In der Wohnung herrschte eine beklemmende Stille, die nur vom leisen Rauschen des Fernsehers im Wohnzimmer durchbrochen wurde. Die Luft war schwer von einer Mischung aus Alkohol und Schweiß – eine Geruchskombination, die mir unangenehm in die Nase drang. Auch Anna rümpfte die ihre sofort, während sie ihren Stoffhasen noch fester an sich drückte.
Wir fanden unseren Vater im Wohnzimmer. Dort saß er, eingeklemmt zwischen dem vollgestellten Wohnzimmertisch und dem einen Sofa, eine halb leere Flasche Whiskey in der Hand und den glasigen Blick auf ein paar Familienfotos gerichtet. Die Kontraste in diesem Raum – die liebevoll aufgestellten Bilder neben dem Chaos aus schmutzigem Geschirr und Müll – trieben mir die Tränen in die Augen. Zu meinem Schrecken hingen Kreuze an den Wänden, als würde Dad denken, sich damit schützen zu können. Doch das war nicht alles. Er hatte die Balkontür verrammelt und Zeitungspapiere vor die Fenster geklebt. In der einen Ecke des Zimmers entdeckte ich sogar eine Pistole, die auf einer offenen Munitionspackung lag.
Jede Faser in mir wollte wegrennen und heulen, aber ich durfte mich diesem Drang nicht ergeben. Nein, ich musste stark bleiben.
Mit zögernden Schritten ging ich auf ihn zu. »Dad?«, wisperte ich.
Sein Kopf schnellte hoch, und als er mich erblickte, schob er hektisch seine Brille naseaufwärts. Seine eingefallenen Wangen, der wirre Bart und die Alkoholfahne schlugen mir entgegen, doch ich ignorierte es und trat noch näher. Schwankend stemmte er sich hoch, stellte die Flasche klirrend auf den Wohnzimmertisch und taumelte auf mich zu. Ich konnte kaum atmen, als er mich in die Arme schloss. Der Gestank war überwältigend, aber trotzdem hielt ich ihn fest.
»All meine Kinder. Auf einem Haufen.« Er grinste traurig und streckte eine Hand nach Anna aus, aber sie wich zurück. Mein Dad ließ seine Hand traurig sinken. Sein Blick wanderte wieder zu mir.
»Du bist zurück«, flüsterte er. Tränen rannen über seine Wangen und versickerten in seinem Bart. Ich wollte etwas Tröstliches sagen, ihm versprechen, dass alles gut werden würde, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Stattdessen griff er sich plötzlich an den Kopf, als ob er einem Schmerz entkommen wollte.
»Vielleicht aber... vielleicht seid ihr auch Dämonen, die gekommen sind, um mich zu töten!« Die Worte kamen leise und verwirrt über seine Lippen, aber sie trafen uns alle wie ein Schlag.
»Nein, Dad, wir sind es«, mischte sich Thomas ein und ging langsam auf ihn zu. Mein Bruder, der sich bis eben im Hintergrund gehalten hatte, versuchte ruhig zu bleiben, aber ich konnte die Spannung in seiner Stimme hören. Anna, starr vor Angst, hielt sich an der Schiebetür zum Wohnzimmer fest, ihre kleinen Finger um den Hasen gekrallt, als wäre er der letzte Rest von Sicherheit in dieser kaputten Welt.
Da fiel mein Blick zufällig auf den Esstisch, und ich erstarrte. Ein ganzes Bündel Schlaftabletten lag dort, verstreut zwischen leeren Weinflaschen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir die schreckliche Bedeutung dieser Entdeckung klar wurde.
»Dad«, hauchte ich mit wackelnder Stimme und merkte, wie mir die Tränen über das Gesicht liefen. Ich zeigte auf den Tisch, als könnte ich die Realität mit einem Fingerzeig zurückdrängen. »Was hattest du damit vor?«
Sein Blick wanderte von mir zu den Pillen. Seine Augen erschienen dabei rot und leer. Er erklärte dünn: »Ich wollte es beenden, Jennifer. Sie sollten mich nicht kriegen. Und du warst weg. Ihr wart weg. Kein Grund mehr.« Seine Stimme war tonlos, und jeder Satz traf mich wie ein Peitschenhieb.
