Was sollte ich bloß tun? Wie ging ich vor? War es nicht zum Scheitern verurteilt, nun, wo ich mutterseelenallein war, das Schicksal aller zukünftigen Yindarin in den Fingern haltend? Aber hey, nur kein Druck, Jennifer...
Bei dem Gedanken wurde mir übel.
Dicht an die Wand gepresst, starrte ich den grünen Kristall mitsamt seinen Ketten an und überlegte fieberhaft, wie ich vorgehen sollte. Am liebsten hätte ich mich in die nächste Ecke gesetzt und einfach nur geheult. Ich war nicht bereit für solch eine Verantwortung, wie sollte ich das bloß schaffen? Ich war ein Mensch! Ein mickriger, kleiner Mensch! Lachhaft! Und was, wenn Riakeen gleich durch die Wand brechen und mich schnappen würde?
Nein, daran durfte ich nicht denken. Vielleicht scheiterte sie an der Wand - oder Penny hielt sie tatsächlich auf. In jedem Fall sollte ich mich beeilen und nicht so blöd herumstehen.
Ich schaute auf meine zitternde Hand, in der die Phiole mit dem Höllenfeuer lag. Wie wendete ich es an? Musste ich es auf den Kristall gießen oder gegen ihn werfen? Reichte ein Tropfen oder musste es die ganze Flasche sein? Wie sollte ich an all den mir haushoch überlegenen Dämonen vorbeikommen, die zwischen mir und dem Yagransin patrouillierten? Und selbst für den utopischen Fall, dass ich es schaffen würde - wie käme ich wieder hier raus?
Ich wusste es nicht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich jetzt machen und wie ich überhaupt nahe genug an den Kristall herankommen sollte. Wenn mich in diesem Moment jemand gefragt hätte, wie man meinen Namen schreibt, hätte ich vermutlich nicht mal das auf die Reihe bekommen.
Ruhe bewahren, Jennifer!, rief ich mich rasch zur Ordnung und verstaute die Phiole in meiner freien Hosentasche. Panik würde niemandem helfen. Ich musste nachdenken. Ich brauchte einen Plan. Und zwar schnell, solange Penny noch im Stande war, Riakeen in Schach zu halten. Also zwang ich mich irgendwie, meine Gedanken auf das Wesentliche zu richten und blendete mein vor Angst pochendes Herz und die Furcht um Nighton und Penny einfach aus.
Wie kam ich ungesehen nach dort unten?
Mit den Augen suchte ich die Höhle ab. Mein Blick blieb an den Ketten hängen, die zum Kristall führten und ihn stabilisierten. Wenn ich nur da hoch kommen könnte!
Da lenkte mich ein Geräusch ab. Eine Gruppe von Arbeitern kam in flottem Tempo den Felsweg hochgelaufen, angetrieben von einem der Höllenstiere. Sie waren nicht mehr weit entfernt.
Oh-oh, ich brauchte dringend ein Versteck!
Hektisch schaute ich mich um und wählte einen hüfthohen Felsen, der neben der Wand mit den Schriftzeichen stand und allem Anschein nach die Stelle markieren sollte, an der man zurück in die Katakomben gelangte.
Mit einem gewaltigen Satz hechtete ich zu dem Felsen und kauerte mich dahinter, im Stillen hoffend, dass man mich nicht entdecken oder gar wittern würde. Das Brüllen und Stampfen wurde lauter. Ich spürte den Boden beben und wackeln, als die Horde an mir vorbeirannte und durch das Portal verschwand.
Oh Gott, Penny. Sie und Riakeen waren doch da drinnen am Kämpfen. Nun war Penny in der Unterzahl - würde man sie töten? Und was würden sie bloß Nighton antun? Ich bekam das Gefühl zu ersticken. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wie hatte es nur so schiefgehen können? Dass ich nun allein war, war eine absolute Katastrophe!
Eine Bewegung zu meiner Rechten ließ mich zusammenzucken. Etwas Weißes, Plüschiges kam zaghaft herangerollt und quietschte mich leise an.
Ich machte große Augen. Es war Freddie, der durch das Portal zu mir gekommen sein musste. Ich rang mir ein Lächeln ab und hielt dem kleinen Kerl meine Handfläche hin, auf die er bereitwillig hopste.
»Na du?«, begrüßte ich Freddie. Gen Ende meiner Worte wurde meine Stimme etwas brüchig, da ich Tränen in meinen Augen keimen spürte. Ach, wie gerne wüsste ich, was mit Nighton und Penny war! Um mich zu beruhigen, streichelte ich Freddie und atmete ein paar Mal tief durch, ehe ich am Felsen vorbei lugte. Genug Zeit verschwendet. Der Weg war frei!
