Nighton schickte mich zuerst hinunter in den Keller, um mich umzuziehen.
Ich folgte seiner Aufforderung nur widerwillig, schleppte mich fast, und jeder Schritt kam mir wie eine kleine Kapitulation vor. Als ich schließlich zurückkam, warteten alle bereits und schauten in meine Richtung. Nighton stand mitten auf den Matten und erwartete mich mit einem Blick, der keine Widerrede duldete. Noch bevor ich bei ihm war, packte er mich an den Schultern und schob mich rückwärts zum anderen Ende des Trainingsbereichs. Seine Hände waren fest, sein Griff unverrückbar – als wäre es völlig selbstverständlich, mich einfach so zu dirigieren.
Kaum abgestellt, lief er zu seinem Platz zurück und drehte sich mit einem festen Stand zu mir um. Er musterte mich einen Moment und ballte die Hände zu Fäusten, sodass die Adern an seinen Unterarmen hervortraten. Meine Beine wurden weich. Warum hatte ich gestern nicht einfach den Mund gehalten?
Ich schluckte.
Hilfe?
»Bevor wir richtig loslegen«, begann Nighton ruhig, »zeige ich dir eine Attacke, die für Notfälle gedacht ist. Es ist wichtig, dass du sie schnell lernst.«
Er winkte mich zu sich heran. »Wir gehen jetzt mal davon aus, dass ich dich noch nicht gewittert habe. Also komm her.«
Meine vier Zuschauer reckten die Hälse und sahen neugierig, fast schon genüsslich zu. Ich spürte ihre Blicke im Nacken, und jeder Schritt, den ich machte, kam mir langsamer vor als der letzte. Das erinnerte mich so sehr an die Trainingsstunden damals, als er kein Mitleid zeigte und jede meiner Schwächen gnadenlos bloßlegte. Jetzt fehlte nur noch, dass er die Augen verdrehte und mir vorwarf, ich würde schlendern – doch stattdessen wartete er regungslos, bis ich direkt vor ihm stand und zu ihm aufsah.
Er deutete auf den Boden und seine Stimme war fast leise, aber mit einem Unterton, der durchdrang. »Und genau das hier ist die Position, in der du dich niemals befinden darfst. Vor deinem Gegner. Du bist schwach, klein, ein Mensch. Dir fehlt die Kraft. Deine einzige Chance liegt im Überraschungsmoment.« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Deswegen greifst du niemals frontal an. Immer nur von der Seite, idealerweise von hinten oder von oben.«
Noch während er sprach, streckte er die Hand nach Penny aus, die sich zu dem Bettlaken herunterbeugte und ein Messer aufhob. Sie warf es ihm zu, und ohne auch nur hinzusehen, fing er es geschickt auf. Ich spürte mein Herz ein wenig schneller schlagen, als er sich mit dem Messer zu mir drehte, es kurz betrachtete und dann den Rücken zu mir wandte.
»Du kämpfst niemals ohne Waffen«, erklärte er ruhig, als würde er mir eine Lebensweisheit vermitteln, »„ohne bist du machtlos. Jetzt stell dir vor, dieses Messer wäre aus Vekhansilberstahl, und ich wäre ein beseelter Dämon.« Er deutete auf eine Stelle an seiner seitlichen Flanke, direkt unterhalb des Rippenbogens, und drehte das Messer so, dass die Klinge in einem leichten Winkel zur Wirbelsäule zeigte. »Du zielst hierhin und stichst mit ganzer Kraft zu. Die Klinge muss schräg und tief genug eindringen, um die Nierenarterie zu erreichen.«
Er drehte sich wieder zu mir um und beugte sich leicht vor, dann stach er mir mit dem Finger in die entsprechende Stelle an meiner Seite, dicht an der Flanke. Ich zuckte zurück, und sein Blick veränderte sich für einen Moment – es lag etwas Prüfendes, beinahe Belustigtes darin, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich zusammenzucke.
»Warum dahin?«, fragte ich und griff nach der Stelle, in die er vor einer Sekunde noch seine Finger gedrückt hatte.
