»Kannst du nicht einfach wieder umdrehen?«
Thomas stieß einen langen Seufzer aus und lenkte das Auto an die Bordsteinkante eines kiesüberzogenen Parkplatzes. Der befand sich neben einem leerstehenden Wohnhaus. Dort hielt er und schaltete den Motor aus. Erst dann ließ er sich zu einer Antwort herab. Aufseufzend entgegnete er: »Nein, das war unser Deal. Du gehst zu dem Treffen deiner zukünftigen Klasse, dafür übernehme ich zwei Wochen lang den Abwasch. Das haben wir so ausgemacht. Du musst echt mal unter Leute, vor allem seit Nel - ich meine, ach, du weißt schon.« Er schaute drein, als hätte er sich am liebsten in den Hintern gebissen. Auch ich blickte für einen Moment traurig auf meine Hände, ehe ich laut aufseufzte und mich abschnallte.
»Konnte ich ja nicht wissen, dass du auch noch drauf eingehst. Ich dachte, du hasst Abwaschen«, beschwerte ich mich, um den Fokus von Nel zu lenken und öffnete die Beifahrertür, um auszusteigen. Meinen Rucksack hatte ich natürlich dabei, für den Fall, dass – für alle Fälle. Man wusste ja nie.
Tommy wirkte sichtlich erleichtert darüber, dass ich das Thema gewechselt hatte und er mich nicht aus dem Auto prügeln musste. Sobald ich seinen Audi umrundet hatte, ließ er das Fenster runter und warf mir einen ernsten Blick zu.
»Wir machen uns eben Sorgen, dass du vereinsamst. Seit du wieder da bist, warst du praktisch nur in deinem Zimmer. Und wenn ich das sage, will das was heißen.«
»Ich vereinsame gar nicht«, war mein lahmer Verteidigungsversuch. Doch mein Bruder schien da anderer Meinung zu sein, denn er hob kritisch beide Augenbrauen an, sodass sie fast unter seinen Stirnlocken verschwanden, die er unter einem alten Beanie versteckt hielt. Dennoch verkniff er sich eine weitere Äußerung, wies stattdessen auf mein heutiges Ziel und behauptete: »Geh schon, deine zukünftigen Freunde haben bestimmt schon angefangen.«
Düster sah ich in die Richtung, in die er gezeigt hatte und korrigierte direkt: »Ich will mich mit niemandem von denen anfreunden.«
Ich konnte meinem Bruder ansehen, dass er immer verzweifelter wurde. Schließlich stöhnte er auf und lenkte ein: »Ich weiß, tut mir leid. Um zwölf hole ich dich ab, in Ordnung?«
Ich grummelte nur. Thomas schien einen Moment mit sich zu hadern, doch dann schaltete er den Motor wieder ein, warf mir einen gezwungen aufmunternd wirkenden Blick zu und fuhr an. Unmotiviert und auch ein bisschen nervös sah ich den verschwindenden Rückleuchten seines Autos hinterher. Ein Teil von mir hatte gehofft, er würde doch noch einknicken. Aber da schien ich Tommy schlecht zu kennen.
Doch was half es, hier weiterhin herumzustehen?
Widerwillig schulterte ich den Rucksack und setzte mich in Bewegung. Der Kies knirschte unter meinen Schritten. Mit einem etwas unwohlen Gefühl schaute ich umher.
Wer plante eine Sommerparty in einer verlassenen Wohnsiedlung? Hier gab es doch nichts außer unbewohnten Einfamilienhäusern, kaputten Bürgersteig-Laternen, umher wehenden Zeitungen und streunenden Tieren. Jedes Haus glich dem anderen, selbst die Zäune der ehemals sicher sehr gepflegten Vorgärten waren identisch, ebenso die Einfahrten und die Veranden. Die Straße verlief schnurgerade und war mit Laub aus dem Vorjahr bedeckt, das vom Wind vor sich hergetrieben wurde.