Geduckt lief ich los und achtete darauf, mich stets entlang der Wand zu bewegen, damit man mich nicht entdeckte. Außerdem diente es dazu, dass mich der Sog nicht packte und in die Tiefe zog. Freddie folgte mir dicht auf den Fersen. So arbeitete ich mich den sich hinabschraubenden Weg entlang, bis ich direkt unter einer dieser Ketten stand. Sie war etwa zehn Meter über mir in der Felswand vertäut. Ich sah mich um. Das Geschrei der Arbeiter und der Höllenkühe konnte ich bis hierhin hören, und als ich die Gerüste um den Edelstein betrachtete, wurde mir bewusst, wie groß er tatsächlich war. Da waren mindestens hundert Arbeiter am Werk und bearbeiteten den gefährlichen Kristall. Über die Brücken wurden zu einer Lagerbucht im Felsen kleine Loren gefahren, vollbepackt mit Splittern. Ich reckte den Hals, um zu sehen, wie viele Kristalle man bereits dort unten lagerte, aber es war zu riskant. Man könnte mich entdecken und ich wollte mir den Grabsand aufsparen.
Ich wandte mich der Wand neben mir zu. Mann, war das heiß hier. Mir den Schweiß von der Stirn wischend, schaute ich nach oben und entdeckte zu meiner Überraschung winzige, in den Felsen gehauene Stufen. Vermutlich dienten sie dazu, dass man die Ketten warten konnte.
Mein Glück kaum fassend, griff ich in den Stein und riss die Hand umgehend mit einem Schmerzlaut zurück. Der Fels war glühend heiß!
»Oh, das gibt es doch nicht!«, fluchte ich leise und überlegte, was von meiner Kleidung am wenigsten wichtig war, damit ich es abreißen und als Handschützer verwenden konnte.
»Hallo!«
Ich erschrak so sehr, dass ich fast einen Schritt in den Abgrund getan hätte. Neben mir stand auf einmal ein vielleicht zehn Jahre altes Mädchen mit sanften Gesichtszügen, blauen Augen und blonden Locken. Es war schmutzig und trug zerrissene Kleidung und kaputtes Schuhwerk.
Rasch packte ich das Kind am Arm und zog es mit mir runter zu Boden. Dort ließ ich den Blick wandern und schaute, ob uns jemand gesehen oder gehört hatte.
»Wer bist denn du? Und wo kommst du so plötzlich her?«, flüsterte ich und musterte das Mädchen besorgt. Den Hals reckend ließ ich wieder den Blick schweifen.
Arglos antwortete das Mädchen: »Ich bin Angel.«
Ich hob beide Augenbrauen, ehe ich perplex wiederholte: »Angel?«
Das Mädchen nickte und fragte völlig unbekümmert, während ich noch mit ihrem Anblick und dem Namen zu kämpfen hatte: »Was machst du denn hier?«
Ich musterte sie und entgegnete: »Das könnte ich dich auch fragen. Bist du ein Mensch? Wo sind deine Eltern?«
Angel schüttelte den Kopf und erklärte gelassen: »Die sind längst tot, und nein, ich bin eine Dämonin.«
»Oh, tut mir leid«, gab ich bedauernd von mir und betrachtete das Kind. Zum Glück hatte ich in dem Alter noch nichts von meinem Schicksal gewusst. Wieder schaute ich über die Schulter, ehe ich an das Kind gewandt raunte: »Hör zu, Angel, ich muss etwas Wichtiges erledigen. Ich weiß nicht, wo du herkommst, aber ich-«
»Oh, ich will helfen, bitte, ich bin schon seit 1977 Jahren hier unten gefangen, und es ist so öde. Niemand interessiert sich für mich, ich darf überall hin, aber nicht raus.«
Was? Wie? So lange? Entsetzt schaute ich das Mädchen an. Und wie sollte das überhaupt gehen, so alt zu sein, aber trotzdem wie ein Kind auszusehen? Und warum war sie dann noch nicht zu einer vollwertigen Dämonin aufgestiegen?
»So lange? Wie furchtbar! Warum das?«, stieß ich hervor. Angels Blick entrückte, als sie leise erklärte: »Sie wollte mich nicht mehr und sagte, hier unten soll ich bleiben.«
Mitleid überkam mich. Irgendwie erinnerte sie mich an Anna.
