Einen Moment lang hielt Nighton einfach nur inne. Dann stieß er – mit einer Stimme, die zwischen Schock und Unglauben schwankte – ein einziges Wort hervor: »Anna?!«
Ich erstarrte kurz. Doch dann sprang ich wie angestochen vom Sofa auf. Das konnte nicht sein! Ich rannte zur Tür, die anderen Schritte hinter mir ignorierend, aber als ich im Flur ankam, hatte Nighton Anna bereits durch die offenstehende Tür ins Haus gezogen. Sie war es wirklich!
Er ragte nun vor ihr auf, ihr Gesicht eisern festhaltend, als wäre sie eine Illusion, die jederzeit verschwinden könnte. Dabei drückte er mit beiden Daumen ihre Augenlider nach oben und starrte ihr so intensiv in die Augen, dass ich den Atem anhielt. Anna versuchte, seinen Griff halbherzig abzuschütteln, mehr irritiert als erschrocken, doch Nighton ließ nicht locker.
»Hör auf!« Ich warf mich förmlich zwischen die beiden und versuchte, Nighton von Anna zu trennen. »Was zur Hölle machst du da?!«
»Prüfen, ob sie es wirklich ist«, knurrte Nighton angespannt. »Ich konnte sie draußen nicht wahrnehmen.«
»Das konnte keiner von uns«, stimmte Jason besorgt zu, der, so wie alle anderen, aus dem Wohnzimmer gekommen war und Anna musterte, die voller Angst zu Nighton aufsah, der sie immer noch festhielt.
»Was?« Ich schaute entgeistert zwischen allen hin und her. Das konnte nicht wahr sein. »Aber… natürlich ist das Anna! Meine Schwester!« Ich musterte sie, vom Katzenrucksack über das grüne Sommerkleid bis hin zu ihrem leicht verdatterten Gesichtsausdruck – alles an ihr war so typisch, dass es fast wehtat.
Nighton nickte schließlich und ließ Anna langsam los, aber der Blick in seinen Augen sagte alles. Der Rest meiner Freunde blieb still, doch jeder von ihnen sah Anna an, als wäre sie eine tickende Zeitbombe.
Ohne nachzudenken, riss ich Anna an mich und umklammerte sie so fest, dass sie leise aufkeuchte. Doch nach einem Moment erwiderte sie die Umarmung und vergrub ihr zitterndes Gesicht an meiner Schulter. Sie fühlte sich kalt an, viel zu kalt, und ich spürte, wie ein stechendes Gefühl von Sorge und Wut gleichzeitig in mir aufstieg.
»Wo kommst du her?«, brach es aus mir heraus, während ich sie nur noch fester an mich drückte. »Wie hast du es überhaupt bis hierher geschafft? Und warum – warum um alles in der Welt bist du so dünn angezogen? Du holst dir doch den Tod, wenn du mitten im Winter in einem Sommerkleid vor die Tür gehst!«
Anna schluckte und klammerte sich fester an mich, ihr ganzer Körper bebte. »Es… tut mir leid… wirklich«, stammelte sie, ihre Worte abgehackt durch das Zittern.
Nighton trat zu uns und legte mir eine Hand auf die Schulter, bevor er die anderen mit einem knappen Kopfnicken ins Wohnzimmer zurückschickte. »Ich hole ihr was Warmes«, sagte er ruhig, wobei sein Blick immer noch wachsam auf Anna ruhte.
Ich nickte nur knapp, noch immer nicht fähig, Anna loszulassen. Ihr ganzer Körper bebte, während sie leise und entschuldigend murmelte, dass sie sich den Weg hierher wirklich leichter vorgestellt hatte, doch ich schüttelte nur ungläubig den Kopf. Sie hatte vielleicht keine Ahnung, in was für eine Situation sie sich da gebracht hatte. Und Thomas? Wo war der? Ob er wusste, dass Anna hier war? Ihm ging es doch gut, oder??
Mit einem mulmigen Gefühl löste ich mich von Anna, ging zur Flurkommode, griff nach dem Telefon und tippte Tommys Nummer ein. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er abnahm, fröhlich und ahnungslos.
