Bald setzten sich noch andere zu mir an den Tisch. Es waren größtenteils junge Frauen, die sich untereinander köstlich amüsierten. Ich blieb eher außen vor, aber ich hatte auch keine Lust, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich hatte nämlich schnell gemerkt, dass das reiche Etepetete-Ladies waren, die nonstop am Tratschen und Lästern waren. Und sowas konnte ich überhaupt nicht ausstehen. Klar, ich hatte auch schon mal über andere hergezogen, wer hatte das nicht, aber die übertrieben es wirklich total. Wenigstens ließen sie mich in Ruhe.
Beim Warten spielte ich mit einer Serviette und ließ den Blick schweifen. Von all den Prominenten, die angeblich hier sein sollten, war nicht viel zu sehen. Hatte Owen vielleicht ein bisschen geschwindelt?
Doch die fehlende Prominenz war nicht das Einzige, das mir aufgefallen war. Während ich versuchte, mich nicht wie ein Fremdkörper in diesem ganzen Glamour-Getümmel zu fühlen, fiel mir plötzlich etwas auf, das tiefe Unruhe in mir entstehen ließ, obwohl ich es mir vorhin bereits zu erklären versucht hatte: Die Wände waren nicht nur mit schweren, eleganten Vorhängen verhangen, wie es sich für so eine Feier gehörte, sondern an den Ecken und an der Decke konnte ich kleine, kaum sichtbare Kameras entdecken. Sie schienen überall zu sein, so dass ich mich unweigerlich beobachtet fühlte. Ich verstand ja, dass eine solche Feier Sicherheitsrisiken barg und überwacht werden musste, aber - so? Hinzu kam, dass all diese Kameras sich auf einen Punkt in dem riesigen Raum zentrierten: Auf mich. Oder bildete ich mir das ein? War ich paranoid?
Auf einmal kam es mir so vor, als ob diese winzigen Linsen mir folgen würden, wohin auch immer ich mich wandte. Jede Bewegung, die ich machte, schien von diesen Kameras aufgezeichnet zu werden. Der Gedanke, dass ich von nicht sichtbaren Leuten aus allen Winkeln heraus beobachtet wurde, machte mich nervös. Es war, als ob ich in einer Art Aquarium saß.
Trotzdem gab ich mir Mühe, mich so normal wie möglich zu verhalten, aber die ständige Präsenz dieser eindeutig auf mich gerichteten Kameras machte es mir schwer, mich wohlzufühlen. Es fühlte sich an, als ob ich auf einem gläsernen Podest stand, von dem aus jede meiner Bewegungen für alle sichtbar war. Inmitten all dieser edel gekleideten Menschen und dem ganzen Trubel war es der letzte Tropfen, der das Gefühl in mir verstärkte, fehl am Platz zu sein.
Um irgendwie klarzukommen und mir die Kameras schönzureden, tank ich einfach Wein und wartete darauf, dass Owen mit der heiß ersehnten Info wiederkehren würde. Da ich allerdings keine gute Basis hatte und noch angeschlagen war wegen meiner Grippe, versuchte ich, es mit dem Alkohol nicht zu übertreiben und snackte währenddessen Weintrauben und Käse. Am liebsten wäre ich umhergewandert und hätte mir das Anwesen angeguckt, aber ich wusste um meinen miesen Orientierungssinn, also ließ ich es bleiben. Außerdem wollte ich Owen nicht verpassen. Den würde ich dann auch definitiv zu dieser übermäßigen Überwachung hier drin befragen.
