Aber das konnte und wollte ich nicht akzeptieren.
Nighton fassungslos anstarrend, wich ich langsam von ihm zurück. Er warf die Hände in die Luft, ehe er sich abwandte und nun selbst auf den rauen Ozean blickte. Wie betäubt sank ich auf die Knie. Weit unten hörte ich die Gischt an das Gestein branden.
Penny - nein.
Doch als hätte das Schicksal das auch nicht wahrhaben wollen, durchbrach in diesem Moment etwas hinter mir die Wasseroberfläche. Sofort sprang ich auf und wirbelte herum. Einer dieser Riesenfische trieb bäuchlings auf dem Wasser und gab einen tiefen Laut von sich, der mir bis ins Mark drang. Er schien tot zu sein, jedenfalls sprach seine Rückenlage dafür. Ich konnte mitansehen, wie sein Leib sich aufzublähen begann, immer mehr und mehr. Nighton trat einige Schritte vom Abgrund zurück und hielt schützend einen Arm vor mich. Ich jedoch schob seinen Arm beiseite.
»Was passiert da?«, fragte ich voller Hoffnung und versuchte, etwas zu erkennen.
»Runter!«, rief Nighton und riss mich mit sich zu Boden. Ich landete hart und stieß mir diesmal das Kinn, da meine Reflexe wie ausgeschaltet waren. Eine Sekunde später verstand ich, wieso Nighton das getan hatte: Ein ohrenbetäubend lauter Knall erklang und Fischinnereien flogen durch die Gegend wie Schrotkugeln.
Ich wagte, den Kopf anzuheben und über den Rand der Plattform zu spähen. Inmitten der rauen und von Fetzen besprenkelten See stand eine schwankende Penny auf einem türgroßen Stück Fischhaut, über und über von Gedärmen bedeckt und triefend vor Dämonenschleim. Durch den Dreck hindurch aber glühten ihre Augen in einem hellen Bernstein und ich konnte sehen, wie gleißendes Licht ihre Flügel umspielte, die sich in diesem Moment wieder zusammenfalteten und verschwanden.
Befreit lachte ich auf und rief nach Penny, ehe ich ihr wild winkte. Penny winkte zurück, dann sprang sie ins Wasser und tauchte wenige Sekunden später am Fuß des Felsens auf, weitestgehend von Schmutz befreit. Zum Glück hatte kein weiterer Fisch seine Chance nutzen wollen!
Wie ein Äffchen kletterte sie den Felsen zu uns hoch, wo ich sie mit einer innigen Umarmung empfing. Ich war heilfroh, meine Freundin wieder zu haben.
»Ich hatte solche Angst um dich!«, wisperte ich in Pennys Braids. Sie drückte mich nur noch fester und entgegnete halb lachend, halb nach Luft ringend: »Also, um mich loszuwerden, bedarf es schon mehr als einem Glynwyd.«
Im Hintergrund hörte ich, wie Nighton sich räusperte. Ich warf ihm einen dunklen Blick zu und ließ Penny los, die zu Nighton aufsah.
»Starke Leistung. Schafft nicht jeder, eine Begegnung mit einem von denen zu überleben«, murmelte er fast etwas betreten, als würde er sich schlecht fühlen. Das bestätigte er auch im Folgenden, als er hinzufügte: »Tut mir leid, dass ich dir nicht zuhilfe gekommen bin, aber-«
»Schon gut, an deiner Stelle hätte ich nicht anders gehandelt«, fiel Penny ihm beschwichtigend ins Wort. Nighton schloss den Mund und rang sich ein gequältes Lächeln ab, ehe er aus seiner Jacke schlüpfte und sie der pitschnassen Penny hinhielt. Ich hingegen verschränkte die Arme, ihn nach wie vor vorwurfsvoll ansehend. Penny entging das nicht. Die Jacke dankend annehmend nahm sie Nighton in Schutz.
»Nighton hatte keine Wahl. Du brauchst nicht böse auf ihn zu sein, ich bin es ja auch nicht.«
Grummelnd senkte ich den Blick. Vielleicht hatte sie Recht. Aber wie auch immer - ich wollte unbedingt wissen, wie sie das geschafft hatte.