Das war zu viel.
Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, als jedes einzelne meiner Organe sich zusammenzog. Die Welt um mich herum verschwamm, und ich rannte aus der Wohnung, hinaus in den Flur, wo die Luft frischer, aber ebenso schwer war. Dort setzte ich mich neben die Tür, schnappte nach Luft und versuchte, nicht die Nerven zu verlieren. Nighton trat aus dem Schatten des Flurs heran, seine Augen auf mich richtend. Er blieb vor mir stehen, und sein Blick sagte mehr als Worte. Ich wusste, dass er alles mitangehört hatte.
»Und?«, fragte er leise. Bevor ich etwas sagen konnte, kamen auch Thomas und Anna aus der Wohnung, beide waren bleich und sichtlich betroffen. Anna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Siehst du«, murmelte Thomas tonlos, die Wohnungstür ein Stück heranziehend, »das meinten wir.«
Nighton sah zu mir runter. Ich spürte, wie meine Gedanken wirbelten und stammelte drauf los: »Ich... ich weiß nicht, das kommt mir so radikal vor. Ich...«
»Hast du eine bessere Idee?« Thomas' trauriger Blick traf mich, aber ich schüttelte matt den Kopf. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Strudel aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gefangen sein. Vielleicht war das die einzig Entscheidung, die wir hatten. EinTeil von mir hatte irgendwie drauf gehofft, dass es reichen würde, ihn nur die Dämonen vergessen zu lassen - doch spätestens, als ich die Tabletten auf dem Tisch gesehen hatte, war mir klargeworden, dass das keine Option war. Jedes Fünkchen Übernatürlichkeit könnte bewirken, dass Dad zurück in dieses Loch fallen würde ... und das wollte ich auf keinen Fall für ihn.
»Ich will mich aber noch verabschieden«, bat ich. Mit bebenden Schultern stand ich wieder auf und ging ich zurück in die Wohnung. Thomas und Anna blieben draußen, vielleicht hatten sie sich bereits verabschiedet oder konnten es einfach nicht. Nighton folgte mir ungefragt, seine Präsenz hinter mir gab mir wenigstens ein bisschen Kraft, als ich die Schwelle übertrat und dem Abgrund, der vor mir lag, entgegensah.
Mein Vater stand immer noch im Esszimmer. Sein Blick war auf die Tabletten gerichtet, als Nighton und ich eintraten. Doch als er uns sah, wich er zurück, und sein zitternder Finger zeigte auf Nighton. »Sie!«, ächzte er, von Angst überwältigt.
»Dad.« Ich stellte mich direkt vor ihn hin und lächelte ihn traurig an. »So kann es nicht weitergehen.« Meine Stimme brach fast, der Satz kostete mich mehr Kraft, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich sah, wie mein Vater fahrig nickte, sein Blick zuckte dabei verwirrt und verloren umher.
»Ja, vielleicht hast du Recht. Oh, ich muss doch eigentlich zur Agentur...« Er wollte an Nighton vorbeiwanken, aber der hielt ihn sanft auf, indem er ihn an den Schultern ergriff.
»Setzen Sie sich, James«, sagte er leise, aber bestimmt. Zu meiner Überraschung ließ mein Vater sich von Nighton auf einen Stuhl hinunterdrücken. Als er saß, wischte Dad sich über die Nase und sah mich mit einem vertrauten, liebvollen Lächeln an.
»Ich bin froh, dass du wieder da bist, mein Schatz. Jetzt wird wieder alles gut«, raunte er glücklich und drückte meine Hand. In diesem Moment brach ich in Tränen aus, und zugleich entwich mir ein Lachen – es war ein chaotisches Gemisch aus Freude und tiefem Schmerz.