Irgendwann war es dann so weit. Owen kam endlich zurück. Er schien auf seiner Suche nach Stephen King ebenfalls in den Genuss von Alkohol gekommen zu sein, denn er wirkte deutlich gelockerter. Doch anstatt mir zu verkünden, wo ich meinen Lieblingsautor finden konnte, eröffnete er mir allen Ernstes, dass der gar nicht hier war, weil sein Flieger aus Los Angeles angeblich wegen schlechter Wetterbedingungen nicht gestartet war. Über diese schlechte Nachricht vergaß ich sogar die Kameras. Ich war dermaßen enttäuscht und frustriert darüber, dass ich am liebsten aufgesprungen und nach Hause getürmt wäre. Diese Begegnung war das Einzige, weswegen ich hergekommen war, und die sollte jetzt nicht stattfinden? Das war nicht fair! Fast hätte ich sogar angefangen zu heulen, doch ich riss mich zusammen und betäubte meinen Frust einfach mit noch mehr Wein, der inzwischen einen sanften Nebel über meine Gedanken gelegt hatte. Alles um mich herum kam mir ein wenig verwaschen vor, die Stimmen der Menschen wirkten gedämpft und wie aus der Ferne. Dabei war es erst das zweite Glas.
Owen indes setzte sich zu mir und ließ sich von den Frauen am Tisch in deren Gespräch verwickeln. Die schienen zu wissen, wer er war, denn sie schmachteten ihn an und kreischten die ganze Zeit begeistert, wenn er einen Witz riss. Ich saß einfach nur daneben und wollte nach Hause. Ach, wie fehl ich mich hier am Platz fühlte! Was sollte ich noch hier, jetzt, wo ich wusste, dass mein Idol gar nicht hier war? Vielleicht sollte ich einfach Nighton anrufen? Melvyns Nummer hatte ich schließlich nicht.
Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als eine mir bekannte Person die Bühne erklomm und sich höflich lächelnd zu der Menge umdrehte. Ich starrte sie an und musste mehrfach blinzeln, um das wattige Gefühl der Angetrunkenheit einzudämmen.
Was machte Jason denn hier? Der brasilianische Schwarzmarktbesitzer aka Erzengel trug einen weißen Anzug, der einen krassen Gegensatz zu seiner dunklen Hautfarbe darstellte. Das pinke Tüchlein in seiner Brusttasche machte es auch nicht besser. Jasons breites Lachen strahlte von einem Ohr zum anderen und seine braunen Augen funkelten mit dem Kronleuchter an der Decke um die Wette.
Was hatte er mit den Delaneys zu tun? Woher kannte er sie? Und wo kam er plötzlich her? Er war doch ein Erzengel, was hatte er also mit Menschen am Hut?
»Guten Abend, Ladies und Gentlemen!«, rief Jason gerade und gewann damit die gesamte Aufmerksamkeit. Er wies auf Owens Vater.
»Einen Applaus für den Mann des Abends, bevor ich loslege: Stefan Delaney!«
Mr. Delaney rückte lächelnd seine Fliege zurecht und erhob sich von seinem Stuhl, um hoheitlich in die Runde zu winken. Ein begeisterter Applaus ertönte, den ich nutzte, um einen der Kellner an seinem grauen Sakko näher an meinen Tisch zu ziehen und ihm die Sektflasche von seinem Silbertablett zu entwenden. Die Etikette hier oder wie man mich finden könnte, war mir längst komplett egal. Owen lachte etwas verunsichert und versuchte, mir die Flasche unter den entgeisterten Blicken der Frauen zu entwenden, was ihm aber nicht gelang.
Jason wollte gerade fortfahren, da erblickte er mich. Er stutzte und ich glaubte, es für eine Sekunde in seinen Augen auflodern zu sehen. Aber dann wandte er sich ab und tat, als wäre nichts.
»Also! Wir haben uns heute Abend hier versammelt, um einen ganz besonderen Mann zu ehren. Seit vielen Jahren schon sind Stefan und ich enge Geschäftspartner, und wie ich ihn kenne, hat er euch so wie mir...«
Ab da hörte ich schon nicht mehr zu, sondern widmete meine gesamte Aufmerksamkeit meinem Handy unter dem Tisch. Ich schrieb nämlich mit Evelyn, was mir aufgrund des Alkohols einiges abverlangte.