»Wie hast du das gemacht?!«, platzte es aus mir heraus. Penny setzte ein aufgeregtes Lächeln auf und erklärte übersprudelnd: »Ich habe die Schwimmblase des Glynwyd zerstört und ihn mithilfe von mentaler Kontrolle gezwungen, aufzutauchen. Und damit-«, sie präsentierte uns ein silbernes Messer, das in einer Halterung an ihrem Gürtel steckte, »-habe ich ihm den Rest gegeben.«
»Wirklich ziemlich gut«, lobte Nighton. »Dann waren mein Gerede und euer Training in den letzten Monaten ja doch nicht umsonst.«
Penny lächelte, wenn auch ein wenig säuerlich, über das Kompliment.
Auch ich rollte mit den Augen bei diesen Kommentar, ehe ich leicht zitterte, da mir kalter Seewind unter die Jacke fuhr. Das entging Nighton nicht. Er räusperte sich.
»Das war jetzt eindeutig genug Aufregung. Aber wenigstens sind wir noch gut im Zeitplan«, sagte er.
»Und wie sollen wir jetzt hier wegkommen, ohne die Camazoth?«, fragte Penny und lief die vielleicht vier Quadratmeter große Felsplattform ab, als würde sie nach einer Antwort suchen.
Nighton krempelte seine Ärmel hoch.
»Die brauchen wir nicht. Wir sind praktisch schon da«, murmelte er und kniete sich hin, um den Boden abzutasten. Ich tauschte einen Blick mit Penny, die daraufhin die Stirn runzelte und den Boden anstarrte, als könnte sie ihm eine klarere Antwort entlocken.
Nach wenigen Augenblicken schien Nighton das gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Ich konnte nicht genau sehen, was er tat, aber ein schleifendes Geräusch erklang und unsere Umgebung begann sich zu verändern.
Aus dem Nichts formte sich der schwarze Fels zu einer rechteckigen Plattform um, an deren einem Ende sich ein Weg ins Nichts zu materialisieren begann. Immer mehr steinerne Platten fügten sich wie von selbst aneinander, bis sie gegen eine unsichtbare Wand stießen. Doch das reibende Geräusch von sich bewegendem Stein nahm nicht ab, im Gegenteil, es wurde lauter. Kurz darauf tauchte ein graues, mit dunkelblauem Efeu behangenes Steingeländer ringsherum um die Plattform auf, und über unseren Köpfen formten sich steinerne Bögen, von denen tautropfenartige Lichter hinabhingen. Penny und ich staunten nicht schlecht. Nighton hingegen war völlig unbeeindruckt, aber ich war sicher, dass es daran lag, dass er das schon mal gesehen hatte.
Penny wollte schon voller Tatendrang den Weg betreten, doch Nighton hielt sie zurück. Mit fragender Miene drehte sie sich zu uns um. Ohne eine Erklärung öffnete er seinen Seesack und zog drei bodenlange, dunkelrote Umhänge mit eigenartigen Schlangenmustern heraus, von denen er einen an mich und einen an Penny reichte.
»Gut, dass ich einen dritten Umhang für den Notfall eingepackt habe«, meinte er mit vielsagendem Blick zu mir. Ich stimmte zu und musterte das Kleidungsstück. Es roch ein wenig alt, und auch Pennys Umhang schien nicht gerade das frischeste Blütenbouquet aufzuweisen, denn sie rümpfte angeekelt die Nase.
»Die stinken«, beschwerte sie sich, womit sie sich einen gereizten Blick seitens Nighton einfing.
»Oh, tut mir leid! Nächstes Mal parfümiere ich ihn extra für dich ein, damit kein Dämon dich überriecht, ja?«, entgegnete er zynisch.
Penny murmelte etwas Unverständliches und zog sich die Kapuze über den Kopf. Ich schloss die Brosche, die den Umhang an der Schulter zusammenhalten sollte. Plötzlich fühlte ich mich ein wenig in den Fantasystreifen zurückversetzt, den ich damals im Kino in Greenhill geschaut hatte. Hm. Eigenartig. Eigentlich war ich ja in einem Fantasystreifen. Meinem eigenen, um genau zu sein. Jetzt fehlten nur noch ein alter Sack mit Spitzhut und Zauberstab und ein paar kleinwüchsige Lockenköpfe. Und der heiße Schwertträger mit den ungewaschenen, braunen Haaren.
