So dasitzend und Bowle trinkend verbrachte ich den Großteil des Abends. Es wurde später und später. Casey wirkte ganz nett, doch sie musste bald feststellen, dass ich kein Interesse an tiefergehenden Gesprächen hatte. Ich sah ihr an, dass sie mich gerne Vieles fragen würde, aber sie ließ es bleiben.
Insgesamt versuchte ich, auch für die anderen möglichst unsichtbar zu sein. Meine Mitmenschen schienen mich leider bestens sehen zu können und obendrein sehr interessant zu finden, denn sie löcherten mich ohne Ende mit Fragen. Auf die erhielten sie von mir nur knappe, wenig informative Antworten. Ich wollte weder gemocht werden noch hatte ich Lust, angeregte Gespräche in Gang setzten. Nein, auf keinen Fall wollte ich neue Freunde finden. Ich wollte nur eines, und das war meine Ruhe.
Unsere Runde wurde größer, als sich ein schmächtiger, dürrer Lockenkopf namens Brendan und dessen bester Kumpel Oliver zu uns gesellten. Die beiden machten ohne Ende dumme Scherze über Star Wars oder Herr der Ringe oder ahmten Memes nach, was für viel Belustigung sorgte. Bei mir nicht. Ich fand es nicht lustig, gar nicht, denn es erinnerte mich bloß an Sam, was wehtat. Dadurch sehnte ich Mitternacht nur umso mehr herbei.
Gegen halb zehn meldete sich meine Blase. Beinahe dankbar stand ich auf und verkündete, kurz austreten zu wollen. Aufgrund des Alkohols schwankte ich beim Gehen ein wenig. Dabei hatte ich eigentlich gar nicht viel getrunken. Aber für eine vernünftige Basis hatte ich auch nicht gesorgt, also war es eigentlich kein Wunder.
Casey bot freundlich an, mich zu begleiten, aber ich lehnte ab und lief strammen Schrittes, wenn auch nicht ganz gerade, zwischen den anderen Tischen hindurch und verließ den Raum. Dabei spürte ich die Blicke dieser Brittany im Rücken. Mit der würde es noch lustig werden, da war ich mir sicher.
Im Flur angekommen, entdeckte ich ein Schild mit einem Toilettensymbol, das nach oben zeigte. Also wandte ich mich nach links und stieg die Treppe hoch. Im ersten Stock war es wirklich verdammt dunkel. Hätte ich bloß die Taschenlampe aus meinem Rucksack mitgenommen!
Nicht, dass da etwas lauert, dachte ich kichernd und blieb wie vom Blitz getroffen stehen, als mir klar wurde, dass ich tatsächlich eine Antwort erwartet hatte. Sofort stiegen mir die Tränen in die Augen. Nein, nein, ich durfte jetzt bloß nicht ins Grübeln geraten. Warum war ich noch gleich hier oben? Ach ja. Ich wollte pinkeln.
Zum Glück fand ich das Bad kurz darauf. Ich zog die Tür auf und begab mich in den gefliesten Raum, der von ein paar Kerzen erhellt wurde. Auch der Mond schien durch das Fenster und warf sein fahles Licht auf die Armaturen.
Rasch erledigte ich meine Notdurft. Allerdings funktionierte die Spülung nicht. Doch bevor ich verzweifeln konnte, entdeckte ich neben der Toilette einen mit Wasser gefüllten Eimer, auf dem ein Zettel mit der Aufschrift SPÜLWASSER klebte. Wasser zum Händewaschen gab es auch, nur in einem anderen Eimer. Sobald ich meine Hände trocken gerieben hatte, stützte ich mich auf das staubige Waschbecken und genoss mit geschlossenen Augen das Wattebauschgefühl in meinem Kopf.
Ein klapperndes Geräusch hinter mir ließ mich jedoch schlagartig die Augen öffnen. Mein Herz stolperte kurz und irrwitzigerweise rechnete ich für eine Sekunde damit, dass gleich von irgendwo her ein Dämon hervorplatzen und mich angreifen würde. Doch es war bloß der Metallgriff des einen Eimers gewesen. Bei dieser Erkenntnis musste ich über mich selbst lachen.
Welches übernatürliche Wesen sollte mich schon attackieren? Ich war nur ein Mensch. Ein mickriger, schwacher, kleiner, unwichtiger Mensch.