Jenascot schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.44pm:
Evelyn, es is schrecklich hier, ich glaub, ich sterbe T_T
Ev schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.45pm:
Wieso? Zu wenig Alkohol?
Jenascot schrieb am Freitag, 30. Juli 2010, 08.49pm:
Nope, eher zu viel. Hier gibt's nur Snobbies und keinen Stephen King! Wo is Nighton?
Ev schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.51pm:
Haha :D Trink für mich mit, übertreibs aber nicht. Das mit Stephen King ist echt blöd.
Nighton ist in OS und lässt sich grad von Isara rumkommandieren. Die ist stinkig, weil er die letzten Tage nicht mit in Harenstone war.
Grüße von P & S. Wir warten gerade auf unsere Pizza.
Warum fragst du nach N?
Ich spürte einen Blick auf mir lasten und hob den Kopf an. Eine der Frauen am Tisch schaute mich vorwurfsvoll an, eine nachgemalte Augenbraue hochgezogen. Ich zog eine hässliche Grimasse, sodass sie pikiert wegsah. Dann blickte ich zur Bühne. Jason redete immer noch. In seiner endlos langen Rede, die von vielen Schenkelklopfern und starken Sprüchen nur so übersprudelte, ging es vor allem um Ehre, so einen großartigen Menschen wie Stefan Delaney unter uns zu haben und um das, was ihm die Zukunft hoffentlich bescheren würde. Kopfschüttelnd vertiefte ich mich wieder in meine Konversation mit Evelyn. Bei meinem Pegel war es echt nicht so einfach, die Tasten auf meinem Handy zu treffen.
Jenascot schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.55pm:
Egal, nich wichtig. Ich frag Jason. Ders auch hier.
Ev schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.55pm:
Wer ist Jason? Dein Neuer? Dann kann ich mir ja deinen Goldjungen schnappen :P
Ich gluckste. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie Owen mich stirnrunzelnd ansah, doch ich ignorierte ihn.
Jenascot schrieb am Freitag, 01. Oktober 2010, 08.56pm:
Jaja Evelyn, träum weiter. Nighton steht nich auf deine Silikonbrüste.
Ev schrieb am Freitag, 01. Juli 2010, 08.57pm:
Der kennt nur dein Flachland und weiß nichts von anderen Ländern mit mehr Höhenmetern, meine Liebe. So, Pizza ist da, viel Spaß noch. Und sauf nicht so viel, sonst machst du nur wieder was Peinliches! ;)
Nach Evelyns letzter Nachricht steckte ich mein Handy in meine Handtasche und wurde von tosendem Applaus erschreckt, der Jason gespendet wurde. Der verbeugte sich. Dann kam Stefan Delaney auf die Bühne, um Jason die Pranke zu schütteln und sich selbst ans Mikrofon zu stellen. Ob er wusste, was Jason war? Eher nicht, oder? Woher auch?
»Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst meinen tiefen Dank an Mr. Jason Haryn aussprechen. Ihre eloquenten und aufmunternden Worte, Mr. Haryn, haben mich sehr berührt, und Ihre unschätzbare Unterstützung bei der Organisation dieses Abends ist nicht zu übersehen. Es ist mir ebenfalls eine große Freude, Ihnen, geschätzte Gäste, für Ihre Anwesenheit und Ihre freundlichen Glückwünsche zu danken. Es erfüllt mich mit Stolz und Freude, meinen sechzigsten Geburtstag mit solch erlesenen Menschen wie Ihnen zu feiern. Doch lassen Sie uns nicht länger verweilen. Lehnen Sie sich zurück, genießen Sie den Abend und lassen Sie sich von den kommenden Überraschungen verwöhnen.«
Erneut wurde applaudiert, dann betrat die Jazzband wieder die Bühne und irgendwo im Hintergrund hörte ich Sektkorken knallen.
