Das, was mich hinter dem Portal erwartete, übertraf jede Vorstellung. Mein Atem stockte, als die atemberaubende Kulisse sich vor mir entfaltete – wie eine Mischung aus Märchen und einem Traum, den ich nicht zu Ende geträumt hatte.
Über den Wolken lag eine seltsame Landschaft, durchzogen von scharfkantigen Felsen, die wie schlafende Riesen aus der Wolkendecke hervorstachen. Ich erkannte sie als die Gipfel anderer Berge, verstreut in unregelmäßigen Abständen wie zufällig verteilte Inseln. Am Horizont schob sich ein riesiger Mond vor die Sonne, sein weißes Antlitz war von eigentümlichen Wirbeln durchzogen, fast wie ein waberndes Muster, das sich nie zu wiederholen schien. Der Himmel war von einem kühlen, sanften Blau und an den Rändern mit einem rosafarbenen Streifen durchzogen, der nach oben in ein warmes Rot überging. Es war ein Himmel, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte, so nah und doch so fremd.
Ein Sonnenstrahl schob sich gerade in diesem Moment um die linke Seite des Mondes, blendete mich für einen Herzschlag und tauchte die Wolken in ein goldenes, warmes Licht. Der Schimmer spielte auf den Wolken wie auf dem Schaum einer unendlichen Wasserfläche, und die Wärme des Strahls auf meinem Gesicht war von einer Intensität, wie ich sie auf der Erde nie gespürt hatte. Ich schloss die Augen und genoss diesen flüchtigen Moment – hier, hoch über der Welt.
Der Boden unter meinen Füßen schien anfangs nur aus Wolken zu bestehen. Doch als ich den steinernen Boden des Turms verließ, erkannte ich, dass unter den fließenden Wolken ein schmaler, erdiger Pfad lag, der sich sanft zu einer großen, kreisrunden Plattform absenkte. Ich ging vorsichtig darauf zu, immer wieder um mich blickend, als könnte die Schönheit dieses Ortes jeden Moment verblassen.
Und dann sah ich es: Von der Platte aus führte eine große, majestätische Treppe zu einem Tor in der nahen Bergwand, umhüllt von dichten Wolken, die sich wie Zuckerwatte um die Ränder der Stufen schmiegten. Ein mattes Leuchten ging von dem Tor aus, und dahinter lag nur ein warmes, stilles Licht – keine Felsen, keine dunkle Tiefe, nur ein heller Glanz, der die Welt in schimmerndes Gold tauchte. Ich verlor mich fast in der Betrachtung und hätte beinahe vergessen, weshalb ich überhaupt hier war.
Schließlich riss ich mich los und wandte mich der runden Plattform am Ende des Pfades zu, die in einem flachen, dampfenden See zu schweben schien. Ein Wispern lag in der Luft, und ich meinte, schemenhafte Gestalten im Nebel zu erkennen, die sich an den Rändern des Sees bewegten, als wären sie Teil des fließenden Dunstes.
Mit vorsichtigen Schritten trat ich näher und musterte die Platte, auf der ein vertrautes Symbol eingelassen war: eine Darstellung mit zwei Hälften, ein Kopf, dessen linke Seite die Züge eines Dämons trug und die rechte das Gesicht eines Engels. In der Mitte leuchteten zwei Augen, die seltsam lebendig wirkten und mir das Gefühl gaben, als würden sie mich tatsächlich ansehen.
Langsam trat ich auf den Kreis und hielt in der Mitte inne. Das Wispern um mich herum schwoll an, wurde lauter, intensiver, wie ein Zischen, das in meine Ohren drang und die Luft zum Vibrieren brachte. Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Spannung richtete ich meinen Blick in den Himmel und fragte mich, was nun geschehen würde. Inzwischen war ich so aufgeregt, dass ich zu schwitzen begonnen hatte.
Doch dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit: Ein sanftes, weißes Leuchten begann sich langsam von der Seite des Engelsgesichts im Bodenbild auszubreiten, bewegte sich stetig zur Mitte, wo es auf ein schwarzes Leuchten traf, das von der Dämonenseite kam. Beide Lichter kollidierten in der Mitte, und ein tiefes Rattern durchdrang die Stille. Unwillkürlich wich ich zurück.