Das Lachen verging mir und die Tränen kehrten zurück. Normalerweise schaffte ich es einigermaßen, jegliche Gedanken in diese Richtung zu unterdrücken. Aber der Alkohol erschwerte es mir arg. Tja. Da war ich wohl selbst schuld dran.
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen und wollte aus dem Bad gehen, doch da gewahrte ich im Spiegel eine Bewegung in der Badewanne.
Augenblicklich erstarrte ich.
Dann wandte ich ganz langsam den Kopf.
Da saß etwas in der Dunkelheit der Badewanne. Es beobachtete mich über den Rand hinweg aus gelb glimmenden Augen.
Nein, nein, ich musste träumen.
Für einen Augenblick fühlte ich mich Monate zurückgeworfen, und zwar in die Zeit, in der ich meine Halluzinationen, die keine waren, gehabt hatte. Ich konnte spüren, wie meine Kinnlade leicht hinabsank, und für eine Sekunde war ich zu nichts anderem im Stande, als dieses Wesen anzustarren. Es klingt vielleicht eigenartig, aber ein Teil von mir freute sich und flutete mich mit Aufregung. Es gab mir Hoffnung, das Gefühl, dass doch nicht alles vorbei war. Plötzlich verspürte ich eine lang vermisste Leichtigkeit. Das Wie und Warum dieser Begegnung hinterfragte ich überhaupt nicht. Aber es war mir schon immer schwergefallen, die richtigen Fragen im richtigen Moment zu stellen.
Fünf magere Finger legten sich auf den Badewannenrand. Eine fleischfarbene Flüssigkeit tropfte von ihnen und rann die Außenseite der Keramikwanne hinab. Mein Gehirn war so benebelt, dass mein Fluchtinstinkt komplett ausgesetzt war. Wie hypnotisiert schaute ich das Wesen an.
Doch plötzlich sprang es in der Wanne auf. Es war wesentlich größer und angsteinflößender als gedacht und fauchte mich laut und bösartig an. Dabei präsentierte es mir mehrere Reihen schiefer, spitzer Zähne.
Ich schrie vor Schreck auf und rutschte in die Wirklichkeit zurück. Von wegen Freude. Das war ein Ghul! Weg hier! Endlich machte mein Gehirn den klugen Vorschlag abzuhauen. Und genau das tat ich.
Als wäre der Teufel hinter mir her, jagte ich aus dem Bad und schlug die Tür zu. Auf meiner Flucht stürzte ich zu Boden, rappelte mich aber wieder auf und hetzte zurück durch den Flur. Ich nahm die Treppe, stolperte fast wieder und hastete unten angekommen in den großen Raum, wo die anderen saßen. Auch hier schmetterte ich die Tür hinter mir zu und warf mich gegen sie. Zum Glück gab es keinen weiteren Eingang, von der Terrassentür mal abgesehen. Blieb nun zu hoffen, dass der Ghul nicht durch sie hier eindrang.
Ich hatte erwartet, dass der Dämon an die Tür krachen würde, doch das blieb aus. Stattdessen hörte ich ein leises Zischen, gefolgt von dem Geräusch langer Klauen, die an der Tür schabten. Verwesungsgeruch stieg mir in die Nase. Vor lauter Angst kniff ich die Augen zusammen und presste mich nur noch fester gegen die Tür.
Erst jetzt stellten sich mir die essenziellen Fragen: Warum war ein Ghul hier aufgetaucht? Wollte er etwa zu mir? Und wenn ja, warum?
Jemand räusperte sich. Das riss mich aus meinen Gedanken, sodass ich die Augen öffnete.
Ich wurde angegafft, als käme ich von einem anderen Planeten. Wirklich alle hatten innegehalten, tauschten Blicke aus, musterten mich und schienen sich ihren Teil zu denken. Irgendwer hatte sogar wieder die Musik ausgeschaltet, was eine ohrenbetäubende Stille nach sich zog.
Geflüster brandete auf, je länger ich da an der Tür stand und mit gehetztem Blick an ihrem Holz lauschte. Auf die Idee, dass wohlmöglich nur ich den Ghul wahrnehmen konnte, kam ich in dem Moment nicht.
Was hat die denn?
Die ist nur betrunken.
Warum schwitzt sie so?
Da verträgt wohl jemand keinen Alkohol!