Nighton erklärte: »Dort gelangst du an die Nierenarterie, und das macht die Stelle besonders empfindlich. Für dich ist sie die am leichtesten und am wahrscheinlichsten zu treffende Ader, und wenn du sie erwischst, wirst du deinen Gegner massiv schwächen. Er wird stark bluten, und die Verletzung ist schwer zu versorgen, besonders in diesem Bereich der Flanke. Die meisten Dämonen haben nie gelernt, sich selbst zu heilen.«
Ich nickte leicht, aber meine Zweifel blieben. »Hm«, brummte ich unsicher und schob schnell hinterher: »Aber auch wenn ich sie treffe, ist mein Gegner ja nicht sofort tot und könnte mich immer noch umbringen.«
Ein Hauch von Bestätigung huschte über Nightons Gesicht, als hätte er genau auf diese Frage gewartet. »Und das ist genau der Grund, warum du dich so weit wie möglich von allen Dämonen fernhalten solltest. In den Nahkampf gehst du nur im absoluten Notfall. Ansonsten–«, er streckte erneut die Hand nach Penny aus, die ihm diesmal einen Bolzen zuwarf, »-wirst du auf den kommenden Missionen ausschließlich im Fernkampf agieren und dich im Hintergrund halten. Ich will dich auf keinen Fall mitten im Getümmel sehen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch und starrte ihn an. »Fernkampf?«, wiederholte ich irritiert. »Pfeil und Bogen? Wie dieser blonde, langhaarige Kerl da aus dem Film, wo die versuchen, einen Ring-«
»Du meinst wohl Legolas Grünblatt, und nein, um so gut wie der zu werden, müsstest du schon ein Elb sein und Jahrtausende - was denn?« Sam, der mir ins Wort gefallen war, wurde von allen verständnislos angeschaut. Daraufhin stieß er ein resigniertes Seufzen aus und murmelte etwas von »Kulturbanausen.«
Ich sah wieder zu Nighton hoch und fuhr unbegeistert fort: »Ich habe noch nie in meinem Leben damit geschossen. Kann ich nicht eine Knarre oder sowas haben?«
»Nein«, erwiderte Nighton knapp und reichte mir den Bolzen. Er lag schwer in meiner Hand, kälter als erwartet, und ich spürte die unmissverständliche Botschaft, die in seinem Gewicht lag. »Und nein, wir machen keinen Legolas aus dir.« Sein Blick ruckte kurz zu Sam, der nur einen Flunsch zog. »Für Schusswaffen gibt es keine Munition, die einen Dämon mit einem Schuss töten kann. Jedenfalls keine Bekannte. Du–« Er drehte sich erneut zu Penny um, die ihm eine kompakte Armbrust aus Metall und dunklem Holz reichte. Scheinbar spielte sie heute seine Assistentin.
»–wirst lernen, mit diesem Ding hier umzugehen. Schnell, präzise, und tödlich. Vergiss Pfeil und Bogen.«
»Uh«, machte Gil da und grinste sich einen ab. »Jetzt scheint es zur Sache zu gehen. Mal schauen, wie sie mit dem Ding umgeht. Einen Fünfer, dass sie ihn trifft.« Evelyn kicherte. Nighton blendete die beiden aus und legte mir die Armbrust in die freie Hand, und ich spürte das überraschende Gewicht des kalten Metalls und der geschliffenen Holzkonstruktion. Die Waffe lag unbequem schwer in meiner Hand. Mit einem ungläubigen Blick musterte ich das Gerät, dann sah ich zu Nighton hoch.
»Also, ich soll mich irgendwo verstecken und aus der Deckung heraus Bolzen auf Dämonen schießen?« Ein wenig Zynismus konnte ich mir nicht verkneifen, und es war ihm wohl auch nicht entgangen, denn er legte den Kopf schief und stemmte die Hände in die Hüften.
»Was hast du denn erwartet?«, spottete Nighton mit einem schiefen Lächeln, das seinen Worten die Spitze nahm. »Du hast Angst, dich im Training zu verletzen, aber willst mit einem Morgenstern bewaffnet in Gegnerhorden rennen, oder wie?«
Ich öffnete den Mund, doch mir fiel tatsächlich nichts ein. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir über solche Details bisher kaum Gedanken gemacht. Irgendwo abseits stehen? Der Gedanke widerstrebte mir – warum also sollte ich das jetzt akzeptieren?