Die steinernen Augen in der Mitte des Gesichts schlossen sich und verschwanden langsam in der Tiefe. An ihrer Stelle schoben sich zwei schlanke Stäbe empor, die etwa auf Hüfthöhe stehenblieben und mit einem metallischen Klicken einrasteten. An den Enden der Stäbe befanden sich flache Platten, deren Zweck ich nur erahnen konnte. Mein Herz klopfte schneller, als ich vortrat. Ich war meiner ersehnten Verwandlung so verdammt nah!
Ich zögerte einen Moment, dann trat ich entschlossen zwischen die Stäbe und legte meine Hände auf die flachen Platten.
Im nächsten Augenblick schossen metallene Griffe aus den Platten hervor, legten sich unerbittlich um meine Handrücken und fixierten mich an die Stäbe. Ein Schreck durchzuckte mich, und instinktiv versuchte ich, meine Hände wegzureißen – doch der Griff hielt mich fest. Panik stieg in mir auf.
Doch noch bevor ich ganz in die Angst abdriften konnte, drang ein neues Geräusch in mein Bewusstsein. Es mischte sich mit dem Wispern und Rauschen um mich herum, war abgehackt, fast wie das Schlagen von Flügeln.
Moment - Flügel? Hier?
Ein Schatten huschte über mich hinweg, und obwohl ich mich instinktiv duckte, wusste ich, dass ich in meiner gefesselten Position keinen Zentimeter entkommen konnte. Ich konnte nicht weglaufen, ich konnte mich nicht bewegen, nicht einmal umdrehen konnte ich mich. Doch das musste ich auch nicht, um zu wissen, wer da soeben mit seinem Windschneider gelandet war.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich über die Schulter, während mein Herz seinen Platz verließ und in Richtung meiner Knie davonrutschte.
Nein. Das durfte nicht sein! Nicht jetzt, nicht… was tat Selene hier?! Woher hatte sie gewusst, dass ich hier war?
Da stand sie. Sich wie eine Kaiserin umsehend, stolzierte die Dämonengöttin heran. Ihr blondes Haar wehte offen über ihren Rücken, als sie mich mit einem diabolischen Funkeln in den Augen anvisierte. Ihr schwarzes Kleid schmiegte sich wie ein Schatten um ihre Knöchel, und das Lächeln auf ihren karmesinroten Lippen war eine Mischung aus Amüsement und Triumph.
»Ich sehe, du bist bereits vorbereitet«, stellte sie mit einem boshaften Lächeln fest. »Das ist ja erfreulich. Dann können wir direkt loslegen!«
»Selene!«, entfuhr es mir, während ich versuchte, meine Hände von den Stäben zu befreien, die mich gefangen hielten. Panik pochte in meinen Schläfen.
Wo war sie hergekommen?! Was wollte sie hier?
Selene warf mir einen verächtlichen Blick zu, dann wandte sie sich ab und begann, langsam um den Kreis zu schreiten, als würde sie jedes Detail der Szenerie in sich aufnehmen.
»Die Überraschung in deiner Stimme wundert mich. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, du könntest im Stillen zum Yindarin werden, ohne dass wir einschreiten?« Ihr Lachen hallte über die Plattform. »Beinahe beleidigend, Jennifer. Als ob wir es dir so einfach machen würden.«
»Ja, aber … wie?!«
Sie schüttelte sanft den Kopf, als wäre mein Unverständnis ein weiterer Beweis für ihre Überlegenheit. »Ich habe geduldig gewartet, bis die Erzengel die Schutzwälle um diesen heiligen Ort heruntersenkten. Diese Blitze – sie können auch mir gefährlich werden. Und ich muss zugeben… hier gefällt es mir. Es hat die perfekte Atmosphäre, um ein neues Kapitel einzuleiten. Das Kapitel meiner Ära als Yindarin, das ich dank dir antreten werde.«
Mir drehte sich der Kopf. Die Pläne, die wir so heimlich geschmiedet hatten, lagen vor ihr wie ein offenes Buch. Wie hatte sie davon erfahren? War das alles gar nicht so geheim gewesen? Doch nur wenige hatten von dem Vorhaben gewusst, wer also sollte es verraten haben?