»Thomas!« Ohne ihm eine Chance zu lassen, loszulegen, presste ich die Worte hervor: »Warum, verdammt, steht Anna hier bei mir in Harenstone?!«
Am anderen Ende der Leitung folgte eine lange Stille. Dann ein erschrockenes »Sie – was?! Das kann nicht sein!«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nighton mit einem meiner Wollpullover bei Anna ankam, die Ärmel aufkrempelte und meiner Schwester in den Pullover hineinhalf, während er seinen Kopf leicht in meine Richtung neigte, als würde er lauschen.
»Ach, dann hab ich mir das nur eingebildet, oder wie?«, fauchte ich ins Telefon, bevor ich Anna den Hörer hinhielt. Sie nahm ihn mit einer schuldbewussten Miene und brachte nur ein leises »Hallo?« hervor.
Selbst aus einem Meter Entfernung hörte ich Thomas’ lautes Schimpfen durch den Hörer. Anna schwieg, ihre Augen fest auf den Fußboden gerichtet, und ich tauschte mehrere Blicke mit Nighton. Er wirkte zunehmend angespannt, irgendetwas schien ihm nicht zu passen, doch er schwieg.
Schließlich drückte Anna mir das Telefon mit gefährlich glänzenden Augen zurück in die Hand. Sie sah aus, als stünde sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Thomas?«
»Ich… ich komme morgen und hole sie ab.« Thomas klang jetzt ruhiger, aber immer noch verwirrt und besorgt. »„Ich weiß nicht genau, wann, aber ich melde mich vorher. Tut mir leid, Jen, aber in letzter Zeit – ach, ich weiß auch nicht. Sie ist irgendwie komisch geworden.«
»Was soll das heißen, komisch?«
Anna hob den Kopf und sah mich mit ernstem Blick an. »Jemand spricht mit mir. Auch jetzt gerade.« Sie sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es das Normalste auf der Welt. Neben mir spannte sich Nighton merklich an, seine anfängliche Skepsis wich einer beunruhigten Stille. Auch Jason, der sich auf die Lehne der Couch im Wohnzimmer gesetzt hatte, warf uns einen besorgten Blick zu.
Ich sprach ins Telefon, den Blick unverwandt auf Anna gerichtet. »Gut, sag einfach Bescheid, wann du kommst. Vielleicht können wir bis dahin etwas ausrichten.« Er stimmte zu, und nach einem kurzen Abschied legten wir auf. Ich legte das Telefon zurück auf die Ladestation und wandte mich dann Anna zu.
»Ich will die Wahrheit wissen, Anna. Wer spricht mit dir?«, fragte ich leise. Es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben.
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: »Ein Mann. Er ist nett. Er hat schon oft mit mir geredet, und heute Morgen hat er gesagt, ich soll hierherkommen, weil er ein Geschenk für mich hat und weil ihr mich zu ihm bringen könnt.«
Ein eiskaltes Entsetzen breitete sich in mir aus. Asmodeus. Er musste es sein. Wer sonst könnte sie zu so etwas Waghalsigem gebracht haben?
Nighton räusperte sich und sagte leise: »Ich bin gleich wieder da, Jen.« Im Vorbeigehen küsste er mich auf die Wange, bevor er in Richtung Wohnzimmer und weiter auf die Terrasse ging. Ich warf ihm einen fragenden Blick nach, aber entschied mich, mich zuerst um Anna zu kümmern, die noch immer zitterte. Also steckte ich sie kurzerhand in die Badewanne.
»Hast du dir wenigstens Wechselsachen mitgebracht?«, fragte ich und seufzte, als sie den Kopf schüttelte. Ich bat sie, im Bad zu bleiben, und lief in mein Zimmer, das jetzt alles beherbergte, was ich hier brauchte. Aus dem Schrank zog ich eine alte Jogginghose von mir, die zwar viel zu groß war, aber es war besser als nichts. Einen Pullover hatte Nighton ihr ja schon geholt. Nachdem meine Schwester sich etwas aufgewärmt hatte, half ich ihr beim Anziehen der Sachen. Die Jogginghose musste ich mit einem Haargummi am Bund enger machen.
Wir gingen zusammen zurück in die Küche, gerade als Nighton aus dem Wohnzimmer kam. Sein Gesichtsausdruck war finster, seine Augen schienen besorgt.
»Was ist?«, fragte ich beunruhigt.
»Ich weiß jetzt, wer in Annas Kopf herumspukt«, verkündete er.
Ein kalter Schauer durchfuhr mich. »Sag schon!«, drängte ich, während ich innerlich flehte: Bitte nicht Asmodeus. Bitte nicht Asmodeus!