Die anderen fingen an zu kichern, was Nighton mit einem mahnenden Blick unterband. Dann begann er langsam um mich herumzulaufen, seinen Blick fest auf mich gerichtet. »Als ich dich damals unterwiesen habe, sagte ich dir, dass dein Erscheinungsbild täuscht. Gewissermaßen ist das immer noch so, und das können wir uns zunutze machen – nur eben auf andere Art als damals.«
Verwirrt legte ich den Kopf schief und blickte über die Schulter zu ihm, aber er stand plötzlich dicht hinter mir und senkte den Kopf, bis seine Nase fast meine Halsbeuge berührte. Ein kühler Luftzug streifte meine Haut, und mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken, als mir klar wurde, dass er an mir roch. Gänsehaut kroch über meinen Nacken.
»Hey, was wird das denn jetzt? Ich dachte, du vermöbelst sie! Bei eurer Paarung will ich auf gar keinen Fall zuschauen!«, scholl Evelyns vorlaute Stimme durch den Raum, die mich zusammenzucken ließ und mich dazu brachte, einen Schritt von Nighton zurückzutreten.
»Evelyn!«, empörte sich Penny. »Sowas sagt man doch nicht!«
»Aber sie hat Recht!«, verteidigte Gil Evelyn achselzuckend, die nur wild nickte und ihm die Hand zum Einschlagen hinhielt.
»Kann ich jetzt gehen? Meine Gilde raidet gerade, und ohne mich können die nichts!«, nörgelte Sam und schien ebenso wenig mit der Gesprächsrichtung zufrieden.
»Es reicht jetzt!«, fuhr Nighton die vier scharf an. »Entweder seid ihr still oder ihr geht. Ich muss mich konzentrieren, und ihr stört.«
Eine angespannt unangenehme Ruhe kehrte ein, die Nighton dafür nutzte, um sein Schnüffeln an mir zu erklären. Er trat vor mich, strich mir mein Haar hinter die Ohren und sagte: »Du riechst anders als Dämonen und Engel. Du riechst wie ein Mensch. Vor allem die unbeseelten Dämonen kennen den Geruch nicht – dadurch fällst du weniger auf. Und hier auf der Erde…« Er hielt kurz inne, bevor er fast beiläufig fortfuhr: »…st… riecht es ohnehin überall nach Menschen«
»Moment mal!«, platzte es entrüstet aus mir heraus. »Wolltest du gerade etwa sagen, dass ich stinke?!«
»Und wie«, murmelte Evelyn und grinste in sich hinein. Niemand schenkte ihr Beachtung, am allerwenigsten Nighton, der nur seufzend den Kopf schüttelte.
»Nein«, beschwichtigte er mich, »du riechst gut, so meinte ich das nicht. Aber der Menschengeruch ist eigen - wie soll ich sagen...«
»Rostig?«, schlug Penny vor, und Nighton nickte ihr zu.
»Ja, das passt. Ihr Menschen riecht alle ein bisschen nach Rost, nach Blut, wenn man so will. Es ist kaum wahrnehmbar, nur wenn man sich darauf konzentriert. Engel meinen, nach Mondblumen zu duften, während Dämonen eher einen schwefligen Geruch hinterlassen.« Er zog bei seinen Worten eine Augenbraue hoch. Im Hintergrund runzelte Penny die Stirn und schnupperte an ihrem Arm, während Evelyn abfällig aufschnaubte.
»Ich finde, ihr stinkt alle«, meinte sie, »vor allem unser Yindarin – und zwar nach überschüssigem Testosteron.«
Nighton hielt inne. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Bevor ich überhaupt begriff, was geschah, hatte er mir die Armbrust entwendet, den Bolzen eingelegt, sie gespannt – und zielte auf Evelyn. Im letzten Augenblick reagierte sie und hechtete mit einem Fluch hinter das Sofa. Der Bolzen blieb zitternd in der Rückenlehne stecken, und Evelyn keuchte erschrocken auf.
»Du hast auf mich geschossen, du Arsch!«, schrie sie, die Wut in ihrer Stimme kaum kontrolliert. Gil gluckste und hüpfte auf die Couch. »Platz für mich!«, rief er.
Nighton zog die Brauen hoch und ließ seinen Blick kühl über Evelyn gleiten. »Oh ja. Und wenn du mir weiter auf die Nerven gehst, findest du den nächsten Bolzen zwischen deinen Augen. Jetzt verschwinde, deine Wachschicht beginnt gleich. Los!« Er ruckte mit dem Kopf in Richtung des Kirchendachs, sein Blick scharf und drohend.