»Aber woher weißt du, dass ich–«
Selene unterbrach mich direkt: »Dass du was?« In ihren Augen flammte es auf. »Dass du dich zu Höherem aufschwingen und endlich wieder bei den Erwachsenen mitspielen willst?« Ein bösartiges Lächeln zog sich über ihr Gesicht, als sie das letzte Mal um mich herum schritt und dann direkt hinter mir stehen blieb. Ihr kalter Atem strich über mein Ohr, als sie flüsterte: »Weil es von Anfang an meine Idee war. Ich habe sie den Engeln ins Ohr flüstern lassen. Du vertraust eindeutig den Falschen, meine Liebe. In Oberstadt gibt es schon lange jemanden, der die Engel ebenso brennen sehen möchte, wie ich. Aber genug der Fragerei - es ist Zeit, zu beginnen.«
Ich sah, wie ihre Hände auf mich zukamen, ihre Finger waren gespreizt. Das Entsetzen rauschte durch meinen Körper. »Stopp!«, schrie ich panisch, doch es war vergebens. Das irre Leuchten in ihren Augen zeigte mir nur, dass meine Angst sie noch mehr antrieb.
Ohne zu zögern, legte sie ihre Hände auf meine Stirn. Ein brennender, glühend heißer Schmerz explodierte in mir, als hätte eine Flamme sich tief in meinem Inneren entzündet. Ein lautloser Schrei kam über meine Lippen, und meine Knie gaben unter mir nach. Um uns herum knisterte und funkelte es; elektrisches Zucken und wilde Ströme schossen zwischen Selene und mir hin und her, und das ganze Feld lud sich statisch auf. Die Stäbe unter meinen Händen wurden plötzlich brennend heiß, bis sich der Schmerz in meine Handflächen fraß. Meine Sicht verschwamm.
Am Rande meines Bewusstseins spürte ich, wie die Elektrizität sich am Rand des Kreises sammelte und ballte, als wolle sie sich im nächsten Moment auf uns entladen.
Und dann schlug der gebündelte Strom mit der Wucht eines Donnerschlags in uns ein, riss durch meine Nervenbahnen und ließ meine Glieder wild zucken, während sich der Schmerz in mir zu einem wilden, reißenden Feuer hochschraubte, das jeden Knochen auseinanderzusprengen drohte.
Selenes Kopf warf sich gleichzeitig mit meinem in den Nacken, und ein grelles Licht stieg in meinen Augen auf, strahlte selbst aus meinem Mund und meiner Nase heraus.
Dann ertönte ein markerschütterndes, grauenvolles Knacken. Ich kannte dieses Geräusch. In dieser Sekunde wurde jedes einzelne Knochenstück in meinem Körper gebrochen und neu geformt, Stück für Stück. Ein Schmerzensschrei entwich mir, durchdrang die Stille, bis meine Stimme versagte. Wind peitschte über meine Haut, doch die glühende Hitze in mir ließ sich davon nicht vertreiben, und die ätzende Qual zerrte an meinem Verstand. Ich stieß mich verzweifelt gegen die Stäbe, die unter der Wucht meines Aufpralls zitterten und sich in ihre Fundamente gruben.
Und dann, mit einem letzten, grausigen Knirschen, schlossen sich all meine Knochen wieder zusammen. Der Schmerz ebbte ab, die Hitze ließ nach, das Feuer in mir verblasste allmählich, bis nur noch Schwäche übrig blieb.
Völlig entkräftet lehnte ich mich an die Stäbe. Mein Kopf dröhnte und ein dumpfes Pochen hallte in meinem Schädel wider. Doch in mir war noch etwas anderes, etwas Dunkles, ein Gefühl wie ein leerer Sog, der mich von innen heraus aushöhlte. Er war falsch und beunruhigend.
Dann erfasste die Schwärze mich vollständig, und alles um mich herum verschwand.
Es ward so dunkel, doch dann kam das Licht,
es erfüllte die Nacht, verstärkte die Sicht.
Ein lauter Knall, doch ohn’ einen Ton,
vielleicht würde es sich diesmal lohn’!
Der Ton verschwand, zurück blieb nur Staub
aus glitzernd Farben, aus alln’, ich glaub!