Insgesamt definitiv kein Ort, an dem ich eine Party steigen lassen würde. Auch wenn hier in der Umgebung nichts los war und niemand die Polizei rufen könnte, sollte es zu laut werden.
Ich musste gar nicht lange nach dem Haus suchen, denn Nummer Zwölf, jenes Haus, in dem die Party meiner neuen Schulklasse stattfinden sollte, wurde von dutzenden Kerzen beleuchtet, die jemand auf der Verandatreppe und beidseits der Wege aufgestellt hatte.
Ich stieg über eine flackernde Laterne hinweg und musterte das Haus. Von innen drin war lauter Partylärm zu hören und in den Fenstern glomm Kerzenschein. Dabei war es noch nicht mal dunkel draußen. Wozu also die Kerzen? Für die Stimmung?
Ich seufzte tief auf, während ich über den steinernen Gartenweg trottete. Am liebsten wäre ich zuhause, zwischen meinen Büchern, inmitten all meiner vertrauten Dinge. Warum nur war ich auf Tommys albernen Deal eingegangen? Lieber würde ich jeden Tag tonnenweise Teller schrubben als hier zu sein, inmitten von lauter Leuten, die ich allesamt nicht kannte.
In der Zeit, als ich durch das Internat geturnt war und mich zur Pseudo-Retterin einer mystischen Parallelwelt aufgeschwungen hatte, war das Leben meiner menschlichen Mitschüler natürlich weitergegangen - ohne mich. Das bedeutete, dass all diejenigen, mit denen ich noch vor einem Jahr in einem Kurs gehockt hatte, nun fertig mit der Schule waren, und ich als Einzige war es nicht. Und schlimmer noch: Aus Gründen, die auf der Hand lagen, konnte ich nicht an die Churchill High zurückkehren, weswegen ich gezwungenermaßen mein letztes Schuljahr ab Montag auf der Robert Service High School verbringen musste. Aber mehr dazu später - jetzt musste ich erst den Horror hinter mich bringen, der vor mir lag.
Ich muss ehrlich gestehen, die Umstellung von meinem Leben als seltenes, sagenumwobenes Hybridwesen auf das Menschendasein hatte mich mit vollster Wucht getroffen. Überlegt euch das bitte: Im einen Moment knien Leute euch zu Füßen und bewerfen euch mit Blümchen und Lobgesängen und im nächsten ist man wieder der dunkle, komische, finster dreinblickende Freak, der die Schule wechseln muss und sich vorgenommen hat, jeden Kontakt wie die Pest zu meiden.
Welch Ironie, dass ich an diesem heißen Sommerabend Ende August also auf dieser 'Summer End Party' auftauchte, zu der mich irgendein Mädchen aus der Facebook-Gruppe meines neuen Kurses eingeladen hatte. Schließlich hatte ich mir geschworen, auf meiner Insel der Einsamkeit bis zum Ende des Schuljahres herumzudümpeln und mit niemandem ein Wort zu sprechen.
Das alles hatte ich also meinem Bruder zu verdanken. In dem Sinne: Danke Tommy!
Mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter betrat ich den Hausflur. Dabei zupfte ich an den Falten des weißen Sommerkleides, in das mein Bruder mich genötigt hatte. Ich mochte es nicht. Ich hasste Kleider. Und Menschen. Und Sozialkontakte. Und Teenager. Und Partys. Und mein Menschendasein. Eigentlich hasste ich alles.
Der Flur wurde von einigen Teelichtern erhellt, die entlang der Wände standen. Aus dem angrenzenden Raum am Ende des Flurs ertönte Lärm und ich sah mehrere Leute beieinanderstehen. Plastikplanen lagen auf dem Boden und waren vor einige Fenster gespannt. Zudem standen in einigen Ecken Baustrahler, was dem Ganzen die Atmosphäre einer Baustelle verlieh.