Nighton ließ Penny den Vortritt und zog mich zu sich heran, während wir den Weg langsam entlangliefen, die dünnen Platten und das wilde Meer unter uns. Sich im Gehen zu mir herunterneigend erinnerte er mich ernst: »Denk dran, was ich vorhin im Turm zu dir sagte, ja?«
Ich nickte.
»Keine Sorge, mir reicht es jetzt schon mit der Action. Ich mache nichts«, beschwichtigte ich ihn und machte mich los. Nighton nickte mir zu, dann ließ er mich vorgehen.
Ich folgte Penny, die bereits am vermeintlichen Ende des Weges stand. Der Wind wurde merklich stärker, je näher ich meiner Freundin kam. Bei ihr angekommen, blieb ich stehen und schaute unsicher nach unten auf das Wasser. Was kam nun?
Ich spürte Nightons Hand im Rücken, mit der er mich sanft in Richtung Abgrund drückte.
»Einfach weitergehen«, sagte er und lief an mir vorbei. Ich kniff die Augen zu, in Erwartung, dass Nighton wie ein Stein ins Wasser plumpsen würde, doch er war einfach weg. Wie ausradiert, wie gelöscht. Auch Penny war nicht mehr zu sehen, ich stand ganz allein am Ende dieses eigenartigen Steinweges.
Erschrocken rief ich: »Penny? Nighton? Wo seid ihr?«
Auf einmal erschien vor mir mitten in der Luft eine Hand, die nach meiner griff und mich vom Weg zerrte.
Halt. Vom Weg? Nein!
Ich wurde durch eine fremdartige Materie gezogen, die sich wie Schaum anfühlte. Es dauerte keine Sekunde. Als ich die Augen öffnete, stand ich immer noch auf dem Weg, aber auf einmal war er klar vor mir sichtbar. Was sich nun vor mir auftat, raubte mir den Atem: Eine Stadt auf dem Wasser, wie aus einem Traum. Sie thronte auf einer runden Plattform, getragen von massiven, steinernen Stelzen, die tief in das glitzernde Wasser unter ihr reichten. In der Mitte der Stadt erhob sich eine Festung, majestätisch und uneinnehmbar, zu der drei elegante Brücken führten. Nichts ließ darauf schließen, dass wir uns im düsteren Unterstadt befanden. Es hätte genauso gut das prächtige Oberstadt sein können, so friedlich und idyllisch wirkte alles. Hinzu kam der Geruch – eine seltsame Mischung aus salziger Meeresluft und süßem Rosenwasser, die so gar nicht zu diesem Ort passen wollte.
Jedes Gebäude war ein Kunstwerk für sich, kunstvoll gefertigt und mit Efeuranken bedeckt, die an den Mauern emporkletterten. Die Kuppeldächer glitzerten im silbernen Licht zweier Monde hoch oben am Himmel. Sie funkelten mit dem Wasser in den Kanälen um die Wette. Dieses wirkte spiegelglatt, kaum eine Bewegung störte die Oberfläche, auf der vereinzelt Seerosen trieben, wie zarte kleine Inseln. Überall um uns herum tanzten Glühwürmchen auf und ab, ihre sanften Lichter hüllten die schwebenden Laternen entlang des Weges in einen warmen Schein. Ich schaute nach unten und dann über die Schulter, dorthin, von wo wir gekommen war. Der Weg, den wir beschritten, war kein gewöhnlicher Pfad – er war eine Brücke, die den steinernen Felsen hinter uns mit der Stadt verband.
Über die gesamte Stadt spannte sich eine violett leuchtende Kuppel, kaum sichtbar, es sei denn, man sah genau hin. Sie flimmerte leicht im Mondlicht, als ob sie selbst atmete. Neugierig stieß ich Nighton an und fragte, was das sei. Mit ernster Miene erklärte er mir, dass es der Schutzschild vor der Verderbnis war. Als ich weiterbohrte, was genau die Verderbnis sei, blieb er stumm, und ich sah, wie sein Blick unruhig umherwanderte. Etwas setzte ihm zu, doch weder Penny noch ich fragten nach.