Fernab von eurer neuen Welt,
jedoch unterm selben Himmelszelt,
entstanden zwei Seiten, zusammengestellt,
parallel zur Anderwelt.
Die Weiße verkörpert stets das Gute,
bei der Schwarzen wird’s dir bang zumute.
Genannt sind sie Ober-und Unterstadt,
Namen so mächtig, so episch und glatt!
Gesegnet vom Einen, der alles sieht,
bedroht durch den Andren, der alles verriet.
Nun lenken zwei Töchter, wie Tag und Nacht
die Welten, derer man heute gedacht.
Längst vergangen die Jüngere ist,
die Ältre jedoch, wie ihr wohl wisst,
erweckte den Zorn mit heiligem Blut,
erleuchten tut erneut die Glut.
Doch horchet, das Kind, es ist aufgewacht!
Aus jedem Tage es macht eine Nacht.
Die Erbin, betrogen, auf dem Gipfel der Welt,
während der Frieden aufs Neue zerschellt.
Ich lag auf der Seite, während die letzten Worte in meinem Kopf verklangen. Dasselbe Gedicht hatte ich schon einmal gehört, bei meiner Auferstehung – doch mit einem anderen Ende.
Ein Sonnenstrahl kitzelte auf meiner Haut. Kein Wispern, kein Rauschen – nur Stille, eine Stille, die mir plötzlich falsch vorkam. Ich öffnete langsam die Augen.
Das Erste, was ich sah, waren meine verbrannten Handflächen. Doch sie waren taub; ich spürte den Schmerz nicht. Das Zweite war das merkwürdige Gefühl in mir – oder vielmehr das, was ich nicht fühlte. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht!
War ich nun ein Yindarin? Oder nicht? War das Ritual fehlgeschlagen?
Ich tastete vorsichtig nach meinem Inneren. Da war nur ein leeres Loch in meinem Geist, ein bekanntes Nichts. Keine fremde Präsenz, kein Flüstern. Nichts.
Kannst du mich hören?, fragte ich innerlich, doch meine Frage verhallte, einsam und ohne Antwort. Mein Kopf fühlte sich leer an – leer und unberührt, als hätte sich nichts verändert. Aber warum dann der Schmerz der Umwandlung? Mein Magen zog sich zusammen.
Langsam zog ich mich an den Stäben hoch und klopfte den Staub von meiner Kleidung. In mir drehte sich alles. Bloß nicht umfallen, beschwor ich mich innerlich. Es gibt für alles eine Erklärung.
Aber wo war Selene?
Ich drehte mich um – und fuhr erschrocken zurück. Sie stand direkt hinter mir. Doch das war nicht die Selene, die ich kannte.
Sie sah mich an, wie ein hungriges Raubtier seine Beute beobachtet, jedes Detail in sich aufsaugend, mit einem triumphierenden Lächeln, das langsam ihre Züge verzog. Blauschwarzes Blut pulsierte unnatürlich schnell durch ihre Adern, ihr blasses Gesicht glühte leicht in einem seltsamen Licht, und ihre Augen – sie loderten in einem unirdischen, eisigen Blau, das Funken sprühte. Sie war groß, unnatürlich groß, und in diesem Moment bildeten sich an ihren Armen Widerhaken.
»Ich muss mich wahrhaft bedanken, Jennifer«, raunte Selene mit tiefer, hallender Stimme. Während sie sprach, schien ihr Körper förmlich zu wachsen, als würde die Macht sich durch ihre Adern ausbreiten, Zentimeter um Zentimeter mehr einnehmend. Sie strahlte eine Präsenz aus, die die Umgebung füllte und die Luft in sich aufzusaugen schien. Ich spürte, wie mein Blut versackte.
Noch bevor ich die Worte fand, wusste ich es – wusste, was passiert war. Blankes Entsetzen stieg in mir auf, und ich machte instinktiv einen Schritt zurück, den Blick nach einem Fluchtweg schweifen lassend.
»Ich verstehe nicht«, wisperte ich, aber die Wahrheit schnürte mir bereits die Kehle zu. Das konnte nicht sein! Nein. Nein, das durfte nicht passiert sein!