»Ja, ich auch, Daddy. Es wird alles wieder gut, versprochen«, weinte ich. Ich wollte, dass meine Worte wie ein Versprechen klangen, wie ein Lichtstrahl in der persönlichen Dunkelheit meines Vaters.
Im Hintergrund bemerkte ich Bewegungen. Thomas trat mit Anna an der Hand heran. Nighton stellte sich hinter den Stuhl meines Vaters. Der hatte keine Ahnung, was gerade geschah; er lächelte einfach zufrieden und streckte die andere Hand nach Anna aus. Da legte Nighton alle zehn Finger sanft an die Stirn meines Vaters. Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. In dem Moment, als Nighton die Augen schloss und sich konzentrierte, ließ mein Dad meine Hand los – und ich begriff ganz tief in mir, dass das falsch war.
»Stopp!«, stieß ich hervor. Nighton hielt überrascht inne und sah zu mir. Wild den Kopf schüttelnd rief ich: »Das geht nicht, das können wir nicht machen! Ich will nicht, dass er uns vergisst. Lass ihn los, Nighton, bitte!«
Nighton wechselte einen Blick mit Thomas, und ich spürte, wie die Anspannung im Raum wuchs, als er seine Finger von den Schläfen meines Vaters nahm. Thomas öffnete den Mund, und ich wusste, er wollte mich umstimmen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen und schluchzte fast schon hysterisch: »Er ist unser Dad, Tommy, es muss einen anderen Weg geben!«
Die Unterlippe meines Bruders zitterte kurz, als er mit schwerer Stimme erwiderte: »Ich dachte, es wäre besprochen, Jennifer. Ich will nicht, dass Dad weiter so leiden muss.«
»Wenn man dich vor die Wahl stellen würde, würdest du lieber deine Kinder vergessen oder dich aus deinem Elend herauskämpfen?!« Meine Stimme wackelte bedenklich, aber ich gab mir Mühe, standhaft zu bleiben. »Wir können ihm helfen! Und wenn das bedeutet, dass er ab heute jede Sekunde bei mir sein muss, dann nehme ich das in Kauf. Ich lasse ihn nicht allein, ich passe auf ihn auf, bis er wieder er selbst ist! Verdammt, wenn ich für ihn in die Hölle gehen muss, dann mache ich das auch! Ich will ihn nicht verlieren, Tommy. Er soll nicht uns vergessen!«
Ich sah meinen Bruder eindringlich an. »Dad ist ein Kämpfer, er hat so viel durchgestanden. Denk nur an Mum! Er kann es schaffen. Aber nur, wenn wir ihm die Chance geben. Löscht sein Gedächtnis nicht... bitte. Ich werde alles tun, damit er wieder gesund wird. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren.« Mein Blick war hilfesuchend auf Nighton gerichtet, der eine ausdruckslose Miene aufgesetzt hatte. »Du siehst das doch auch so, oder?« Er wusste, worauf ich hinauswollte. Trotzdem holte er tief Luft und erwiderte emotionslos: »Ich mische mich da nicht ein, Jen. Das müsst ihr allein entscheiden. Aber so wie ich euren Vater kannte, war er schon immer sehr labil. Du weißt nicht, wann und wie schnell er das nächste Mal wieder in ein Loch fällt.«
Erschüttert antwortete ich: »Na und? Er ist depressiv und alkoholabhängi, aber was glaubt ihr eigentlich, wie viele Menschen das genauso erleben und trotzdem den Absprung schaffen? Die haben auch nicht die Wahl, ihre Erinnerungen auszulöschen, nur damit es vielleicht ein bisschen einfacher wird! Wir wissen nicht mal, ob es ihm ohne uns wirklich besser geht. Er ist ein Familienmensch, verdammt! Er braucht uns, Tommy! Bitte, er ist unser Dad. Er würde nie wollen, dass wir ihn aufgeben!«
Thomas' Gesicht verzog sich zu einer bitteren Maske, bevor er scharf zurückschoss: »Nein, stattdessen würde er sich lieber umbringen, um dieser übernatürlichen Scheiße zu entkommen, die du uns ins Haus geschleppt hast!«
Im Hintergrund machte Anna große Augen, ehe sie sich umdrehte und in den Flur rannte. Thomas schaute ihr hinterher, wollte sie zurückrufen, aber Nighton räusperte sich und grollte leise: »Hör auf, Thomas. Du machst deine Schwester gerade für etwas verantwortlich, das sie nicht kontrollieren kann. Wenn du wirklich glaubst, dass das hier ihre Schuld ist, dann hast du einfach gar nichts verstanden. Jennifer kämpft, genau wie euer Vater - und sie verdient deinen Respekt, nicht deinen Zorn.«
Ich starrte Thomas einfach nur verletzt an. Seine Worte hatten sich wie spitze Krallen in mein Herz gebohrt. Ich konnte nicht fassen, dass er in diesem Moment so hart zu mir sein konnte.
