Ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf und wusste zuerst gar nicht, wo ich eigentlich war. In meinem Bett war ich schon mal nicht, da sprachen die harten Sprungfedern unter mir und der Ledergeruch, der mich umhüllte, dagegen.
Gähnend hob ich den Kopf an. Hinter mir konnte ich Nightons Gewicht spüren. Er lag halb auf mir, sein Oberkörper drückte gegen meinen Rücken, und sein Kopf ruhte auf meinem Schulterblatt. Seine warmen Atemzüge strichen rhythmisch über meine Haut und jagten mir einen leichten Schauer über den Nacken.
Verwirrt runzelte ich im Zwielicht des Zimmers die Stirn und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Mein Hirn weigerte sich, eins und eins zusammenzuzählen. Da war doch etwas gewesen - etwas, das ich unmöglich vergessen haben konnte… oder?
Plötzlich flammte die Erinnerung an die vergangenen Stunden auf, als hätte jemand in meinem Kopf das Licht angemacht. Unwillkürlich zog sich mein Körper zusammen. Ein nervöses Grinsen breitete sich dabei auf meinem Gesicht aus, und ich wurde puterrot. Oh Gott - es war wirklich passiert! Ich hatte mir das nicht eingebildet! Hastig legte ich eine Hand auf meinen Mund, um das aufsteigende Kichern zu unterdrücken, oder etwas anderes, das mich verraten könnte. Ich wollte Nighton auf keinen Fall wecken.
Glücklich zog ich Nightons Arm, der locker über meinem Rücken lag, fester um meine Mitte. Der Gedanke an das, was wir geteilt hatten, brachte mich dazu, mich noch enger an ihn zu schmiegen. Seine Wärme umhüllte mich, und für einen Moment genoss ich das Gefühl der Sicherheit, das mich umgab.
Doch Nightons Körper strahlte eine unerträgliche Hitze aus, die mir bald zu viel wurde. Ich wollte es zwar nicht, doch ich löste mich vorsichtig von ihm. Da ich nicht mehr schlafen konnte und wieder Hunger verspürte, schob ich seinen Arm von mir und schaffte es, leise von der Couch aufzustehen, ohne ihn zu wecken. Die kühle Luft traf mich sofort, also hob ich die Decke vom Boden auf, die ich mir hastig um den Körper wickelte.
Leider merkte ich im Gehen schnell, dass jede Bewegung eine Herausforderung war. Vielleicht lag es an meiner wochenlangen Herumsitzerei… oder daran, dass ich vorhin Muskelgruppen beansprucht hatte, von deren Existenz ich bis vor wenigen Stunden gar nichts wusste. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
Ich wagte einen Blick aus dem Küchenfenster. Es war stockdunkel draußen, und der Regen prasselte weiterhin gegen die Scheiben, jedoch weniger heftig als noch vorhin.
Mit der gerafften Decke um mich machte ich mich in der Küche auf die Suche nach etwas Essbarem. Mein Magen knurrte dabei ungeduldig vor sich hin. Ich öffnete Schränke und Schubladen, doch sie waren leer. Frustriert seufzte ich und legte eine Hand an meinen unteren Rücken, durch den sich stechende Schmerzen zogen. Gleiches galt für meine Oberschenkel und Bauchmuskeln - jede Anspannung, jede Bewegung war so unangenehm, dass ich mich am liebsten wieder hingesetzt und gar nicht mehr bewegt hätte. Verdammt!
Wie ein Cowboy, der zu viel Zeit auf seinem Ross verbracht hatte, wankte ich zurück zu Nighton. Er war gerade aufgewacht und richtete sich auf, zog seine eigene Decke zu sich heran und streckte sich, bevor er sich mit einer Hand durch sein zerzaustes Haar fuhr.
Sein Blick traf mich, und ich konnte ein neues, fast schon verwegenes Funkeln in seinen Augen erkennen. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Seine Stimme klang warm, aber ein Hauch von Besorgnis schwang darin mit. In dem Moment entschied sich mein Magen wieder lautstark zu knurren und durchbrach damit die Stille im Raum. Nighton hielt inne und ich konnte sehen, wie sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen.