»Warum hältst du die Tür zu?«, fragte Casey mich besorgt, die plötzlich neben mir stand. Aber ihre Worte drangen kaum zu mir durch. Erst als sie mich fest am Arm rüttelte, war ich im Stande, zu reagieren.
»Da ist etwas im Flur«, flüsterte ich und starrte sie an. Das Kratzen hatte zwar aufgehört, aber ich wusste genau, dass der Ghul da noch da war. Warum auch immer er mich verfolgte.
Vorsichtig fragte Casey: »Meinst du nicht, dass du zu viel getr…«
»Nein, habe ich nicht!«, fuhr ich ihr harsch über den Mund und musste unwillkürlich wieder an damals denken, wo ich solche Vorkommnisse noch irgendeiner undiagnostizierten, unbekannten Krankheit zugeschrieben hatte. Bis ich eines Besseren belehrt worden war.
»Was ist hier los?«
Brittany erschien hinter Casey und blickte mich skeptisch an. Neben ihr tauchte dieser Ty mit einem Glas in der Hand auf und musterte mich ebenso kritisch.
»Alles klar mit dir?«, wollte er wissen.
Eine Antwort sparte ich mir. Das würde ja doch keiner verstehen.
Da ertönte erneut ein schabendes Geräusch hinter mir, was mich in meiner Panik nur noch bestätigte. Kurz sah ich hin und her, dann stieß ich hervor: »Mein Rucksack, wo ist er?!«
Keiner antwortete, also stürzte ich von der Tür weg und begann, den Raum nach meinem Rucksack zu durchsuchen. Mir war bewusst, dass ich irre wirken musste. Wie eine Entlaufene. Und so wurde ich auch angesehen, von allen Anwesenden.
»Hat die gekifft?«, fragte Brittany laut in die Runde und erntete kollektives Kichern.
»Komm, Jennifer, setz dich wieder, es wird alles gut«, beschwor Casey mich und ergriff mich an der Schulter. Doch ich riss mich los.
»Nein! Wir können nicht hierbleiben!«, rief ich wütend. Irgendwer musste doch etwas machen! Ich - hm, ich könnte versuchen, das Wesen zu vernichten. Ich war ja quasi vom Fach. Aber nicht ohne meinen Rucksack!
Der lebensmüde Gedanke begann in meinem Kopf zu keimen. Also schob ich Casey beiseite. Schließlich entdeckte ich meinen Rucksack unter der Bank, wo ich gesessen hatte.
Bei diesem einfachen, schwarzen East-Pack-Rucksack, den ich immer mit mir herumtrug, handelte es sich meine eigens bestückte Survival-Tasche. Man konnte nie wissen, was der Tag mit sich brachte, und ich hatte zu viel von der anderen Welt um uns herum gesehen, als dass ich das hätte ignorieren können. Im Rucksack befand sich unter anderem ein Teleskopschlagstock, den ich im Internet bestellt hatte. Der gehörte zum Standardequipment, neben einer Drahtrolle für Stolperfallen, einem Hanfseil, diversen Feuerzeugen, einem Taser, ein paar Wurfsteinen und einer Plastikflasche mit geklautem Wasser aus einem Taufbecken einer Kirche. Es war nicht so, dass diese Sachen bisher jemals zum Einsatz gekommen wären. Aber ich wollte vorbereitet sein.
Dass ich nur ein Mensch war und die Verschlüsse von Flaschen zu achtzig Prozent mit einer Rohrzange aufdrehen musste, da ich im Gegensatz zu vor anderthalb Monaten so viel Kraft wie eine Eintagsfliege besaß, verdrängte ich in diesem Moment völlig.
Meinen Rucksack gefunden zu haben, bewirkte eine seltsame Ruhe in mir. Entschlossen krempelte ich die Ärmel meiner Jeansjacke hoch, ehe ich meine Haare zusammenraffte, sie zu einem unordentlichen Knoten band, den Rucksack schulterte und die Tür aufriss.
»Folgt mir nicht!«, zischte ich dabei über die Schulter.
»Die hat sie doch nicht mehr alle«, war das Letzte, was ich hörte, bevor ich die Tür hinter mir zuwarf. Sofort ging die Musik wieder an und in meinem Rücken dudelte nun Mr. Brighside von The Killers.
Ich hingegen konzentrierte mich auf meine Jagd. Vor Aufregung kribbelte es an meinem ganzen Körper und meine Hände wurden ganz feucht.