Evelyn warf ihm giftige Blicke zu und zog wütend an den Ärmeln ihres Pullovers. »Irgendwann, du Pisser-«
Noch bevor sie den Satz beenden konnte, trat Nighton mit einem provokanten Schritt auf sie zu. Evelyns Reaktion war reflexartig; sie sprang instinktiv zurück, was ihn sichtlich amüsierte. Mit funkelnden Augen und einem bedrohlichen Grinsen grollte er: »Willst du mir wirklich drohen? Komm doch her und wir zeigen Jennifer, wie schön das Geräusch deiner brechenden Wirbelsäule klingt. Wie lange hat’s das letzte Mal mit der Heilung gedauert? Acht Tage? Oder waren es neun?«
Evelyn ging in Lauerstellung und fauchte ihn an. Dabei klappte ihr Kiefer so weit auf, dass sich ihre Knochenstruktur abzeichnete und ihr Gesicht sich in eine animalische Grimasse verwandelte. Ein bedrohliches Knacken lag in der Luft, und ich erkannte das Flackern in ihren blutroten Augen.
»Evelyn, nicht!«, rief Penny entsetzt und sprang von der Couch auf. Gil beugte sich über den frei gewordenen Platz zu Sam und flüsterte ihm etwas zu, was Sam zum Lachen brachte, doch ich verstand es nicht, denn da packte Nighton mich schon und schob mich mit aus der Schusslinie. Mit leicht ausgebreiteten Armen trat er provozierend auf Evelyn zu, sein Lächeln breit und höhnisch. »Na dann, Evelyn, komm her. Unser letztes Training ist viel zu lange her«, rief er ihr zu und grinste, als er ihren angriffslustigen Blick auffing.
Evelyns Augen glühten zornig, und nach einem letzten hasserfüllten Blick wirbelte sie herum und stob in einem Windstoß aus der Kirche. Ein Schwall kühler Luft durchfuhr das Mittelschiff und trieb Laub auf, das sich am Boden kringelte. Nighton blieb seelenruhig stehen, sah mit funkelnden Augen zur Decke und rief ihr gereizt hinterher: »Das habe ich gehört!«
Dann kam er zu mir zurück, und ich sah, wie Penny unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Es schien, als würde sie etwas sagen wollen, ihre Lippen öffneten sich mehrmals, bis es schließlich aus ihr herausplatzte: »Du hättest sie nicht so provozieren müssen!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten, als Nighton ihr seinen kühlen Blick zuwandte, so durchdringend, dass sogar Sam von seinem Gameboy aufsah und zwischen den beiden hin und her schaute, mit einem beinahe warnenden Ausdruck in den Augen. Auch Gil hielt die Luft an.
Noch bevor Nighton den Mund öffnen konnte, reichte es mir. Ich schob mich zwischen ihn und Penny und zog an seiner Hand. »Ist doch gut jetzt. Lass uns weitermachen«, bat ich, die Anspannung ignorierend und ihn aufmunternd ansehend. Seine Lippen zuckten kurz, dann ließ er sich von mir leiten, schickte Penny einen letzten Blick, die sich wieder hinsetzte, und räusperte sich vernehmlich, bevor er sich mit einem schwachen Lächeln mir zuwandte.
»Wo waren wir? Ach ja. Gerüche.« Nighton runzelte die Stirn und sah mich nachdenklich an. »Das kann praktisch sein, wenn wir uns in Gebiete wagen, in denen sich unbeseelte Dämonen aufhalten. Sie werden dich wittern, aber dein Geruch wird nicht bedrohlich wirken, weil er eine leichte Blutnote trägt. Trotzdem solltest du ihnen weder zu nah kommen noch riskieren, dass sie dich sehen. Aber genau deshalb wirst du ab jetzt die hier benutzen.«
Er gab mir die Armbrust zurück und richtete sich in voller Größe auf, die Hände in die Seiten gestemmt. »Ich nehme dich erst dann als vollwertiges Mitglied auf Missionen mit, wenn du es schaffst, diese Armbrust in maximal fünf Sekunden zu spannen.«
»Fünf Sekunden?«, wiederholte Gil erstaunt. »Hast du dir mal ihre Arme angeschaut? Mit welchen Muskeln soll sie das denn schaffen?«
»Habe ich. Eingehend sogar. Und es bleibt bei fünf Sekunden«, erwiderte Nighton und nickte mir zu.