»Oh«, sagte er, während ich mir peinlich berührt eine Hand auf den Magen legte. Eigentlich war es albern, dass mir ein Magenknurren unangenehm war. Vor kurzem noch hatte ich eine ganz andere Art von Geräuschen von mir gegeben, auf die ich jetzt nicht näher eingehen werde. Dennoch wurde ich rot wie eine Tomate. Dieses dämliche, unkontrollierbare Erröten brachte mich irgendwann noch zur Verzweiflung!
Nighton bemerkte meine Verlegenheit und grinste nur noch breiter, bevor er kommentierte: »Klingt gefährlich.« Dann warf er einen Blick aus dem Fenster und fügte hinzu: »Sobald es aufhört zu regnen, machen wir uns auf den Weg. Oder hältst du es nicht mehr aus?«
»Doch, doch«, beeilte ich mich zu sagen. Ich wollte echt nicht, dass mein Körper mir jetzt einen Strich durch die Rechnung machte. Nein, am liebsten wollte ich da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört hatten. Doch im Angesicht meiner protestierenden Muskeln würde das wohl vorerst ein Wunschdenken bleiben.
Ich verzog schmerzerfüllt das Gesicht, stieg mit der Decke aufs Sofa und ließ mich ächzend auf das Leder sinken. »Mir tut alles weh«, jammerte ich nach einigen Momenten, in denen ich versuchte, eine bequeme Sitzposition zu finden. Nighton beobachtete mich dabei, und als ich saß, schickte er mir ein spöttisches Grinsen, bei dem mir ziemlich heiß wurde. Mitleidlos kommentierte er: »Selbst Schuld. Ich hab’s dir gesagt, lass diese wilden Verrenkungen. Jetzt hast du den Salat.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und knurrte: »Hey, wenn hier einer dran Schuld ist, dann ja wohl du!«
Darüber lachte Nighton nur. »Ja klar, ich bin also verantwortlich für deine akrobatischen Verknotungen? Ich habe dich nicht gezwungen, dich wie eine menschliche Brezel zu verdrehen.« Ein gehässiges Grinsen nistete sich in seinen Mundwinkeln ein.
»Menschliche-« Ich begann den Satz, spürte dann aber, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, und beschloss, lieber die Klappe zu halten. Stattdessen verschränkte ich die Arme vor der Brust und warf ihm einen noch finstereren Blick zu, während meine Wangen brannten. »Lach nicht so blöd«, zischte ich und versuchte, das Thema zu wechseln. Aber Nighton ließ nicht locker.
»Also ehrlich, Jen«, sagte er in übertriebener Ernsthaftigkeit, während er sich lässig gegen das Sofa lehnte und mit dem Arm auf der Lehne abstützte, »ich hatte zwischendurch wirklich Angst, dich nie wieder entknoten zu können.«
»Du…«, schnappte ich, dann kniff ich die Augen zusammen und griff nach dem nächstbesten Couchkissen, das ich finden konnte, um es nach ihm zu werfen. Es flog an ihm vorbei. Darüber lachte Nighton nur noch mehr. Ich funkelte ihn an, doch es gelang mir kaum, ernst zu bleiben. Halb lachend, halt im Ernst presste ich hervor: »Na warte, du wirst es noch bereuen, dich über mich lustig zu machen!«
Nighton hob eine Augenbraue und lehnte sich mit einem Funkeln in den Augen zu mir. »Ach wirklich? Und was hast du vor? Mich mit anderen Verknotungstechniken beeindrucken?«
Ich biss mir auf die Lippe und merkte, dass mir keine schlagfertige Antwort einfiel. Stattdessen griff ich erneut nach einem Kissen und schleuderte es in seine Richtung. »Ich hasse dich!«, rief ich schließlich aus, als ich erkannte, dass ich den verbalen Krieg verlieren würde.