Zwischen den Häusern schlängelten sich Kanäle, in denen elegante Langboote vor sich hin dümpelten, sanft von der Strömung gewiegt. Überall in den Gassen sah ich Wesen in den gleichen Umhängen wie unseren, lautlos und zielgerichtet an uns vorbeiziehen. Wir gingen in der Menge beinahe unter. Nun wurde mir klar, warum Nighton darauf bestanden hatte, dass wir diese Umhänge trugen – sie machten uns unsichtbar unter den Bewohnern.
Hintereinander liefen wir den Weg entlang, bis wir eine Straße erreichten, an deren Rändern sich mehrere Stände reihten. Ein leises Gemurmel erfüllte die Luft, gedämpft und fremdartig. Die Wesen, die hier handelten, waren allesamt riesenhaft, keines war kleiner als Nighton, der ja selbst nicht klein war. Die meisten von ihnen überragten ihn um gut einen halben Meter, gehüllt in lange, undurchdringliche Gewänder. Nur gelegentlich blitzten gelbliche Augenpaare unter den tiefen Kapuzen hervor, glimmend wie Funken im Schatten. Doch es war nicht nur ihre Größe, die mich befremdete – es war ihr merkwürdiger Gang. Einige von ihnen schienen nicht zu gehen, sondern zu gleiten, als würden sich in Wahrheit Schlangen unter den Umhängen verstecken.
Mehrmals ertappte Nighton mich dabei, wie ich ihnen fasziniert hinterherstarrte oder langsamer wurde, was er jedes Mal mit einem leisen, warnenden Knurren quittierte. Doch trotz meiner Bemühungen, unauffällig zu bleiben, spürte ich die misstrauischen Blicke, die uns folgten. Ein seltsames Kribbeln lief mir über den Rücken, und ich war dankbar für den Schutz des Umhangs, der mich vor neugierigen Augen verbarg.
Penny und ich blieben dicht hinter Nighton, während er uns zügig durch die Stadt führte – durch enge Gassen, über breite Straßen und über filigrane Brücken, die die Kanäle überspannten. Unter uns glitten Gondeln lautlos durch das Wasser, als ob sie von unsichtbarer Hand gelenkt würden. Es blieb kaum Zeit, all das zu bewundern, denn Nighton trieb uns unnachgiebig voran. Schließlich hielten wir vor einem kleinen, unscheinbaren Haus mit rundem Dach und efeubewachsenen Wänden. Mir fiel mir direkt auf, wie unscheinbar es wirkte. Fast zu unscheinbar. Es war kaum größer als eine Hütte, völlig in Efeu gehüllt, als wäre die Natur erpicht darauf, es zu verschlucken.
Nighton klopfte an die dunkle Tür. Kurz darauf wurde die einen Spalt weit aufgezogen. Ich hörte ihn etwas flüstern, dann trat er beiseite und bedeutete Penny und mir, durch die Tür zu gehen.
Als wir eintraten, schlug mir eine dunkle Stille entgegen. Der Raum war klein, fast beengend, und sparsam eingerichtet. Ein grober Teppich bedeckte teilweise den Steinboden, als wäre er nur dazu da, Schritte zu dämpfen. In einer Ecke stand ein einfaches Bett, kaum mehr als ein Holzgestell mit einer Decke darüber. Der Tisch in der Mitte des Raumes war so karg wie alles andere hier – nur eine flackernde Laterne und ein paar zerknitterte Schriftrollen lagen darauf. Es wirkte, als hätte man diesem Ort jegliche Persönlichkeit entzogen.
Meine Augen wanderten weiter zu einem Schrank, der an der gegenüberliegenden Wand stand. Er sah so gewöhnlich aus, dass er mir fast nicht aufgefallen wäre. Doch irgendetwas daran ließ mich stutzen. Vielleicht war es die Art, wie er sich perfekt in die gedeckte Atmosphäre des Raumes einfügte, oder vielleicht war es einfach mein Instinkt. Alles in diesem Haus war so gestaltet, dass es nicht auffiel – gerade das machte es so verdächtig. Der perfekte Wohnort für einen Spion? Nur etwas ungewöhnlich für einen Engel. Die liebten doch das Majestätische, Prunkvolle - aber gut, hier drinnen ein zweites Oberstadt zu errichten, würde vermutlich nach hinten losgehen.