Ich prustete los und winkte ab. »Dann seht mal zu!«
Selbstsicher stellte ich die Armbrust ab und griff nach dem Hebel, um die Sehne zu spannen. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Mit aller Kraft zog und zerrte ich, während sich langsam ein brennendes Gefühl in meinen Armen ausbreitete. Schließlich, nach schweißtreibendem Gerangel, konnte ich den Hebel mit meinem ganzen Gewicht langsam nach oben drücken, bis er mit einem metallischen Klacken einrastete. Keuchend starrte ich auf die Waffe zu meinen Füßen. Das hatte ich gründlich unterschätzt.
Nighton sah mit verschränkten Armen auf mich hinab, die Augenbraue spöttisch angehoben. Die Röte stieg mir ins Gesicht, und ich hätte meine Menschlichkeit in diesem Moment verfluchen können.
»Na gut, vielleicht brauche ich auch zehn Sekunden«, murmelte ich missmutig.
»Sagen wir, stabile vierzig Sekunden.« Der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Ich stöhnte auf und hob die Armbrust wieder hoch. Fast weinerlich fragte ich: »Wie soll das bitte in fünf Sekunden gehen?! Ich bin ein Mensch, ich bin ein Mädchen, ich habe noch nie Krafttraining gemacht!«
»Was hat das damit zu tun, dass du ein Mädchen bist?«, entgegnete Nighton trocken und zog eine Augenbraue höher. »Und doch, das geht in fünf Sekunden. Auch für dich.« Er tippte mir mit einem Grinsen links und rechts gegen die Oberarme. »Deswegen musst du die hier trainieren.«
Die Begeisterung muss mir ins Gesicht geschrieben gewesen sein, denn er fing an zu grinsen. »Ohne wird’s schwierig. Aber keine Sorge, das kriegst du schon hin. Jetzt will ich erst mal sehen, wie du schießt. Stell dich hierhin.« Er legte mir die Hände auf die Schultern und bugsierte mich so, dass ich mit dem Rücken zu Penny, Gil und Sam und dem Gesicht zu den Zielscheiben stand. Nighton holte den Bolzen, kehrte zurück und reichte ihn mir. Dann stellte er sich dicht neben mich.
»Jetzt heb die Armbrust an. Für den Moment kannst du beide Hände benutzen, später wirst du es mit einer schaffen. Halte die Hände ruhig. Rücken gerade. Arm weiter hoch.«
Er drückte meinen rechten Ellbogen nach oben, und ich spürte, wie mein Gesicht warm wurde.
»Schau am Lauf entlang zum Ziel«, sagte er leise. »Und wenn du das Gefühl hast, dass du...«
Ich drückte versehentlich ab. Noch im selben Moment erschrak ich über meine vorschnelle Reaktion und riss die Armbrust reflexartig nach links. Mit einem metallischen Knall schnellte der Draht nach vorne, und der Bolzen schoss mit voller Wucht mitten in die Buntglas-Wandlampe zwischen den beiden Beichtstühlen. Glassplitter flogen in alle Richtungen.
»Das sind fünf Pfund für mich!«, jubelte Sam im Hintergrund.
»Ups«, murmelte ich zerknirscht und warf Nighton einen unsicheren Blick zu. Er zog langsam und tief Luft ein, bevor er sie langsam ausstieß.
»Macht nichts. Jason wird’s überleben«, seufzte er und nahm mir die Armbrust ab, um sie an Penny zurückzugeben. Dann wandte er sich mit ernster Miene wieder zu mir.
»„Du wirst das ab jetzt täglich üben. Vielleicht lieber nicht an Jasons Lampen.« Er grinste. »Aber stell sicher, dass du es mindestens ein bis zwei Stunden am Tag machst. Dazu musst du Armmuskulatur aufbauen.« Er hob ein langes, grünes Gummiband hoch und hielt es mir entgegen. »Das machst du mit dreimal zwölf Dips und dreimal zwölf Zügen mit diesem Gummiband hier. Ich montiere es später an deinem Bettpfosten.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Ja, war ich denn in einem Fitnessstudio?!
»Aber ich hasse Krafttraining! Joggen, okay, aber sowas?!«, entfuhr es mir, während ich die Arme verschränkte.
Nighton zuckte nur mit den Schultern. »Nicht mein Problem. Du willst ein produktives Mitglied werden und mit auf Dämonenjagd gehen? Dann werde stärker. Du wirst nicht immer so ein Glück haben wie in vor ein paar Wochen in Unterstadt.«
»Wir machen auch mit, stimmt’s, Sam?«, warf Penny ein und beugte sich vor, um an Gil vorbei auf Sam zu sehen, der nur grummelte und in ihre Richtung schielte. Ich wimmerte leise und sah ein, dass ich keinen anderen Weg hatte, wenn ich wirklich stärker werden wollte. Seufzend gab ich mich geschlagen. Nighton nickte zufrieden, als er mein Einlenken bemerkte, und warf Penny das Gummiband zu.