Es waren ganze Siebzehn aus meinem zukünftigen Kurs da. Sie saßen an Biertischgarnituren, tummelten sich draußen auf der Veranda um einen Holzkohlegrill oder standen in Grüppchen beieinander. Auch hier brannten überall Kerzen und es roch nach Silikonschaum.
Fast alle sahen auf, als ich den kahlen Raum betrat. Die Jeansjacke enger ziehend blieb ich im Durchgangsbogen stehen und wünschte mich weit weg. So, wie ich nun auf dem dreckigen Holzparkett stand, zog ich unangenehm viel Aufmerksamkeit auf mich. Mit einem Mal kehrte neugierige Stille ein. Selbst die Musik wurde pausiert.
»Oh Leute, da! Ist das etwa die Neue?« Ein blondes Mädchen in einem hautengen Kleid mit Kreolen an den Ohren und übertrieben viel Lidschatten im Gesicht zeigte auf mich. Innerlich schlug die imaginäre Jennifer ihren Kopf gegen eine Wand, während ich mein Gegenüber von Kopf bis Fuß maß und mich zwingen musste, keine Miene zu verziehen. Himmel, hatte die eine nervige Stimme.
»Du bist Jennifer, nicht?«, redete das blonde Geschöpf weiter. Ich brummte nur zustimmend.
Das Mädchen erhob sich und stellte sich mir als Brittany vor. Meiner Menschenkenntnis nach war der Name meistens Programm, und damit sollte ich Recht behalten.
»Ich bin die Klassensprecherin. Du kannst immer zu mir kommen, ja? Auch, wenn du mal Beratung in Modedingen brauchst. Dieses Kleid, also - sei ehrlich, das schreit schon ziemlich nach Leichentuch, findest du nicht?«
Wow. Die erste Beleidigung, und das nach nur zwei Minuten. Ein neuer Rekord. Doch, ja, in diesem Kurs würde es mir bestimmt gefallen. Hach, was ödete mich diese Konfliktsuche an. Das hatte ich echt vermisst.
Die imaginäre Jennifer fing an, den Kopf dieser Person dort ins nächstbeste imaginäre Klo zu stecken. Aber was soll ich sagen? Eine wie die musste es ja einfach in jeder Lebenslage geben. Eine nervige, arrogante, selbstüberzeugte, dumme Bitch. Sowas hatte ich schon immer angezogen, sei es Angelina oder Evelyn - nein, nicht an Evelyn denken, denk nicht an Evelyn!
Ich schob den Unterkiefer vor, schaute kurz an die Decke, blinzelte und kämpfte extrem gegen den Drang an, wieder zu gehen. Wenn ich kein Mensch wäre, würde meine Antwort aus Einschüchterung und Schmerzensandrohungen bestehen. Tja. Doch ich war ein Mensch. An mir gab es nichts Furchterregendes mehr. Jetzt war ich nur ein achtzehnjähriges Mädchen in einem weißen Sommerkleid mit geflochtenem Zopf und ausgetretenen Springerstiefeln. Das Gefährlichste an mir mochte noch mein Blick sein, aber das war auch schon alles.
Der Teil in mir, der sich den Menschen überlegen fühlte, wollte die Worte Brittanys‘ unkommentiert lassen und sich erwachsen verhalten. Wirklich. Ein bisschen Wille war da. Aber es war verlockend, sich auf ihr Niveau hinabzulassen. Mein letzter verbaler Krieg war schon so lange her.
Es war beinahe, als würde sich der Konter mit aller Macht gegen meine Lippen drücken. Und natürlich, wie sollte es anders sein, verlor ich den Kampf.