»Es ist Azmellôn.«
Was? Ich runzelte die Stirn, irritiert. »Azmellôn? Der Seher? Was will er von meiner Schwester? Das ist doch… verrückt!« Die Wut in mir stieg. »Was bildet der sich ein, meine kleine Schwester so zu manipulieren und hierherzulocken?!«
»Er hat gerade die Anweisung geschickt, dass wir sofort nach Oberstadt kommen sollen. Mit Anna.« Nighton hob einen kleinen, schimmernden Dreifuß in die Luft.
»Was ist das?«, fragte Anna neugierig, aber wir ignorierten sie beide.
»Glaubst du, das könnte eine Falle sein?« Ich schluckte, die Sorge nagte an mir. Nighton schüttelte den Kopf und zog meine Jacke vom Haken. »Unwahrscheinlich. Die Nachricht trägt seine Signatur. Niemand zwingt Azmellôn, und kein Dämon kann seinen Turm betreten.«
Mir gefiel das alles ganz und gar nicht. Warum interessierte sich der Seher plötzlich für meine menschliche Schwester? Warum wies er Anna an, ganz allein und ohne Schutz hierherzukommen? Ich warf einen Blick auf Anna, die mir mit einem unbeschwerten Lächeln zulächelte, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert.
»Sie soll mit nach Oberstadt? Aber… sie ist ein Mensch!«
Nighton hob die Schultern. »So wie du.«
Ich spürte die Neugier in mir aufwallen, und obwohl mir die ganze Situation widerstrebte, wollte ich wissen, was Azmellôn im Schilde führte. Also ließ ich Anna und Nighton in der Küche zurück und ging hoch, um mich umzuziehen.
Als ich zurück in die Küche kam, saßen Anna und Nighton zusammen auf den Barhockern vor der Kücheninsel. Anna hatte ihr kunterbuntes Freundschaftsbuch ausgepackt und zeigte es Nighton, der mit hochgezogener Augenbraue und gespielter Ernsthaftigkeit die Seiten betrachtete, als wäre es ein altes, heiliges Manuskript.
»Und hier sind meine neuen besten Freundinnen!« Anna tippte mit dem Finger auf eine Seite mit Fotos und Kritzeleien. Nighton nickte beeindruckt und blätterte andächtig weiter.
Für eine Sekunde vergaß ich das, was anstand, und unterdrückte ein Grinsen. »Ich hatte auch so eins«, meinte ich, woraufhin Nighton über die Schulter zu mir schaute.
»Oh, ich erinnere mich gut«, begann er und prustete los. »Da hat doch dieser eine Junge in der vierten Klasse reingeschrieben ‚Nein, du bist nicht dick, nimm dir einfach zwei Stühle und setz dich doch zu uns‘.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst.« Ich verzog das Gesicht, konnte mir das Lachen aber nicht verkneifen. »Das war ein absolutes Kindheitstrauma.«
Anna schüttelte den Kopf und seufzte wie eine kleine Erwachsene. »Kinder können manchmal so schrecklich sein. Jenny, du bist nicht dick.«
Nighton und ich tauschten einen amüsierten Blick, und dann glitt mein Blick zurück zu Anna, die langsam vom Hocker rutschte, ihr Buch an sich gedrückt. Etwas an ihrer Ernsthaftigkeit… fühlte sich seltsam an. Nighton schien es auch zu bemerken, doch er sagte nichts und erhob sich nur stumm.
Kurz darauf machten wir uns auf den Weg zu Azmellôns Turm in Oberstadt.
Ich hatte erwartet, dass Nighton stürmisch durch die Tür des Turms treten würde, doch stattdessen blieb er abrupt stehen, als wären seine Füße festgewachsen. Ich lief direkt in ihn hinein und stieß mir die Nase.
»Was soll das?« Ich hielt mir die schmerzende Nase und wollte wissen, worauf er wartete.
»Nur so ein… Gefühl«, murmelte er, den Blick auf das massive Holzportal geheftet. Nach einem Moment öffnete er es und ging vorsichtig voraus. Skeptisch folgte ich ihm, Annas Hand fest in meiner, während uns ein schroffer Wind von der Brücke aus hinterherblies.