Nighton prustete los, stand auf und lief völlig unbeeindruckt – und gänzlich unbekleidet – zum Fenster. Seine Entspanntheit und sein Anblick ließen mich abermals rot werden, und ich wandte meinen Blick hastig ab. Er schaute prüfend nach draußen, wo er anscheinend nichts Beunruhigendes erspähte. Während er die Gardinen zuzog, drehte er sich halb zu mir und behauptete siegessicher: »Nein, tust du nicht. Du stehst seit deinem elften Lebensjahr auf mich.«
Das brachte mich völlig aus dem Konzept. »Das stimmt nicht!«, protestierte ich sofort, aber Nighton zuckte nur mit den Schultern. »Oh doch. Bei jedem einzelnen Treffen hast du dich immer wieder aufs Neue in mich verknallt.«
Er kam zurück zum Sofa, setzte sich und blickte mich mit einem belustigten Funkeln in den Augen an. »Jedes Mal, wenn ich mich dir zeigen musste, hat es schon gereicht, mir dir zu reden, und du hast deinen typischen Tomatenkopf bekommen. Anfangs habe ich es nicht verstanden, aber als mir klar wurde, was los war, fand ich es furchtbar unangenehm. Versuch mal, ein ernstes Gespräch mit einem verknallten Teenager zu führen. Es war wirklich schrecklich.«
Meine Augen weiteten sich, und ich starrte verlegen zu Boden, ohne ihn anzusehen. »Uff«, stöhnte ich. »Warum erzählst du mir das? Das ist doch peinlich!«
Nighton weitete plötzlich seine Augen, als ob ihm eine besonders amüsante Erinnerung gekommen wäre.
»Oh, einmal, als du etwa vierzehn warst, habe ich mir zu viel Zeit gelassen, um dein Gedächtnis neu auszurichten. Und dann fand ich plötzlich einen Liebesbrief in meiner Jackentasche!« Er brach in schallendes Lachen aus, und ich konnte nicht anders, als ihm überrascht zuzusehen.
»Oh mein Gott«, stammelte ich und schlug mir die Hände vor den Mund. »Das habe ich nicht wirklich gemacht. Was stand denn drin? Moment, will ich das überhaupt wissen?«
Nighton räusperte sich, um sich zu sammeln, bevor er antwortete: »Ich glaube, mein Favorit im ganzen Text war: 'Ich fühle mich krank, und rate mal, wer die Medizin ist.'«
Das war mir so unsagbar unangenehm, das ich nicht anders konnte, als mitzulachen.
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll«, stammelte ich mit dunkelrotem Schädel, aber Nighton winkte ab.
»Ach, halb so schlimm. Irgendwann konnte ich damit umgehen. Nur leider wurde es schwieriger, deine Erinnerungen zu löschen, und ich konnte auch nicht mehr deine Erinnerungen an mich vernichten. Wobei, leider ist jetzt auch wieder zu viel gesagt.« Er legte sich auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ich folgte ihm und legte meinen Kopf auf seine Brust.
»Ich weiß, wie du es meinst«, murmelte ich leise, während ich den Rhythmus seines Herzschlags spürte.
Wir lagen eine Zeit lang schweigend da, und ich lauschte seinem regelmäßigen Atem. Es war seltsam beruhigend, fast tröstlich. Doch tief in mir brannte eine Frage, die unbedingt heraus wollte, auch wenn ich Angst vor der Antwort hatte. Trotzdem wusste ich, dass ich sie stellen musste.
»Nighton?«, raunte ich und hob den Kopf, um ihn anzusehen. Er hatte die Augen geschlossen und wirkte entspannt.
»Hm?«, kam es leise zurück.
»Kann ich dich etwas fragen?«
»Klar.«
Die Worte schoben sich mit einer Dringlichkeit an meine Lippen, die ich kaum bändigen konnte. Trotzdem fragte ich mich plötzlich unwillkürlich, ob Kellahans Einfluss der Grund für meine direkte Frage war.
»Was ist das zwischen uns?«, brach es aus mir heraus, bevor ich mir noch mehr Gedanken machen konnte.
Die Bewegung von Nightons Brust stockte abrupt. Ich spürte, wie mein Herz vor Angst schneller schlug. Oh je, hätte ich das besser nicht fragen sollen? War ich zu sehr vorgeprescht?
Die Stille zwischen uns wurde dicht und unerträglich, und ich wartete angespannt auf seine Antwort.
Sein Atem, den er offenbar angehalten hatte, brach schließlich mit einem tiefen Seufzer. Dann antwortete er ernst: »Jennifer, ich weiß nicht genau, was ich darauf antworten soll. Ich habe mich nie wirklich mit Gefühlen beschäftigt, was jetzt vielleicht trauriger klingt, als es gemeint ist. Vielleicht ist es sogar was sehr Tiefgehendes, was hier zwischen uns steht, aber ich bin mir nicht sicher. Es fühlt sich stark an, aber mehr weiß ich auch nicht. Also habe ich keine Ahnung, was das ist.«
Ich sah zu ihm auf. Mein Herz klopfte heftig.