Ich deutete auf Brittanys knallrotes Minikleid und entgegnete betont freundlich: »Wenigstens schreit mein Kleid nicht danach, dass ich von der gesamten Jungsfraktion in diesem Raum besprungen werden will.«
Brittany hielt inne und starrte mich an. Ich konnte sehen, wie sie sich aufplusterte. Offenbar gehörte sie zu der Sorte Mensch, die nur austeilen und nicht einstecken konnte. Da war sie bei mir aber an der ganz falschen Adresse.
Da erhob sich ein dunkelhaariger, sportlicher Typ mit umgedrehtem Basecap neben Brittany und lachte, ihr einen Arm um die Schultern legend. Er schien sich in der Position zu sehen, schlichten zu müssen. Zu schade. Ich hätte durchaus noch ein paar Gemeinheiten in petto gehabt.
»Hey, bleibt mal beide ganz cool. Willkommen bei uns, Jennifer. Ich bin Ty. Macht mal Musik an!« Er ruderte mit einem Arm in der Luft und nur wenige Sekunden darauf ging der Beat wieder los, der vor meinem Eintreten geherrscht hatte. Daraufhin zog er Brittany nach unten neben sich auf die Bank, was die nur mit einem nach wie vor entrüsteten Blick in meine Richtung geschehen ließ.
Da räusperte sich jemand neben mir. Irritiert blickte ich nach rechts, wo ein braunhaariges Mädchen mit Pony und Brille stand und mich unsicher anlächelte.
Ein Teil von mir war froh, doch der andere hätte sich gerne weiter verbal duelliert. Tja. Es würde bestimmt noch Gelegenheiten geben.
»Ignorier Brittany, das hilft am besten. Wenn du willst, kannst du dich ruhig zu uns setzen, da ist noch Platz«, bot sie freundlich an und zeigte auf einen Tisch weiter hinten, an dem drei Jungs saßen. Zuerst wollte ich ablehnen und wieder verschwinden, doch dann riss ich mich zusammen, rang mir ein Lächeln ab und nickte. So folgte ich ihr, deren Namen ich nicht wusste, zu dem besagten Tisch. Zum Glück lag der Fokus nicht mehr länger auf mir, was ich als sehr erleichternd empfand.
»Danke«, sagte ich zu dem Mädchen, nachdem wir uns gesetzt hatten und fragte direkt: »Und du bist?«
Fröhlich antwortete sie: »Ich bin Casey. Freut mich.«
»Nett«, rutschte es mir nach einigen Sekunden heraus, in denen ich nicht wusste, wie ich auf dieses 'Freut mich' reagieren sollte. Zu sagen 'gleichfalls' wäre übertrieben gewesen. Casey lachte, während mir Röte in die Wangen stieg. Doch meine Sitznachbarin winkte ab und, reichte einen gefüllten Bowle-Becher an mich weiter und stieß mit ihrem Bowle-Becher gegen den meinen, womit das Gespräch vorerst beendet war.
Damit widmete ich meine Aufmerksamkeit der Bowle. Ich schnüffelte an ihr. Sofort stieg mir ein süßlich-stechender Geruch in die Nase. Ich fragte an den Jungen gewandt, der mir die Bowle gegeben hatte: »Ist da Alkohol drin?«
Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Ja, natürlich, was denkst du denn?«
»Gottseidank!« Ich erhob mich, langte nach dem Bowle-Spender und zog ihn quer über den Tisch in meine Reichweite. Der Junge lachte und prostete mir zu.
Im Laufe des Abends fand ich heraus, dass die drei Jungs hier am Tisch Justin, Steve und Jack hießen, allesamt einem Programmierclub angehörten und sich am liebsten über Wissenschaftliches und Verschwörungstheorien unterhielten. Casey machte auf mich zuerst einen stillen Eindruck, doch mit etwas Alkohol lockerte sich ihre Zunge, sodass sie bald wie ein Wasserfall brabbelte. Damit erinnerte sie mich an Penny, wie mir irgendwann schmerzlich bewusst wurde. Doch wie schon Evelyn zuvor verbannte ich auch sie aus meinen Gedanken.