Im Turm herrschte das reinste Chaos. Der große Ohrensessel lag umgestürzt am Boden, Reagenzgläser waren zerbrochen, ihre bunten Flüssigkeiten über den Boden verschmiert, und Bücher aus dem Regal waren wild verstreut. Ein beißender Schwefelgeruch stieg mir in die Nase, und mitten im Durcheinander lag Azmellôn, regungslos.
Sofort zog ich Anna schützend zu mir, während Nighton die Luft prüfend einsog und sich vorsichtig dem Seher näherte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als Nighton neben Azmellôn in die Knie ging und ihn wachsam betrachtete. Ich hielt Annas Hand fester und folgte ihm langsam, während sie sich neugierig umsah.
Azmellôn schien nicht tot zu sein. Nighton half ihm, sich aufzurichten und gegen den umgestürzten Sessel zu lehnen. Der Seher atmete schwer, und aus den schwarzen Löchern, die einmal seine Augen gewesen waren, rann Blut. Sein Körper bebte, und ein heftiger Husten schüttelte ihn.
»Was ist passiert?«, fragte Nighton leise und legte dem Seher eine beruhigende Hand auf die Schulter.
»Ich… hatte eine Vision«, krächzte Azmellôn, sein Blick flackerte zwischen mir und Anna hin und her. Er zeigte mit einem zitternden Finger direkt auf sie. »Über dich!«
Ich knurrte: »Ja, wir sind hier, weil Sie sie-«
»Nein, Jennifer Ascot. Dich habe ich gesehen.« Sein Finger wanderte zu mir. Aus irgendeinem Grund wurde mir kalt.
Nighton hielt inne und warf mir einen schnellen, besorgten Blick zu. »Und was habt Ihr gesehen?«
Azmellôn klammerte sich an Nightons Arm, seine Finger bohrten sich in den Stoff. Sein Körper begann erneut zu zittern. »Es war… furchtbar. So furchtbar.« Seine Stimme brach, und das Zittern wurde stärker. »Als sie mich wahrnahmen, verletzten sie mich. Ich… ich habe nicht mehr viel Zeit.«
Dann richtete sich sein Blick direkt auf Anna, und er streckte ihr zitternd die Hand entgegen. »Du… Menschenkind, komm her.«
Anna machte Anstalten, sich von mir zu lösen und ihm entgegenzugehen, aber ich hielt sie zurück. »Was wollen Sie von ihr?«, fragte ich scharf.
»Sie muss mir helfen… nur sie kann es! Komm näher, Anna, bitte«, flehte der Seher, seine Stimme war nun kaum mehr als ein schwaches Krächzen.
Anna sah zu mir auf, ihre Augen groß und bittend. »Lass mich los«, flüsterte sie. Ich zögerte, dann lockerte ich den Griff um ihre Schultern, und sie lief zu Azmellôn und kniete sich neben ihn. Der Seher ließ Nightons Arm los und legte seine Hand auf Annas Schläfe.
Im nächsten Moment rissen beide ihre Köpfe in den Nacken und ihre Münder öffneten sich zu einem lautlosen Schrei. Schaum trat aus Azmellôns Mund, und Annas Arme bogen sich unnatürlich weit nach hinten. Panik durchzuckte mich, und ich schrie, stürzte vor, um sie zu erreichen. Auch Nighton sprang auf, doch kaum berührte er den Seher, schleuderte eine unsichtbare Kraft ihn quer durch den Raum. Er krachte gegen das Bücherregal, das sich über ihm entlud.
Dann war es vorbei. Azmellôn ließ Anna los und sank mit einem letzten, zitternden Aufatmen zu Boden. Ich kam schlitternd neben Anna zum Stehen und fiel auf die Knie.
»Annie, ist alles in Ordnung?!«
Langsam hob sie den Kopf und sah mich mit geweiteten Augen an. Dunkle Adern traten unter ihrer Haut hervor und zogen sich wie feine Ranken über ihre Wangen – ein Anblick, der mir die Kehle zuschnürte.
»Anna«, flüsterte ich, die Sorge schnürte mir die Kehle zu. Neben uns lag Azmellôn regungslos am Boden, und Nighton kam zu uns, schob mich sanft zur Seite und fasste abermals Annas Gesicht mit beiden Händen, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Oh nein«, murmelte er erschüttert.
Ein kaltes Gefühl kroch mir über den Rücken. »Was? Was ist? Nighton, rede mit mir!« Ich zerrte an seinem Ärmel, aber er ließ mich zappeln, den Blick noch immer auf Anna und dann auf Azmellôn gerichtet.