»Tiefgehend?«, wiederholte ich.
»Ja.«
»Aber wie?«, fragte ich, denn irgendwie fiel es mir schwer, ihm das zu glauben. Nighton schien überrascht von meiner Reaktion und neigte den Kopf verwirrt zur Seite.
»Wie, wie? Verstehe ich nicht. Wie meinst du das?«
Plötzlich erschien mir das Ganze absurd. Kellahans Worte schwebten noch in meinem Kopf, und ich fühlte mich unsicher. Ich drehte mich auf den Bauch, zog die Decke über meine Schultern und stützte mich auf meine Unterarme, während ich nach den richtigen Worten suchte.
»Ist das nicht ein innerer Konflikt für dich? Ich meine, ich bin neunzehn Jahre alt, Nighton, und du bist weit über hundert. Ich bin doch ein Kind für dich, oder? Du wirst wahrscheinlich noch die Tausendermarke knacken, aber ich-«, ich schluckte, »-ich bin ein Mensch! Du wirst in zwanzig Jahren immer noch so aussehen, aber ich nicht. Denkst du nie an die Zukunft?«
»Nein«, antwortete Nighton ruhig und direkt, ohne zu zögern. »Ich denke selten an die Zukunft, und das, worüber du dir Gedanken machst, liegt noch weit in der Ferne. Dir wurde die Chance gegeben, wieder ein Yindarin zu werden, und du solltest dich nicht mit solchen Gedanken aufhalten. Das lähmt nur. Du solltest im Hier und Jetzt leben. Unsererins denkt nicht so weit in die Zukunft.«
»Hm«, brummte ich nachdenklich. Vielleicht war ich tatsächlich zu viel am Grübeln.
»Wahrscheinlich hast du recht«, gab ich zu und blickte auf meine Hände. Aus dem Augenwinkel sah ich Nighton zustimmend nicken.
»Stimmt es eigentlich, dass ich seit über hundert Jahren deine erste-«
»-Freundin bist? Ja. Das stimmt. Wieso, hat das etwa auch Kellahan ausgeplaudert?« Nighton stöhnte und rieb sich die Augen, doch mein Geist hatte sich an einem Wort festgeklammert: Freundin.
»F-F-Freundin? M-meinst du feste Freundin?« Ich stotterte so sehr, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte. Nighton rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf.
»Wäre mir neu, dass du flüssig bist.« Sein Gesichtsausdruck verzog sich plötzlich zu einer Mischung aus Belustigung und Verwirrung. »Zur Hölle, was rede ich da? Ich habe eindeutig zu viel Zeit mit dir verbracht.«
Ich prustete los. »Ja, der war wirklich miserabel«, stimmte ich mit einem breiten Grinsen zu. »Aber warte mal – habe ich das jetzt richtig verstanden? Sind wir jetzt – sind wir etwa wirklich in einer Beziehung? So richtig, richtig??«
Er blinzelte überfordert und sah mich an, als ob er selbst nicht so recht wusste, wie er die Frage beantworten sollte. »Na ja, da du mich zuerst vor Kellahan so betitel hast – ja? Schätze schon?«
Ein nervöses Kichern entwich mir, und ich musste mir die Hand vor den Mund halten. Nighton sah mich an, als wäre ich bekloppt, aber ich war so von einem albernen Dauergrinsen gepackt, dass ich keinen Halt mehr fand. Wäre ich allein gewesen, hätte ich wahrscheinlich vor Freude geschrien. Stattdessen drückte ich mich auf alle Viere hoch und kletterte erneut auf Nighton, der dies mit einem überraschten Grunzen quittierte.
»Wirst du das jetzt etwa öfter machen? Ich bin doch kein Kletterbaum!« Ächzend hob er den Kopf, um mich anzusehen.
»Vorhin war ich noch ein Fliegengewicht«, erinnerte ich ihn.
»Das war, bevor du mir den Rücken gebrochen hast.«
»Dann hoffe ich, dass der Rest deines Körpers stabiler ist. Oder vielleicht macht sich dein hohes Alter langsam bemerkbar?«
Ein knurrendes Lachen vibrierte durch Nightons Körper, was mich noch breiter grinsen ließ.