Die stickige Luft und die bedrückende Dunkelheit machten mich unruhig, und ich konnte kaum erwarten, wieder ins Freie und raus aus der Stadt zu gelangen. Selbst hier drin glaubte ich immer noch, die Blicke der Anwohner auf meinem Rücken brennen zu spüren, als wüssten sie, dass wir nicht hierhergehörten – und ich war froh, dass unser Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein würde. Rein, Spion finden, Informationen sammeln, und wieder raus - so sollte es doch laufen, oder?
Neben der Tür stand ein schlaksiger Mann, etwa zehn Zentimeter größer als ich, mit eigenartig blauen, anziehenden Augen und einem ungepflegten Bart. Er hatte leicht abstehende Ohren, schulterlange rostrote Haare und einen Ring im rechten Ohrläppchen. Eine erleichterte Grimasse bahnte sich auf seinem Gesicht an, als er uns musterte. Er begrüßte uns mit den Worten: »Ich dachte schon, ihr wurdet gefangengenommen.«
»Es gab einige ... Komplikationen.« Nighton streifte die Kapuze ab, ehe er an der Tür lauschte, als würde er dort draußen einen Lauscher erwarten. Dem war aber offensichtlich nicht so, denn als er sich von der Tür entfernte, wirkte er beruhigt. Er nickte dem Mann zu.
»Danke, dass du die Kuppel für uns geöffnet hast, Fineas. Und hier sind wir wirklich ungestört?«
Fineas? Fineas...? Wo hatte ich diesen Namen schon einmal gehört?
»Ja, sind wir. Sofern euch niemand gefolgt ist. Wer sind die beiden? Ich dachte, du kommst allein.« Fineas ging zum Kamin, um Holz hineinzuwerfen. Penny hüpfte hinterher und hielt ihre Handflächen dem Feuer entgegen. Ich hingegen blieb unschlüssig bei der Tür stehen und verschränkte die Arme unter dem Umhang. Nighton wollte Penny hinterhergehen, sah mich aber herumstehen und machte einen Schritt auf mich zu, um mich von der Tür wegzuziehen. Ich war nicht darauf vorbereitet und stolperte ihm mehr oder weniger hinterher.
Nighton räusperte sich und in der nächsten Sekunde zupfte er mir die Kapuze vom Kopf und legte eine Hand auf meine Schulter. Überrascht sah ich zu ihm auf.
»Das beim Kamin ist Penelope, ein sehr vielversprechender Jungengel-« Penny lächelte peinlich berührt und knickste, »-und das ist Jennifer.«
Er sprach zuerst meinen Spitznamen aus, hängte aber einige Sekunden später noch den Rest dran, fast als hätte er sich dran erinnert, dass ich ihm verboten hatte, mich Jen zu nennen. Fineas lächelte erkennend.
»Ja, unverkennbar.« Als er meinen verdutzten Blick sah, lachte er auf und erklärte: »Die Ähnlichkeit zu Siwe ist unglaublich. Ich freue mich, dich kennenzulernen, aber Nighton, warum bringst du sie nach Unterstadt?« Er warf Nighton einen rügenden Blick zu und fügte hinzu: »Ich bin mir sicher, dass Siwe das nicht gutgeheißen hätte! Sie ist ein Mensch und hat in Unterstadt nichts mehr verloren.«
Nighton seufzte und erklärte knapp, wieso ich mit von der Partie war. Als er endete, zog Fineas ein ernstes Gesicht.
»Verstehe. Das erschwert das, was ich mir für dich ausgedacht habe, natürlich immens. Nun ja, mehr dazu gleich. Wir sollten uns beeilen, bevor die Saerperi bemerken, dass sie einen Yindarin und einen Menschen unter ihrer Kuppel beherbergen.«
Nighton nickte zustimmend und ließ mich los.
»Spuck's aus, was hast du herausfinden können? Handelsrouten? Zwischenlager?«
Er ging zum Kamin, vor dem er auf die Knie sank. Fineas schnaubte, behauptete: »Viel besser!« und lief zu dem Tisch, auf dem er eines der herumliegenden Pergamente ausrollte. Dann drehte an einer Öllampe herum, die augenblicklich heller wurde. Er winkte uns alle zu sich.
