Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn wir einfach nach Hause hätten gehen können. Doch das blieb mir vorerst verwehrt, denn die Engel bestanden darauf, dass Nighton und ich mit ins Schloss kämen, wo wir haargenau berichten sollten, was sich zugetragen hatte.
Schon als Michael uns im Himmelsturm im Empfang nahm, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich kann jetzt nicht sagen, dass das unbedingt etwas Negatives war, doch der Erzengel betrachtete mich auf eine Art und Weise, bei der ich beim besten Willen nicht einschätzen konnte, was er dachte. War es Mitleid, weil ich so nass war? War es Neugierde oder gar Faszination, weil ich allein gegen die Schlange gekämpft hatte, als würde ich das jeden Tag tun? Oder einfach bloß Anerkennung dafür, dass ich das Yagransin zerstört hatte? Ich wusste es nicht. Aber diesen musternden Blick, mit dem er mich überzog, erhielt ich auch von all den anderen Engeln, die mit uns im Himmelsturm landeten oder schon da waren. Das verwirrte mich ziemlich, aber ich war zu müde und zu ausgelaugt, um nachzufragen. Am liebsten wollte ich nach Hause. Nein, also ja, doch, klar wollte ich das, aber noch viel lieber wollte ich, dass Nighton und ich unseren Moment von vorhin fortsetzten - den, den Gil so rüde unterbrochen hatte. Die ganze Zeit schwebte ich auf einem imaginären Wölkchen durch die Gegend, und es hätte nicht viel dazu gefehlt, dass ich verklärt gelächelt hätte. Ein Teil von mir konnte das immer noch nicht glauben. Nighton, der mit der strengen Sexualmoral, und ich hatten uns ernsthaft und ungelogen geküsst. Geküsst! Auf den Mund! Hey, okay, vielleicht übertrieb ich auch ein bisschen - aber Gils Worte, dass das überfällig gewirkt habe, ließen mich nicht los. Irgendwo hatte er schon Recht. Es war ein Wunder, dass Nighton und ich diesen Schritt gegangen waren. Kaum zu glauben, dass es überhaupt so weit gekommen war. Noch vor einem Jahr - gut, lassen wir das, vor einem Jahr wäre ich noch von so vielem nicht mal im Traum ausgegangen.
Dennoch, wann immer meine Gedanken in Richtung dieses Wahnsinnskusses abdrifteten, bekam ich Schmetterlinge im Bauch und musste mich beherrschen, um nicht blöd zu grinsen. Dass Nighton meine Hand fast dauerhaft hielt, machte das Ganze für mich nicht gerade leichter. Es hatte nichts Beschützendes, Besitzergreifendes oder Bevormundendes an sich, es war eine reine Geste der Nähe, und ich wünschte mir, er würde mich niemals wieder loslassen. Natürlich entging Nighton zu keiner Sekunde, wie sehr mich dieser Körperkontakt innerlich aufdrehte. Er hatte dafür die meiste Zeit über nur ein vielsagendes, aber dennoch liebevolles Lächeln übrig, als würde er mit dem Geschehen möglichst erwachsen umgehen wollen, so nach dem Motto: Wir bleiben mal schön auf dem Boden. Allerdings konnte er das neuartige Glitzern nicht verstecken, das in seinen Augen auftrat, wann immer er mich anschaute.
Aber gut, zurück zu meiner Erzählung.
Michael öffnete ein Portal für uns, durch das Nighton mich zog. Auf der anderen Seite der kreisenden Schlieren befand sich der Kartensaal, in dem Isara, Greah, Gabriel, Raphael, Tharostyn und der silberhaarige Engel schon auf uns zu warten schienen.