Schließlich sah er mich an und sprach die Worte aus, die mir den Boden unter den Füßen wegzogen: »Er hat sie zu sich gemacht.«
Verständnislos starrte ich ihn an, dann Anna, die noch immer in Nightons Griff war. »Was… was heißt das?«
Anna drückte Nightons Hände weg und richtete sich langsam auf, wankend. Ihr Mund stand offen, und mit einem leisen Lachen in der Stimme drehte sie sich im Kreis, den Kopf zur Decke gewandt. »Ich kann sehen«, hauchte sie, ein ungläubiges Glitzern in den Augen.
Ich schüttelte entgeistert den Kopf. »Will mir jemand erklären, was hier-«
Nighton ließ Azmellôn nicht aus den Augen. »Azmellôn hat sie zu seiner Nachfolgerin gemacht. Er wusste wohl, dass sein Ende gekommen ist. Er ist tot.« Er sah auf den reglosen Körper des Sehers und ballte die Hände zu Fäusten.
Ein Schock durchfuhr mich. »Er hat was?! Er kann doch nicht einfach Anna zur Nachfolgerin machen!« Ich spürte, wie die Verzweiflung mich übermannte. »Sie ist ein Kind, Nighton! Warum ausgerechnet sie? Wieso hat er niemand anderen ausgewählt? Wir haben genug Probleme, und jetzt auch noch das!« Ich packte Annas Arm und versuchte, sie an mich zu ziehen, aber sie befreite sich und drehte sich lächelnd weiter.
»Zu spät«, murmelte Nighton. »Es ist unumkehrbar. Anna ist das neue Orakel.«
Die Worte klangen so absurd, dass ich lachen musste, auch wenn es alles andere als lustig war. »Super!«, kicherte ich und hob die Arme in gespielter Euphorie. »Na dann, vielleicht kann sie uns ja die Lottozahlen verraten. Oder Bingo mit uns spielen. Oder noch besser: Sie sagt uns, wo Uriel-«
»Uriel ist in Alaska.« Anna hatte bei uns haltgemacht, ihre Augen strahlten vor Begeisterung.
Ich glaubte, mich verhört zu haben, doch da erstarrte Annas Gesicht, und ihr Lächeln verschwand. Sie hob eine Hand und schlug in die Luft und verfehlte dabei nur knapp Nighton, dessen Augen sich schockiert weiteten, als er ihre Arme packte.
»Bleib hier! Nicht weiter wegdriften!« Nighton sprach mit scharfter und eindringlicher Stimme. Anna zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Doch er ließ sie nicht los und bohrte seinen Blick in ihren. »Was hast du gesehen?«, raunte er.
»Sie hat mich bemerkt«, wimmerte Anna, die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Jetzt reichte es mir. Ich stand auf und griff entschlossen nach Annas Hand. »Wir gehen!« Ich zog sie mehr mit mir, als dass sie ging.
Nighton stellte sich uns plötzlich in den Weg, sein Gesicht ausdruckslos. »Lass mich durch!«, herrschte ich ihn an, aber er schüttelte den Kopf, bedauernd und unnachgiebig, und entgegnete mit Schwere in der Stimme: »Sie ist jetzt eine Seherin, Jen. Das scheint ihr vorbestimmt gewesen zu sein. Denk mal drüber nach, irgendwas war schon immer anders an Anna. Sie gehört nach Oberstadt.«
Das konnte nicht sein Ernst sein! Ich funkelte ihn an und rief wütend: »Nein! Anna kommt mit mir nach Hause! Ich lasse sie bestimmt nicht hier! Du bist doch verrückt geworden!«
Nighton sah mich lange an, und ich bemerkte das Zögern in seinen Augen. Schließlich seufzte er leise. »Gut, vorerst geht das in Ordnung, aber in den nächsten Tagen muss ich sie zu Isara und Tharostyn bringen. Auf der Erde wird sie von zu vielen Eindrücken überflutet. Meinst du, Azmellôn hat freiwillig in seinem Turm gelebt?«
Angespannt presste ich die Lippen zusammen und zog Anna an mir vorbei zur offenen Tür. Nighton folgte uns schweigend.
Niemals würde ich zulassen, dass Anna hierbleiben würde. Sie gehörte auf die Erde, in die normale Welt – nicht hierher, in eine Welt voller Gefahren!