Ich sah Jason durch die Menge gehen und stand auf, um zu ihm zu gehen. Vielleicht konnte er mich nach Hause bringen oder hatte eine Idee, wie ich Melvyn finden könnte. Owen war schon wieder so sehr in sein Gespräch mit den dummen Kühen am Tisch vertieft, dass er nicht mal mitbekam, dass ich aufstand. Ich musste mich am Tisch entlangtasten, da die Welt ein wenig Wellen warf.
Leider war es nicht so einfach, zu Jason zu gelangen. Eine Menschentraube hatte sich um ihn und teilweise auch um mich gebildet, da mehrere Leute gleichzeitig etwas von ihm wollten. Ich jedoch sah es nicht ein, zu warten, sondern zog an seinem Jackett, bis er mir gezwungenermaßen seine Aufmerksamkeit schenkte. Aus der Nähe konnte ich erkennen, dass der brasilianische Erzengel Kontaktlinsen trug, die seine Augen gewöhnlich Braun erschienen ließen. War aber auch besser so. Mit goldenen Augen wäre er bestimmt aufgefallen.
»Kannst du mich irgendwie heimbringen? Stephen King hätte hier sein sollen, aber er ist es nicht und jetzt sitze ich mit diesen ganzen Tussis an einem Tisch und will gar nicht hier sein, und überall sind diese Kameras!«, klagte ich, ungeachtet der Aufmerksamkeit, die mir durch mein Betragen zuteil wurde. Dabei hatte ich mich extra bemüht, klar zu sprechen.
Jason runzelte die Stirn und kam mir näher. Ob er mich küssen oder an meinem Atem riechen wollte, keine Ahnung, auf jeden Fall war es mir zu nah.
»Stopp!«, rief ich entrüstet und boxte ihm halbherzig mit der Faust gegen die Schulter. »Eine Armlänge Abstand!«
Der Erzengel verzog amüsiert das Gesicht, bevor er mutmaßte: »Du hast wohl zu tief ins Glas geschaut?«
Sofort stieß ich hervor: »Es waren nur zwei. Bitte, ich will hier weg.«
Einige Leute wandten den Kopf und betrachteten uns. Langsam fing es an, mich zu nerven. Was wollten diese ganzen Snobbies denn nur?
»Was ist?! Habe ich vielleicht was im Gesicht?«, fuhr ich ein älteres Ehepaar an, das sich erschrocken wegdrehte. Auch Jason wandte sich gezwungenermaßen ab, weil er von jemandem in Beschlag genommen wurde und Hände schütteln musste.
Ich stand nun also da und wusste nicht, was ich machen sollte. Wie kam ich heim? Nighton konnte ich nicht anrufen. Am besten wäre es, zu versuchen, Evelyn zu erreichen. Oder ich machte mich auf die Suche nach Melvyn.
Aufstöhnend rieb ich mir über die Stirn und wünschte, ich wäre heute nicht aufgestanden. Hinzu kam, dass ich mich wieder matt zu fühlen begann, was dafür sprach, dass ich definitiv ins Bett gehörte. Ich hätte auf Nighton hören sollen.
Der Schwindel schien mich fast umzukippen zu lassen, und ich klammerte mich an einem der Stühle fest. Da spürte ich eine Hand an meiner Taille. Ein kräftiger Arm zog mich hoch und dirigierte mich sanft, aber bestimmt in Richtung der Treppe.
»Ich denke, du brauchst ein wenig frische Luft«, hörte ich eine Stimme sagen. Ich glaubte, sie zu kennen, aber es wollte meinem benebelten Gehirn nicht einfallen. Ich hatte kaum Gelegenheit, mich zu wehren, als ich schon unweigerlich auf die Stufen zugeschoben wurde.
»Aber nach draußen ist doch da lang!«, protestierte ich, doch meine Stimme klang eher wie ein schwaches Flüstern.
Erst wir die Treppe erreichten, schaute ich hinter mich, um herauszufinden, wer mich so unbarmherzig durch die Gegend karrte. Als ich die Gesichtszüge desjenigen erkannte, blieb mir fast das Herz stehen.