Auf den ersten Blick stellte ich fest, dass es eine handgezeichnete Karte war. Sie zeigte die Stadt, in der wir standen. Groß schien sie nicht zu sein, aber sie hatte eine halbmondartige Form, und mehrere lange Stege ragten ins Wasser wie Speere. In der Mitte des verworrenen Straßennetzes war ein detailliertes Gebäude eingezeichnet, zu dem drei Brücken führten. Nighton legte einen Finger auf das Gebäude.
»Lass mich raten, die Hohepriesterin der Saerperi hat ihre schuppigen Finger mit drin?«, mutmaßte er und studierte die Karte eingehend. Fineas beugte sich mit glitzernden Augen vor.
»Noch viel besser. Ich war sehr fleißig.«
Er strich mit fünf Fingern über die Karte. Zu meiner Überraschung verformten sich die Linien aus Kohle und bildeten ein neues Netz aus Linien und Mustern. Fineas drückte einen Finger auf das Pergament und schaute zu Nighton auf.
»Vergiss die Handelsketten, die Zwischenlager oder Hohepriesterin Drea-Zugra. Ich habe die Quelle allen Yagransins gefunden, das sich im Umlauf befindet«, eröffnete er uns aufgeregt. Nighton starrte ihn erstaunt an.
»Was, wirklich? Wo ist sie?«
Der Engel wies auf die Karte und erklärte: »Tief in einer Höhle in den Katakomben. Der Zugang zu ihnen liegt nahe des Umschlagplatzes Dumu'Kiata. Das sollte leicht werden.«
»Leicht? Die Katakomben sind riesig!«, protestierte Nighton und eine Sorgenfalte tauchte auf seiner Stirn auf, als er hinzufügte: »Wir können nicht ewig durch sie hindurchirren!«
Fineas seufzte.
»Nighton, du bist ein Yindarin. Dein inneres Ich wird das Yagransin meilenweit wittern und dich hinbringen. Stimmt‘s?« Er zwinkerte mir zu und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab und erwiderte: »Ja, ist wie ein Spürhund.«
Penny warf mir einen mitleidigen Blick zu, den ich gekonnt überging. Danke, dass jetzt auch noch Fineas drauf rumritt.
Nighton überlegte, ohne auf Fineas Worte einzugehen: »Ist in den Katakomben auch der direkte Zugang zu den Höhlen?«
Ich schaute zwischen Nighton und Fineas hin und her. Moment mal! Was wurde das hier? Das klang ja beinahe so, als würde Nighton ernsthaft mit dem Gedanken spielen, jetzt dort runter in die Katakomben zu gehen! Was war denn aus der einfachen Mission á la rein-raus geworden?
»Ja«, antwortete Fineas schlicht, legte dann aber den Kopf schief und ergänzte: »Von meinen Spionage-Touren weiß ich, dass es irgendwo da unten eine große Mauer gibt, die als Portal in die Höhlen dient. Drea-Zugra hat das Portal in die Mauer gesetzt und es mit Bannsprüchen versiegelt. Aber sie lässt es täglich öffnen, damit die Sklavenarbeiter rein und raus können. Die Sprüche sollten zu brechen sein, ich konnte ihre Kraft spüren, und sie wirkten auf mich nicht besonders gewitzt.«
Nighton überlegte kurz, dann schaute er mich aus verengten Augen an. Ernst lobte er an Fineas gewandt und dabei zugleich die Karte zuklappend: »Gute Arbeit, Fineas. Mit diesen Infos lässt sich etwas anfangen, ich werde zurückk-«
Der Engel fiel ihm sofort ins Wort.
»Weißt du, wie schwierig es war, die Kuppel für euch zu öffnen? Ein zweites Mal schaffe ich das nicht! Die Wache ist mir schon auf den Fersen!«, gab Fineas erregt zu bedenken und wies in Richtung der Tür.