Sobald auch Michael durch sein Portal gestiegen war und es geschlossen hatte, ging es los. Fragen über Fragen prasselten auf uns ein, und ich wusste gar nicht, welche ich zuerst beantworten sollte. Tharostyn unterbrach den Ansturm zum Glück relativ schnell, indem er mit verärgerter Miene seinen Gehstock schwenkte und laut rief: »Ruhe! Wie soll einer der beiden auf eure Fragen antworten, wenn ihr ihnen keine Gelegenheit gebt?«
»Aber Meister, es ist immens wichtig, dass wir erfahren, wieso Jennifer eine derartige Kraft als reiner Mensch aufbringen konnte! Das hat Priorität!«, entrüstete sich Gabriel, den ich seit meinem Einzug in Harenstone nicht mehr gesehen hatte. Ich musterte den Erzengel kurz, wie er dastand, gekleidet in einen gut geschnittenen, stilvollen, grauen Anzug mit passender Weste und schmaler, perfekt gebundener Krawatte. Wie immer hatte er auch seine Taschenuhr mit dabei. Insgeheim fragte ich mich, wann er die Zeit gehabt hatte, sich umziehen.
Ganz anders hingegen trat Raphael auf. Mir fiel sofort seine blutverschmierte Rüstung ins Auge. Die für gewöhnlich himmlische und eindrucksvolle Erzengelrüstung war übersät mit Kratzern und Dellen, die vom dem Kampfgelage in Unterstadt zeugte. Blut war über die kunstvollen Verzierungen gespritzt, das tiefe Rot bildete einen scharfen Kontrast zu dem sonst strahlenden Metall. Sein Gesicht war grimmig, mit einem entschlossenen Ausdruck, der nichts Gutes verhieß. Auch er schaute mich unablässig an, und der Anblick seines von Blut bedeckten Hammers ließ schlimme Erinnerungen wachwerden, sodass ich mich bemühte, woanders hinzublicken.
»Ich finde, dass es viel eher Priorität hat, dass sie in trockene Kleider kommt«, schaltete Nighton sich brüsk ein, womit er mir aus der Seele sprach.
Tharostyn brummte zustimmend und gab einer der Wachen an der Tür einen Wink, die daraufhin nach draußen verschwand. Dann stützte der alte Engel sich auf seinen Stock und sagte: »Nun, fangen wir am besten damit an, dass ich Ihnen Elisae vorstelle, Miss Ascot.« Er deutete auf den silberhaarigen Engel, der Nighton von den Speeren befreit hatte. Elisae lächelte mir sanft zu und neigte einmal das Haupt. Tharostyn fuhr fort: »Elisae hat vor kurzem den Posten Ihrer Mutter übernommen und führt die Seraphim an.«
Ich spürte bei dem Gedanken an Siwe Wehmut in mir aufsteigen. Trotzdem lächelte ich zurück und begrüßte den Engel.
»Ist es wirklich so wichtig, sich jetzt bekanntzumachen? Ich will endlich Details über die Mission hören!«, wollte Isara wissen, doch keiner schenkte ihr so wirklich Beachtung. Bis auf Tharostyn. Der räusperte sich und forschte: »Ganz recht, es interessiert uns alle, wie aus der ursprünglich so unaufregenden Mission solch ein Desaster werden konnte.«
Nighton und ich wechselten einen Blick. Ich konnte ihm sein Zögern ansehen und er mir meins. Dennoch ergriff er zuerst das Wort und berichtete knapp, aber ohne wichtige Details auszulassen, was in Unterstadt vorgefallen war. Seine Erzählung ging bis zu dem Punkt, an dem mein Part in der Höhle begann, woraufhin ich übernahm. Es kostete mich einiges an Anstrengung, mich an alles zu erinnern, doch ich versuchte es. So erzählte ich stockend davon, was mit dem Kristall geschehen und wie ich aus der Höhle entkommen war, wie ich Gil traf und was für eine Rolle er gespielt hatte. Enden tat ich an dem Punkt, als die Engel aufgetaucht waren.
Sobald ich den Mund schloss, herrschte eine seltsame Stille. Tharostyn und Michael tauschten einen anerkennenden Blick aus, während Gabriel besorgt die Stirn runzelte und Raphael sich auf seinen Hammer stützte. Er war es auch, der zuerst das Wort ergriff.
»Kaum zu glauben, dass ich das sage, aber als Mensch bist du offenbar deutlich nützlicher, als du es als Yindarin warst. Hat man sowas schon gehört? Ein Mensch, der durch unterstädtische Höhlen wandert und Yagransinkristalle vernichtet. Hast du überhaupt einen Beweis für deine Tat?« Spöttisch stemmte er eine Hand in die Seite.