»Nicht so frech«, warnte er, was ich mit einem kichernden »Ja, ja« quittierte, bevor ich hinterherschob: »Ich habe noch eine Frage.«
Nighton seufzte. »Ich kann dich eh nicht abhalten.«
Ich runzelte die Stirn. Die Gedanken an meinen Vater drängten sich in den Vordergrund, gepaart mit schlechtem Gewissen. Ich lag hier, und ihm ging es so schlecht. »Du hast am Telefon gesagt, mein Dad hatte einen Zusammenbruch. Wie geht es ihm? Und wo waren Pearl oder Mrs. Moore? Sie haben früher ständig nach uns gesehen. Warum haben sie nicht versucht, ihm zu helfen?«
Nighton warf mir einen langen, prüfenden Blick zu.
»Ich habe nichts von deinem Dad oder deinem Bruder gehört, seit ich dich am Telefon hatte. Und es hat nie zu den Aufgaben der beiden gehört, auf jemand anderes als dich aufzupassen.«
Nighton schien kurz zu überlegen, dann fragte er unvermittelt: »Erinnerst du dich eigentlich, wie oft du früher bei Pearl Washington warst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Du warst fast jeden Tag dort«, erklärte er und sein Blick wurde etwas schärfer. »Pearl hat den Babysitter gemimt, die nette, treusorgende Seele von nebenan. Das konnte sie gut. Ich fand's ehrlich gesagt furchtbar. Du warst ständig da, und da ich bei ihr gewohnt habe-«
»Was?« Ich unterbrach ihn ungläubig und setzte mich auf. »Du hast bei ihr gewohnt?«
Er nickte.
»Ich dachte immer-« Ich stockte, doch Nighton hob nur eine Augenbraue.
»Was hast du gedacht? Dass ich jahrelang in einem Auto gelebt habe?«
Ich schnaubte und erwiderte: »Tatsächlich hatte ich das mal in Erwägung gezogen. Aber wenn ich so oft bei Mrs. Washington war, wie du sagst, warum erinnere ich mich dann an nichts davon?«
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. »Oh, Moment. Du hast in meinem Kopf rumgepfuscht.« Augenrollend ließ ich meinen Kopf zurück auf seine Brust sinken, ein wenig genervt von der Vorstellung, dass Teile meiner Vergangenheit gelöscht worden waren.
Stille legte sich über uns, aber die war für mich alles andere als friedlich. Da war jetzt diese Leere in mir, die plötzlich Raum forderte. Ich versuchte, die Lücken zu spüren, zu erkennen, was mir alles fehlte. Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich aus. Es gab so viele Dinge, die ich nicht mehr wusste, an die ich mich nicht erinnern durfte. Womöglich Schreckliches, das Nighton mir genommen hatte. Vielleicht aus guten Gründen. Aber... wollte ich nicht wissen, was hinter all diesen verlorenen Erinnerungen steckte? Ich biss mir auf die Lippe. Würde er mir überhaupt antworten, wenn ich fragte? Andererseits standen die Chancen gut - immerhin hatte er auch über sich ausgepackt.
Neugier überflutete mich. Es platzte einfach aus mir heraus: »Was war das Gefährlichste, das mir je passiert ist?«
Nighton schien von der Frage überrumpelt zu sein. Seine Stirn legte sich in Falten, während er mich prüfend ansah. Kurz dachte er nach, dann sagte er leise: »Selenes erster und einziger Besuch in deinem Zimmer in London.«
Mir stockte der Atem. »Selene? Sie war bei mir? In meinem Zimmer? Warum?«
Kurz schluckte er und schwieg. Dann antwortete er: »Um mir den Auftrag zu geben, sie über dich auf dem Laufenden zu halten.«
Seine Worte ließen mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. »Was ist genau passiert?«
Nighton schaute mir lange in die Augen, als wolle er abwägen, ob ich das wirklich hören sollte. Eher zögerlich hakte er nach: »Bist du dir sicher, dass du das wissen willst?«
»Sonst würde ich ja wohl kaum fragen«, gab ich zurück, seinem Blick standhaltend.
Er schloss kurz die Augen, als würde er in den Tiefen seiner Erinnerungen graben, dann öffnete er sie und begann mit belegter Stimme: »Es war ein Samstag, ein wirklich düsterer...«