Verunsichert schaute Nighton zwischen mir und Fineas hin und her. Ich verstand, dass er zögerte. Auf der einen Seite stand ich, der Klotz am Bein, der Mensch, auf den er achten wollte, und auf der anderen bot sich ihm die Chance, seine Achillesferse auszuradieren - eine schwierige Entscheidung. Eine, die ihm Fineas in diesem Moment abnahm, denn er langte in die Tasche und beförderte einen kleinen Flakon hervor. Den knallte er auf den Tisch. Penny näherte sich mit hochinteressierter Miene und erkundigte sich lauernd: »Das ist doch nicht das, was ich denke?«
Fineas nickte bestätigend, Nighton beobachtend, der das Fläschchen mit der rotierenden, schwarzen Flüssigkeit gebannt fixierte.
»Es war wirklich schwer, da dranzukommen. Ich musste viele meiner Kontakte ausnutzen und mich mit einem äußerst unangenehmen Sukkubus-Herr herumschlagen. Das ist abgefülltes Höllenfeuer. Damit kann man das Yagransin vernichten«, erklärte er.
Ich wollte einwerfen, dass Sekeera Höllenfeuer erzeugen konnte, aber so ganz stimmte das nicht - Nighton trug keine Armschienen wie ich damals. Nur dank derer hatte ich das Feuer kanalisieren können.
Wieder wanderte Nightons Blick zu mir. Er haderte mit sich, das sah ich. Schließlich fragte er Fineas: »Penny und ich gehen. Kann Jennifer bei dir bleiben?«
Der schüttelte erschrocken den Kopf und entgegnete prompt: »Das ist unmöglich. Ich stehe unter Beobachtung, wenn die mich erwischen, bin ich tot. Und sie ist es auch.«
Freute mich das? Verstärkte es das Gefühl der Beklemmung in mir? Keine Ahnung. Wie man es auch drehte und wendete - das alles hier war alles andere als optimal.
Nightons Mund wurde eine dünne Linie. Er lenkte seinen Blick wieder auf das Fläschchen, ehe er zu Penny sah und sie fragte: »Was denkst du?«
»Ich? Du fragst mich nach meiner Meinung?« Penny furchte die Stirn, erst recht, als Nighton bejahte, und das ohne ein Grinsen. Voller Zweifel schaute sie mich an und murmelte: »Haben wir denn eine Wahl? Wir können sie nicht hier lassen, wir können sie nicht verstecken - also muss sie mitkommen. Wenn es nach mir ginge, ich hätte sie nicht mal aus dem Turm gelassen, sondern zurück nach London gebracht und eine Verspätung riskiert. So, wie es jetzt ist, kriege ich Bauchschmerzen. Ich habe kein gutes Gefühl, um ehrlich zu sein.«
Nighton grunzte und stützte sich auf den Tisch.
»Ich stimme dir zu. Aber es ist, wie es ist. Also kommt sie mit.« Sein Blick fixierte nun mich. »Das könnte verdammt gefährlich werden, Jennifer. Bist du für sowas bereit?«
Ich schluckte. Die ganze Zeit hatte ich nur umhergesehen und gar nicht gewusst, wie ich mich fühlen sollte. Nun stellte sich ein Gefühl von Angst und Machtlosigkeit in meiner Brust ein, denn ich wusste, dass ich mitmusste. Es gab keine Alternative. Und ich teilte Pennys schlechtes Gefühl.
»Keine Ahnung«, murmelte ich schließlich. Zu schade, dass die Schule ausgefallen war. Lieber würde ich jetzt dort sitzen, als mich mit meinem drohenden Tod konfrontiert zu sehen!
Nighton schnaufte leise, ehe er das Fläschchen an sich nahm und in seiner Hosentasche verstaute. Dann klaubte er die Karte vom Tisch.
»Die leihe ich mir aus, wenn das keine Umstände macht?«
Fineas nickte und erwiderte: »Ihr habt sie dringender nötig. Nimm sie ruhig mit. Pass nur auf, dass euch nichts geschieht. Das wird eine Gratwanderung.«
Nighton zog eine Grimasse, ehe er mir die Hand entgegenhielt und zu Penny und mir sagte: »Kommt, je schneller wir das hinter uns bringen, desto besser.«
Er seufzte und murmelte mehr zu sich selbst als zu uns: »Hoffentlich bereue ich das nicht.«