Allerdings schien mein Bruder sich schon auf die Zunge gebissen zu haben, denn er kam auf mich zu und umarmte mich. Im Flüsterton versicherte er: »Tut mir leid, das wollte ich nicht sagen, es ist nur alles so furchtbar. Ich will Dad doch auch nicht gehen lassen.«
Langsam hob ich die Arme an und umarmte Thomas ebenfalls.
»Dann lass es uns versuchen. Ein allerletztes Mal. Bitte, Thomas. Lass ihn uns wieder nach Suncliff bringen! Die haben ihn schon einmal hingekriegt«, wisperte ich in seine Schulter. Kurz verkrampfte er, dann schob er mich von sich, um mir ins Gesicht zu schauen.
»Also gut«, stimmte er schließlich zu, wenn auch sehr widerstrebend. Sein zögerliches Nicken fühlte sich wie ein kleiner Sieg an, aber ich wusste, dass der Weg noch steinig werden würde.
Ich wischte mir erleichtert über die Augen und schaute auf meinen zusammengesunkenen Vater, der sehr fest zu schlafen schien. Am besten wäre es wohl, ihn direkt dorthin zu bringen.
»Gut. Ich fahre«, erklärte ich direkt. Doch Thomas schien das anders zu sehen, denn er schüttelte den Kopf und entgegnete entschieden: »Nein, du hast Schule.« Er beugte sich zu Dad runter, um ihn aufzuwecken.
Empört riss ich den Mund auf und rief: »Was? Ist das dein Ernst?«
»Er hat Recht. Thomas und ich schaffen das auch allein, du musst nicht mitkommen«, sprang Nighton meinem Bruder bei. Nun galt meine Empörung auch ihm.
»Ich will aber mitkommen! Hört alle beide auf, über mich entscheiden zu wollen!«
»Verdammt, Jennifer!«, explodierte mein Bruder. »Und was ist mit dem, was Dad für dich wollte?! Nämlich, dass du weiter zur Schule gehst, egal was passiert?! Wenn er hier neben uns stehen würde und geistig klar wäre, wüsstest du, was er dir zu sagen hätte! Warum willst du unbedingt dabei sein? Wir fahren ihn doch nur in die Klinik! Nighton hat Recht, dafür brauchen wir dich nicht, und es reicht jetzt! Du hast doch deinen Willen bekommen!«
Ich schnappte nach Luft, bevor ich meinen Bruder anschrie: »Mein Wille? MEIN WILLE?! Ach, dann will nur ich, dass er weiterhin unser Dad bleibt, oder was? Weißt du was, Thomas, du kannst mich mal!«
Damit machte ich auf der Ferse kehrt und wollte davonstieben, aber Nighton hielt mich davon ab, indem er mich an meiner Jacke festhielt und zurückzog.