Selenes erbarmungsloses Auflachen durchschnitt die Luft, während sich der Himmel um uns herum verdüsterte und es schneidend kalt wurde. »Oh«, höhnte sie mit einem teuflischen Funkeln in den Augen, »manchmal bist du fast schon niedlich. Sieh mich doch an. Kannst du dir wirklich nicht erklären, was geschehen ist?«
»Aber das - das ist unmöglich!«, rief ich mit wackelnder Stimme und wich zurück.
»Oh, doch – so selbstverständlich sogar!« Sie legte den Kopf leicht schräg und betrachtete mich mit einem Ausdruck von Genuss. »Du bist soeben Opfer einer Zustandsübertragung geworden. Der Yindarin, der sich fast schon an deiner Seele festgesaugt hätte, stärkt nun meinen Körper. Was eine Macht!« Sie neigte den Kopf zurück, atmete tief ein und lachte befreit. »Endlich!«
Ich starrte sie an, unfähig zu begreifen, was sich vor meinen Augen abspielte. Mein Verstand versagte, weigerte sich, die Szene vor mir zu verarbeiten.
Selenes Brust hob und senkte sich langsam, und sie verrenkte leicht den Hals, als würde der Yindarin in ihr mit auflodern. Ich hingegen fühlte etwas Neues in mir aufsteigen: Wut.
»Du hast mir meinen Yindarin gestohlen!«, presste ich hervor. Das Verlangen, meine Hände um ihren Hals zu legen, schmerzte in meinen Fingern.
Selene lachte leise und bedrohlich. »Oh ja, das habe ich. Denn du musst eine Hülle bleiben, dir war niemals ein weiterer Yindarin bestimmt.«
»Wozu?! Was wollt ihr von mir? Ich bin doch überhaupt nicht von Wert, ich bin nur ein Mensch!«, rief ich den Tränen nahe.
»Du bist sogar sehr wertvoll, gerade weil du ein Mensch bist«, widersprach Selene, drehte sich um und schritt gelassen auf und ab, als wäre das Gespräch schon längst vorbei. Doch plötzlich blieb sie stehen, als wäre ihr eine besonders amüsante Idee gekommen. Sie drehte sich zu mir um, und ein bösartiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Da fällt mir ein…« Sie ließ das Wort gedehnt im Raum hängen. »Ich habe gehört, das der alte Seher der Engel das Zeitliche gesegnet und ausgerechnet deine kleine Schwester zu seiner Nachfolgerin berufen hat. Welch tragische Schicksalswendung für die kleine Anna Ascot, und wie praktisch für mich, ich brauche nämlich die Geisteskräfte eines Orakels. Und dieses kleine Mädchen wird für mich leichter zu knacken sein als eine Nussschale. Am besten statte ich ihr direkt einen Besuch ab und nehme sie mit in ihr neues Zuhause. Und glaub mir, sie wird leiden, Jennifer, sie wird sehr, sehr leiden – und ihre große Schwester wird weit weg sein und hilflos zusehen.«
Ihre Worte ließen das Blut in meinen Adern gefrieren, doch ich zwang mich, die Fassung zu bewahren, meine Angst nicht zu zeigen. »Wenn du meiner Schwester etwas antust-«, begann ich verzweifelt, aber mir war selbst bewusst, wie hohl diese Worte klangen. Das schien auch Selene zu denken, die mir nicht einmal antwortete, sondern ihren Windschneider mit einer kurzen Handbewegung zu sich winkte. Der sprang auf und trabte zum Rand des Kreises. Selene folgte ihm ohne einen weiteren Blick zurück und ließ sich einfach in die Tiefe fallen.
Instinktiv rannte ich zum Rand und blickte hinunter, doch sie war bereits verschwunden. Da schoss der Windschneider durch die Wolken empor, der plötzliche Luftdruck brachte mich ins Wanken. Selene saß auf ihm, und mit einem triumphierenden Brüllen stieß er sich in die Lüfte und verschwand im Wolkenmeer. Das Letzte, was ich sah, war Selenes grausames Lächeln, das mich höhnisch aus der Ferne traf.
Ich schloss die Augen.
Ein Gedanke brannte sich in meinen Verstand, klar und unwiderruflich: Selene war jetzt ein Yindarin, und damit mächtiger als je zuvor.