»Oh, nicht doch, wer hat das denn befohlen?«
Die Kleine senkte den Blick. »Darf ich nicht sagen. Aber ich möchte dir helfen!«
Mein erster Instinkt war es, Nein zu sagen. Aber dann dachte ich an Nighton und Penny und daran, dass sich das Mädchen sicher gut hier unten auskannte.
»Na gut«, willigte ich etwas zögernd ein, fügte aber direkt hinzu: »Aber du machst, was ich sage!«
Angel nickte eifrig und schaute mich wartend an.
»Also-«, begann ich und schaute die Felswand hoch, »-ich muss den Kristall zerstören.«
Das Mädchen riss den Mund auf. »Wie?«
Ich deutete auf die Ketten und erklärte ihr mein Vorhaben. Also dass ich über die Ketten zum Kristall gelangen und diesen mit dem Höllenfeuer vernichten wollte. Angel lauschte mir geduldig und klatschte am Ende meines Plans in die Hände. Enthusiastisch rief sie: »Fein, dann lenke ich die Wachen ab!«
»Halt!«, sagte ich erschrocken und hielt sie zurück. »Die machen dich doch platt!«
Angel zwinkerte vergnügt und entgegnete verschwörerisch: »Oh nein, das dürfen sie nicht. Sie hat es ihnen verboten.«
Wen sie wohl meinte? Aber damit konnte ich mich jetzt nicht befassen. Auf jeden Fall schien Angel zu wissen, was sie tat, also stimmte ich zu und sah ihr hinterher, wie sie den Felsweg entlanghüpfte und auf eine Patrouille zusteuerte. Hoffentlich taten die ihr nichts! Doch es hatte nicht den Anschein, denn die Stiere bewegten sich keinen Deut, sondern beobachteten nur das Mädchen, das vor ihnen stand und wohl etwas erzählte.
Da stupste mich etwas an, also schaute ich runter. Es war Freddie. Den hatte ich beinahe vergessen! Sofort langte ich runter und setzte den Quimchay auf meiner Schulter ab, wo er sich, wie auch immer, festhielt.
So wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Aufstieg zu. Ich hatte mir zwei Stücke von meinem Shirt abgerissen und um Handflächen und Finger gewickelt, um Verbrennungen vorzubeugen.
Ich griff erneut in den Stein und setzte den Fuß in die erste Fuge. Langsam tastete ich nach dem nächsten Stein und zog mich etwas höher. Ein Keuchen entfuhr mir, und ich wollte mir gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn ich fiele. Und so richtete ich all meine Gedanken fest auf Nighton und Penny und darauf, dass ich nicht scheitern durfte.
Es kostete mich mehr als eine halbe Stunde, die zehn Höhenmeter zu überwinden. Mein Körper zitterte ob der ungewohnten Anstrengung und insgeheim nahm ich mir vor, definitiv mein Sportprogramm wieder aufzunehmen.
Aber ich schaffte es nach oben und zog mich mit allerletzter Kraft auf ein Kettenglied. Dort blieb ich liegen und entspannte meine überreizten Muskeln. Freddie hüpfte von meiner Schulter und gab gurrende Laute von sich, die ich mit einem Aufstöhnen quittierte.
Was ein Horror.
Das kalte Metall schmiegte sich an meine Wange und verschaffte ein wenig Linderung, aber als ich daran dachte, wie hoch oben ich nun in der Luft war, beschloss ich, es schnell hinter mich zu bringen und richtete mich wieder auf.
Ich wagte einen Blick nach unten und bereute es sofort. Ungesichert in solch einer Höhe zu sein, bereitete mir Magenschmerzen. Aber ich musste mich zusammenreißen. Schlappmachen konnte ich mir nicht leisten! Vorsichtig begann ich, vorwärts über die Ketten zu rutschen. Dabei konzentrierte ich mich vollkommen auf mein Ziel.
Das harte Material drückte ziemlich zwischen meinen Oberschenkeln, und ich war mir sicher, dass meine Jeans bereits Abnutzungserscheinungen hatte.
Und was war eigentlich mit der kleinen Angel?
Sofort ließ ich meinen Blick schweifen und suchte nach ihr, aber ich konnte sie nicht sehen. Himmel, war ihr etwa was zugestoßen, weil ich zugelassen hatte, dass sie mir half? Ich presste beide Kiefer aufeinander und verbot mir jegliches Schuldgefühl. Nein, nein, dafür hatte ich keine Zeit. Dem Mädchen ging es sicher gut, sie hatte doch gesagt, dass ihr hier niemand was tat. Darauf sollte ich vertrauen.