»Gut. Dann kommt jetzt der unangenehme Teil.«
Besorgt hob ich den Kopf an. »Unangenehmer Teil?«
Nighton entfernte sich ein gutes Stück von mir, bevor er sich umdrehte. Noch einmal ließ er seine Halswirbel knacken, seine Bewegungen ruhig und bedrohlich zugleich. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, dann verkündete er: »Wir gehen in den Nahkampf. Ich werde dich jetzt angreifen, Jen. Wenn wir in Position sind, zeige ich dir, wie du dich wieder befreien kannst. Bleib ganz locker.«
Mein Mund wurde augenblicklich trocken. Ich warf einen schnellen Blick zu Penny und Sam. Penny hatte sich gespannt nach vorne gebeugt, ihre Augen leuchteten neugierig, während Sam immer noch in sein Gameboy vertieft war. Auch Gil sah uns interessiert zu.
»O-okay«, stammelte ich und machte unbewusst einen Schritt zurück. Doch ich hatte kaum Luft geholt, als ich plötzlich gegen den harten Beichtstuhl gepresst wurde, Nightons Hand lag fest an meiner Kehle. Mein Herzschlag explodierte. Eine Welle roher, haltloser Panik ergriff mich – sie war so tief und überwältigend, dass ich nur noch das Bedürfnis hatte, mich zu befreien.
In einem grellen Blitz tauchte Dorzars Gesicht vor meinem inneren Auge auf.
Ich schnappte nach Luft, mein ganzer Körper schrie nach Flucht, und ich begann heftig gegen Nightons Griff anzukämpfen. Die Panik machte mich stärker, als ich es selbst erwartet hatte. Er wirkte einen Moment überrascht von meiner plötzlichen Gegenwehr und ließ mich dann abrupt los, als hätte ihn etwas gestochen.
»Habe ich dir wehgetan?«, fragte er erschrocken. Ich taumelte zur Seite, bemühte mich um Abstand und kämpfte darum, meinen Atem zu beruhigen. Die Minuten verstrichen, bis mein Herzschlag allmählich langsamer wurde und ich wieder Worte fand. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie sich Penny und Sam verwunderte Blicke zuwarfen.
»Es ist… es ist wegen D-Dorzar«, flüsterte ich schließlich mit brüchiger Stimme, während die Tränen in meinen Augen brannten. Ich hörte, wie Nighton scharf Luft einsog, und für einen Moment herrschte nur tiefe Stille.
»Das… das habe ich nicht bedacht.« Er klang plötzlich ganz anders, gedämpft und tief getroffen. Er trat vorsichtig einen Schritt näher, sein Blick ernst und voll Verständnis. Ohne seinen Blick von mir zu lösen, befahl er ruhig an die anderen gewandt: »Geht bitte. Gebt uns einen Moment.«
Ohne zu zögern erhoben sich die drei und verließen die Kirche, und ich spürte die Last ihrer Blicke, bis sie verschwunden waren. Dann stand Nighton wieder vor mir, und er zögerte keinen Moment, mich in seine Arme zu ziehen. Ich ließ es zu, lehnte mich an ihn, und obwohl ich die Tränen unterdrücken konnte, fühlte ich mich furchtbar – furchtbar schwach und schutzlos.
»Es tut mir leid«, wisperte er und strich mir sanft und beruhigend über den Rücken. »Ich wollte nichts in dir auslösen.«
»Schon gut«, flüsterte ich und schniefte einmal. Ich drückte mein Ohr gegen seine Brust und lauschte seinem ruhigen Herzschlag, der mich nach einigen Momenten allmählich wieder einfing, mein Zittern beruhigte und mich ein Stück weit zurückholte. Schließlich löste ich mich vorsichtig von ihm und traf auf seinen schuldbewussten Blick.
»Es ist schon in Ordnung«, versicherte ich ihm und zwang mich zu einem Lächeln, das ihn aber offensichtlich nicht wirklich überzeugte. Dann bat ich ihn, für heute aufzuhören. Ich musste erst wieder zu mir finden und die Gedanken ordnen, die Dorzar so abrupt in mir wachgerufen hatte.