Ich spürte Wut in mir keimen. Warum hackte dieser Erzengel eigentlich immer auf mir herum? Dennoch fehlte mir die Kraft, um Raphael einen gesalzenen Kommentar entgegen zu schleudern, also bedachte ich ihn nur mit einem vernichtenden Blick und richtete meine Aufmerksamkeit auf Michael. Der holte tief Luft und sagte, ohne auf Raphael einzugehen: »Ich denke, ich spreche für die meisten der Anwesenden-«, er schickte seinem Bruder einen strengen, beinahe maßregelnden Blick, »-wenn ich sage, dass wir alle äußerst beeindruckt von deinen Taten sind, Jennifer Ascot. Du kannst stolz auf dich sein, nicht viele können von sich behaupten, solch eine Situation so bravourös zu meistern. Offen gestanden habe ich nicht damit gerechnet, dass die Diener der Dämonengöttin dort involviert sein könnten, aber trotzdem ergibt das alles einen Sinn. Vor allem im Hinblick darauf, dass du ein Objekt von Interesse für Selene bist. Was ich hingegen gar nicht verstehe...«, er stockte und sah zu Gabriel, der mich nach wie vor besorgt anstarrte, »-sie hat gegen den Schlangendiener gekämpft, als wäre sie noch ein Yindarin, Gabriel. Wir haben es alle gesehen. Ich weiß um ihren Kampfstil, wie sie sich bewegt, und aus irgendeinem Grund erinnertest du mich stark an dein früheres Ich, Jennifer. Ich konnte einen Automatismus in deinen Bewegungen erkennen, sie waren gezielt, schnell und präzise. Viel zu gut für einen Menschen, und vor allem viel zu gut für einen Menschen wie dich. Missversteh mich nicht, aber ich weiß um deine - wie sagt ihr Menschen? Ach ja, um deine zwei linken Füße. Also, wo kam das plötzlich her? Und viel wichtiger: Kannst du das wiederholen?«
Gabriel nickte während Michaels Worten wie ein Trinkvogel. Doch weder am Anfang noch am Ende wusste ich eine Antwort, also zog ich nur hilflos die Schultern hoch und gab zu: »Ich - ich weiß es nicht. Es kam so plötzlich. Vielleicht ist das eine Art Muskelgedächtnis, oder so.«
Im Hintergrund öffnete sich die Tür und der Engel schlüpfte hinein, den Tharostyn eben rausgeschickt hatte. Er hielt eine Decke in der Hand, mit der er auf mich zueilte. Dankend nahm ich sie entgegen und schlang sie um mich. Wirklich helfen tat das nicht, aber es war besser als nichts.
»Auf alle Fälle sollten wir herausfinden, was dahintersteckt«, mischte Gabriel sich ernst ein und sah mich an. »Dafür wäre es gut, wenn du mich in meinem Labor in der Schweiz aufsuchen würdest. Ich bin sicher, dass wir dort einiges herausfinden können.«
Sofort schluckte ich, als ich an die Tests dachte, die Gabriel an mir durchgeführt hatte. Die meisten waren zwar reibungslos und gut verlaufen, doch eben nicht alle. Und da hatte ich Sekeera noch gehabt.
»Das hat ja wohl noch ein paar Tage Zeit. Sie ist ein Mensch, und das heute war ganz schön viel. Außerdem hat sie Schule, und ich bin nicht scharf drauf, von ihrem Menschenvater mit dem Schürhaken verprügelt zu werden«, wandte Nighton ruhig, aber entschieden ein. Fast musste ich grinsen, darüber, dass er meiner Schulausbildung so viel Gewicht beimaß. Vor allem jetzt, da ich offensichtlich doch nicht so menschlich war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Dieser Gedanke beflügelte mich fast.
»Schule!«, stieß Raphael ungläubig hervor und zeigte auf mich. »Was bist du, ihr Kindermädchen?«
Doch das ließ Nighton nicht auf sich sitzen.