Gereizt entschied er: »Schluss, hört auf, alle beide. Das führt zu nichts. Jen, pack ein paar Sachen ein, du kannst nicht hierbleiben. Das gilt auch für dich und Anna, Thomas. Sobald ihr wieder hier seid, müsst ihr das Nötigste packen und woanders hingehen - am besten zurück zu eurer Grandma. Thomas, wir zwei bringen jetzt euren Vater ins Auto. Und danach fahren wir dich zur Schule, Jen, du hast da einiges zu klären. Auf jetzt.« Mit Leichtigkeit zog er meinen Vater in den aufrechten Stand und legte sich seinen linken Arm um die Schulter. Thomas tat es ihm auf der anderen Seite gleich, und zusammen zogen sie ihn aus dem Zimmer, als wäre er ein verwundeter Soldat.
Verärgert sah ich zu, wie sie ihn durch die Haustür ins Treppenhaus brachten.
Die Worte meines Bruders hallten in meinem Kopf nach, während ich in mein Zimmer lief. Dort ließ ich mich auf mein Bett sinken und fing an, furchtbar zu weinen. Warum war mein Leben so chaotisch, so ruhelos und voller Pech? Warum jagte eine Katastrophe die nächste? Und jetzt war ich für Thomas auch noch der Sündenbock, obwohl ich mir genauso sehr wie er wünschte, dass alles wieder gut werden würde.
Irgendwann versiegten meine Tränen, und ich rutschte vom Bett, um ein paar Sachen zusammenzusuchen – Kleidung, Kleinkram, Taschen und wichtige Dokumente. Plötzlich klopfte es leise, und Nighton trat ein. Er schloss die Tür hinter sich.
»Er ist im Auto«, verkündete er leise und ging neben mir in die Hocke. Ich saß gerade vor meinem Schreibtisch und sah die Schubladen durch.
»Danke.« Meine Stimme versagte.
Nighton sagte nichts, und das war auch besser so. Ich wollte nicht reden, nicht jetzt. Er half mir also stumm, ein paar Dinge zusammenzupacken. Als ich fertig war, verließ ich mit Nighton im Schlepptau mein Zimmer und ging nach vorne, ohne zurückzuschauen. Im Eingangsbereich warteten meine Geschwister. Ich mied jeden Blick auf meinen Bruder.
»Was ist mit der Wohnung?«, murmelte ich, während ich auf meine Füße starrte. Thomas schluckte.
»Um die kümmere ich mich. Damit Dad nicht wieder aus der Tür rückwärts rausfällt, wenn er zurückkommt.«
Ich schaute auf und sah, dass er versuchte, zu lächeln. Zaghaft lächelte ich zurück. Dann schloss ich kurz die Augen, nahm meine Sachen wieder an mich und ging als Erste aus der Wohnung. Das Gefühl, zu ersticken, wurde stärker, während ich den Raum hinter mir schloss, der so viele Erinnerungen in sich trug.
Es war sehr befremdlich, mit Anna, Thomas, Nighton und unserem tief schlafenden, fast komatösen Vater in einem Auto zu sitzen. Ich fühlte mich, als würde ich in einem Albtraum gefangen sein, und war erleichtert, als Nighton endlich vor meiner Schule hielt. Vorsichtig beugte ich mich zu meinem Dad und hauchte ein leises »Bis bald, Dad«, um ihn nicht zu wecken. Dann stieg ich aus. Ein Frösteln durchlief mich, und ich konnte nicht anders, als mich unwohl zu fühlen.
Thomas, Anna und Nighton stiegen ebenfalls aus, und ich warf einen nervösen Blick auf die Schule, die sich vor mir erhob, als wäre sie ein riesiges, unüberwindliches Hindernis.
»Was macht ihr, wenn Dad in Suncliff ist?«, fragte ich Thomas, der mit hängenden Schultern dastand, als würde er die Last der Welt auf seinem Rücken tragen.
