Halt, und ich musste mich bremsen, um nicht in Gabriel hineinzulaufen. Sie drehte sich zu uns um und deutete auf einen steinernen Torbogen, der sich vor uns auftat. Er war mit Moos bedeckt und halb vom Wald verschlungen.
»Wir durchschreiten hier das erste Tor«, erklärte sie mir. »Michael und Raphael warten oben am Götterpfad auf uns. Für den Aufstieg dort wird eine feste Reihenfolge eingehalten: Michael geht als Erster, gefolgt von Raphael, dann ich, dann du, Gabriel. Jennifer, du folgst Gabriel, und Jason – du bildest das Schlusslicht. Einwände?«
Jason verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen herausfordernd zusammen. »Warum hast du das Kommando?«, wollte er von Uriel wissen.
Uriel schnaubte und ließ die Schultern kurz kreisen, als habe sie die Frage erwartet. »Weil ich in dieser Gruppe die Älteste bin und diesen Weg bereits zu Fuß erklommen habe, kleiner Bruder.« Sie ließ den Titel wie eine kleine Stichelei wirken. »Noch Fragen? Nein? Gut.«
Mit einem wortlosen Nicken drehte sich Uriel wieder um und setzte ihren Weg fort. Der Pfad wurde mit jedem Meter steiler, und das dichte Blätterdach lichtete sich langsam, sodass grünlich-gelbe Lichtstrahlen zwischen den Blättern hindurchfielen und im diffusen Nebel über dem Boden schwammen. Die Sonne schimmerte durch die Bäume und warf vereinzelte Lichtflecken auf den Waldboden vor uns – als würden uns höhere Mächte den Weg weisen.
Bald wurde der Weg wieder flach, und vor uns tat sich ein weiterer majestätischer Steinbogen auf. Dahinter lag eine breite Steintreppe, die sich zwischen den steilen, überwucherten Berghängen emporwand. Moose krochen über die Steinstufen, und die Stämme der knorrigen Bäume reckten sich hoch in den Nebel über uns, als wollten sie selbst das Tor durchschreiten. Ich staunte. Oberstadt hatte seine beeindruckenden Orte, aber nicht viel hatte dieselbe wuchtige Atmosphäre wie dieser Platz.
In den Torbogen waren Worte in einer mir unbekannten Schrift gemeißelt. Uriel blieb stehen und übersetzte feierlich, die Arme in die Seiten stemmend:
»Von Götterhand geformt, bewacht,
betritt den Pfad in heil'ger Macht.
Fünf Himmlische dir Schutz gewähren,
doch wer verlässt, muss Umkehr lehren.
Kraft und Wille speisen ihn,
dass ewig Götterglanz erblühn.«
Beeindruckt ließ ich die Mundwinkel sinken. Schicker Text, dachte ich und nickte anerkennend – episch und genau die richtige Dosis einschüchternd.
»Lasst uns gehen«, sagte Uriel schließlich, und ich konnte einen Funken Aufregung in ihrer Stimme erahnen. Das leichte Zittern darin machte die Situation nur noch bedeutsamer. Weiter oben schimmerten die Umrisse von Michael und Raphael, die uns entgegenblickten wie Wächter am Rande der Welt.
Als ich den Kopf in den Nacken legte, konnte ich das Ende der Stufen nicht erkennen – es war ein endloser Pfad, der wie in die Ewigkeit zu führen schien. Irgendetwas in mir zog sich zusammen. Dieser Aufstieg würde, wie ich jetzt schon ahnte, zu den körperlich anstrengendsten Dingen gehören, die ich je erleben durfte.