»Noch so ein Spruch, Erzengel, und ich lasse zu, dass Sekeera die Kontrolle an sich reißt. Sie hat ohnehin noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, nach dem, was du letztes Jahr in Dun'Creld mit Jennifer veranstaltet hast. Und glaub mir, ich würde gern dabei zusehen!«, drohte er streitlustig, woraufhin Raphael feindselig den Kopf senkte. Er wollte wohl schon kontern, da räusperte sich Isara. Ihr Blick galt mir.
»Du solltest dich vielleicht hinlegen, du bist blass«, riet sie mir, gar keine Notiz von dem Konflikt zwischen Raphael und Nighton nehmend. Doch ich war ihr dankbar für den Einwurf und schaffte es gerade so, zu nicken. Nighton musterte mich besorgt, bevor er zustimmend sagte: »Da hat sie Recht.« Er schaute sich um. »Wäre das alles? Ich würde Jennifer gern nach London bringen.«
»Vorerst ja«, erwiderte Michael, der mich nachdenklich taxierte. »Der Rat muss sich ohnehin wegen einer Sache beratschlagen. Erhol dich, Jennifer Ascot.«
Ich schickte ihm ein schwaches Lächeln, dann ließ ich zu, dass Nighton mir einen Arm um die Schultern legte und mich aus dem Kartensaal führte. Ehrlich gesagt war ich heilfroh, nach Hause zu können. Ich sehnte mich nach Ruhe.
Die Kälte, der Regen, das Bad im eiskalten Meerwasser und der stete Wind hatten mir übel mitgespielt. Ich wurde ziemlich krank, fast noch mehr als meine Familie.
Schon als wir aus Oberstadt zurückkehrten und in London ankamen, merkte ich, dass sich etwas anbahnte. So verbrachte ich die nächsten Tage im Bett und schlief eigentlich nur. Nighton wich nicht von meiner Seite und zeigte sich unfassbar fürsorglich. Obwohl er nicht kochen konnte, machte er mir Suppe, er passte auf, dass ich genug trank, versorgte mich mit kalten Waschlappen und Kopfschmerztabletten, schaute am Mittwoch Horrorfilme mit mir, blieb nachts an meiner Seite und massierte mir auf klagende Nachfrage sogar die Füße. Kurz, es war die beste Grippe, die mich je erwischt hatte.
Anna war inzwischen wieder auf den Beinen, mein Dad leider nicht. Auch Tommy hatte es erwischt. Somit brachte Nighton Anna anstandslos jeden Morgen in die Grundschule und holte sie auch dort wieder ab. Nicht nur ich war ihm dankbar. Selbst mein Vater hatte sein Misstrauen Nighton gegenüber komplett aufgegeben und betonte in diesen Tagen sehr oft, wie erleichtert er war, dass wir Nighton hatten und was für ein 'guter Kerl' er doch sei.
Aber nicht alles war gut gelaufen. Freddie, mein kugeliger Quimchay-Freund, hatte nicht überlebt. Ich hatte seinen leblosen Körper in London im Badezimmer aus meiner Hosentasche gefischt, in der der Kleine Schutz gesucht haben musste. Beinahe wäre ich in Tränen ausgebrochen. Nighton versuchte, mich zu beruhigen und erklärte mir, dass Quimchays immer bloß einen Tag lang lebten und dass Freddies' wenigstens aufregend verlaufen war. Das war aber kein Trost für mich, schließlich hatte ich ihn sehr ins Herz geschlossen.
Nighton hatte Freddie am selben Abend noch im Schutz der Dunkelheit drüben im Hyde Park verbuddelt, während ich mit laufender Nase und in eine Wolldecke eingepackt am Wohnzimmerfenster stand und traurig zuschaute.
Tja. Was soll ich sagen. Und ab da lag ich bis Donnerstag nonstop im Bett und kämpfte mit der fettesten Grippe, die ich je erleiden musste. Nicht mal diesen Wahnsinnskuss konnte ich mit Nighton nachholen, so flach lag ich. Und das will schon was heißen, denn die Spannung, die der zwischen uns erzeugt hatte, war fast mit den Händen greifbar.
Schade, dass mir die Grippe im Weg war. Ansonsten ... na, wer weiß das schon?