»Ich denke, wir gehen vorerst weg aus London. Zurück zu Grandma. Zumindest, bis es Dad besser geht. Ich rufe dich an, wenn ich in der Gegend bin, um nach der Wohnung zu sehen.« Seine Stimme war schwer, und ich konnte die Traurigkeit in seinen Augen sehen. Anna nickte, ihre kleinen Hände in den Taschen ihrer Jacke vergrabend.
»Und was machst du, Jenny?«, wollte sie wissen und schaute mich wissbegierig an. Ich sah zu Nighton auf, und sein sanftes Lächeln war ein Anker in diesem Chaos.
»Tja, mal schauen, wo es uns hin verschlägt. Vielleicht zurück in mein Haus, wenn alles vorbei ist«, antwortete ich und strich Anna sanft ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Besuchen wir uns denn gegenseitig mal?«, fragte sie, und ich konnte nicht anders, als traurig aufzulachen. »Worauf du wetten kannst, Annie.«
Ich drückte erst Anna fest an mich, spürte ihren kleinen Körper zitternd in meinen Armen, dann umarmte ich auch Thomas. Er hielt mich einen Moment länger fest, als ich erwartet hatte, fast so, als könnte er mich nicht mehr loslassen. Als er sich schließlich von mir löste, klang seine Stimme rau und belegt: »Du weißt genau, was Dad sagen würde, wenn du jetzt die Schule schmeißt... also versprich mir, dass du weitermachst!« Seine Augen glänzten leicht, und er schluckte schwer, bevor er hinzufügte: »Ich will mich am Ende auf deinem Abschlussball besaufen, klar?«
Ein Lächeln kämpfte sich auf mein Gesicht, auch wenn die Tränen drohten, wiederzukommen. »Sieh du erst mal zu, dass du dein Studium fertigkriegst! Und dass Anna ihre Hausaufgaben macht!«
Thomas grinste, doch sein Blick wurde ernst, als er zu Nighton sah. »Lass uns fahren.«
Nighton nickte. »Steigt schon mal ein.«
Als die beiden im Wagen saßen, wandte er sich wieder mir zu. Sein liebes Lächeln ließ mein Herz einen Schlag aussetzen, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht sofort wieder zu weinen. Es war so seltsam, so tröstlich, zu wissen, dass dieser Mann jetzt zu mir gehörte.
»Schreib mir, wenn ihr Dad eingeliefert habt, ja?«, bat ich, während ich mir auf die Unterlippe biss, um die aufkeimenden Tränen zurückzuhalten. Nighton nickte und strich mir sanft über die Wange. Allein seine Berührung ließ ein wenig Licht in die Dunkelheit meines Herzens scheinen, und ich schaffte es, ihn ehrlich anzulächeln.
»Alles wird gut, Jennifer«, murmelte Nighton, bevor er sich vorbeugte und mich küsste. Der Kuss war warm und voller Zuneigung, und als er sich von mir löste, fühlte ich mich ein kleines bisschen stärker.
Er lief zurück zum Auto und öffnete die Tür, hielt aber noch einmal inne, um mich über das Autodach hinweg anzusehen.
»Ich werde gleich Sam anrufen, dass er auf dich aufpasst. Er sollte gleich da sein, ja? So lange warte ich hier am Bordstein.«
Ich nickte, und sein letztes Lächeln war wie ein Versprechen, das mir half, durchzuhalten. Kaum zwanzig Sekunden waren vergangen, da tauchte Sam neben mir auf und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Ich versuchte, es zu erwidern, was mir schwerfiel. Keinen Augenblick später rollte das Auto vor uns los. Ich sah ihm nach, bis er aus meinem Sichtfeld verschwand, und ein schwerer Atemzug entglitt mir. Tief in mir wusste ich trotzdem, dass es das Richtige gewesen war.
Tief Luft holend drehte ich mich zu meinem Schulgebäude um, das mich aus all seinen Fenstern fast anklagend anzustarren schien.
Na. Dann mal los.