Schließlich, nach endlosem Rutschen und Ziehen, hatte ich das Ende der Kette erreicht. Ein Wunder, dass man mich nicht entdeckt hatte, immerhin waren all die anderen Ketten regungslos und meine schwang ein bisschen hin und her. Aber unbeseelte Dämonen waren eben nicht die Schlauesten, und ich war froh über diesen Umstand.
Ganz behutsam legte ich eine Hand an den Kristall und erwartete eine Art Stromstoß oder Schmerzattacke, aber nichts dergleichen trat ein. Also stand ich, mich am Kristall festklammernd, behutsam auf und kletterte auf allen Vieren über dessen raue Oberfläche, bis ich auf der Spitze angekommen war. Freddie folgte mir, Schleifen drehend. Dort blieb ich sitzen und atmete durch. Ich war schon ein wenig stolz auf mich. Ein leichter Weg war das nicht gewesen! Jetzt musste ich nur noch das Feuer über den Kristall leeren.
Nur wie? Wie stellte ich das an, ohne selbst mitzuverbrennen?
Ein tiefer Seufzer entfloh mir.
Hätte ich doch diesen Seufzer unterbunden.
Von irgendwo unter mir, vermutlich von einem der Gerüste, ertönte eine sehr tiefe Stimme: »Hast du das gehört?«
Entsetzt duckte ich mich und kroch zum Rand des Kristalls, um hinabzusehen.
Ungefähr vier Meter unter mir standen ein schmächtiger Dämon mit schulterlangen, schwarzen Haaren und ein großes dunkelblaues Geschöpf mit Tentakeln statt Haaren und Muskelpaketen am ganzen Körper. Sie schauten sich an und lauschten.
»Du und deine Paranoia andauernd. Hast du das gehört hier, hast du das gesehen dort, es wird lang-wei-lig! Hörst du? Mann, ich habe keine Lust mehr, ich brauche eine Zigarette!«, stöhnte der Dämon leidig und schwang wenig motiviert die Spitzhacke.
Der blaue Riese brummte, ehe er selbst wieder zur Spitzhacke griff und dabei laut überlegte: »Vielleicht hat's ja einer von den Eindringlingen durchs Portal geschafft. Du weißt schon, von der Gruppe um den Yindarin, der angeblich in der Stadt sein soll.«
Sofort horchte ich auf.
»Klar doch, und da führt es ihn ausgerechnet auf die Spitze von Mount Drugmore. Dir haben die Höllenbullen doch die letzten Synapsen weggebrannt.« Der Dämon hackte weiter, doch der andere ließ die Spitzhacke sinken und raunte: »Wer weiß? Ich habe die Wachen reden hören. Die Gruppe war zu dritt und es heißt, einer von denen sei ein Mensch!«
Der Dämon lachte kieksend auf und meinte dann trocken: »Aber sicher doch, Parok. Ein Mensch in Unterstadt. Hast du am Yagransin geleckt? Jetzt mach gefälligst weiter, ich will die Show heute Nacht nicht verpassen, wenn die Schlangen den Yindarin und alle anderen über den Abgrund in den Äther schleudern. Wenn wir zu spät rauskommen, sind die besten Plätze weg.« Er stöhnte auf und jammerte: »Ich brauche so verdammt dringend eine Zigarette! Hört ihr, ihr fetten Hackfressen von Wärter? Das ist Folter, einen Raucher von seinen Zigaretten fernzuhalten! Wusstet ihr eigentlich, dass die Menschen aus euresgleichen Buletten machen?!«
Dumpfes, aber wütendes Muhen erklang von weiter unten, und ich beschloss, dass ich genug gehört hatte. Also bewegte ich mich rückwärts. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, und mir wurde ein bisschen schlecht. Abgrund? Schleudern? Ich wusste nicht, was das genau bedeutete, aber es klang furchtbar.
Da hörte ich das große Wesen etwas sagen, was bei mir den Angstschweiß ausbrechen ließ: »Mach dich nur lustig, Gil, ich gehe nachsehen, ob da was auf dem Kristall ist. Vielleicht gibt es ja eine Belohnung, wenn wir einen von denen fangen!«
Panisch schaute ich mich um und suchte nach einer Möglichkeit. Runterspringen konnte ich nicht, das wäre zu riskant. Aber in wenigen Sekunden würde dieses Ungetüm hier hochkommen und doch garantiert Alarm schlagen!
Was tun, was tun?