Überall auf dem Boden waren lange Kratzspuren im Parkett. Ein ekliger Schwefelgeruch hing in der Luft und es war still. Viel zu still. Mich wachsam umsehend holte ich den Teleskopschlagstock aus meinem Rucksack. Mein Atem kam nur noch stoßweise.
Wo konnte sich dieser Ghul nur aufhalten?
Die Waffe im Anschlag schlich ich nach oben. Wie dämlich und leichtsinnig das von mir war, daran verschwendete ich keinen Gedanken. Ich konnte nur daran denken, wieder dieses Gefühl der Macht zu spüren, das mich jedes Mal überkommen hatte, wenn ich…
Mein Herz machte einen Sprung.
Oh mein Gott, da war er! Der Dämon!
Es saß oben am anderen Ende des langen Flures. Doch das war nicht das Einzige, das mein Herz springen ließ. Der Ghul war nicht länger allein. Drei andere hatten sich zu ihm gesellt und krochen an den Wänden entlang, auf den sitzenden Ghul zuhaltend. Ich umklammerte den Griff des Schlagstocks fester. Sie hatten mich wohl noch nicht bemerkt.
Mit einem hätte ich es vielleicht noch aufnehmen können, aber mit mehreren? Auf gar keinen Fall. Rückzug!
Zaghaft machte ich einen Schritt zurück, aber ich hatte die Plane vergessen, die den Boden an einigen Stellen abdeckte. Und so verhakte sich meine Schuhsohle in einer der Ecken des Vliesstoffes, sodass ich einen unbeholfenen Schritt zur Seite machen musste, um nicht hinzufallen.
Vor Schreck hielt ich die Luft an, erst recht, als die Dämonen innehielten und sich zu mir umwandten. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie und ich uns in die Augen, dann gaben alle Vier ein ohrenbetäubendes Fauchen von sich und sprangen zu Boden, nur um Tempo aufzunehmen und in einer gruseligen Art und Weise auf mich loszurennen. Dabei sahen sie aus wie Erwachsene, die auf allen Vieren gingen. Es passte also gar nicht zusammen.
Ich schrie auf und machte kehrt, rannte das Treppenhaus hinunter und versuchte, durch die Haustür zu entkommen. Ein blöder, nein, ein saublöder Plan, ich hatte wirklich gar nichts dazugelernt! Wie bescheuert war ich eigentlich, es mit Ghulen aufnehmen zu wollen?!
Ich dachte nicht darüber nach, wo ich hinlief, ich wollte einfach nur raus aus dem Haus. Zum Glück war ich eine schnelle Läuferin. Die Wesen rannten mir zwar nicht minder schnell hinterher, aber wenigstens bekamen sie mich nicht so leicht. Vielleicht konnte ich sie ja draußen abhängen?
Wie vom Teufel gejagt sprintete ich durch den Vorgarten, auf den Bürgersteig und an der Straße entlang. Mein Lauf nahm jedoch ein jähes Ende, denn ich blieb mit der Schuhspitze an der hervorstehenden Kante einer Betonplatte hängen. Diese verdammten Schuhe ruinierten mir aber auch alles! Der Länge nach segelte ich zu Boden, wo ich eine schmerzhafte Bremsung mit meinem ganzen Körper hinlegte. Dabei schürfte ich mir so ziemlich alles auf. Aber ich zwang mich, sofort wieder aufzuspringen. Allerdings musste ich feststellen, dass mich die vier Dämonen eingeholt und eingekreist hatten.
Im fahlen Licht des Mondes und einer alten Straßenlaterne etwas weiter weg wurde die Hässlichkeit der vier Ghule noch unterstrichen. Sie hatten gedrungene Körper mit herunterhängenden Hautfalten, hervorschimmernden Knochen und faulendem Fleisch. Ihre Gesichter mochten etwas Menschenähnliches erahnen lassen, doch in ihren runden, schwarzen Augen ließ sich keinerlei Menschlichkeit erkennen. Ich wusste genug über Ghule, um mir sicher sein zu können, dass sie mich töten würden. Hunger auf Menschenfleisch war das Einzige, das sie antrieb, und ich hatte mich ihnen auf dem Silbertablett serviert. Als ich die Waffe anhob und sie einem von ihnen warnend entgegenhielt, präsentierte der Dämon mir sein riesiges Maul.
Ich schauderte.
Was sollte ich denn nun tun? Ich hatte keinen Ausweg!