Vor uns gab es auf einmal Lärm, der sich in den Alarm mischte. Der Lärm wurde lauter und näherte sich. Gleichmäßiger Schritt, der unheilvoll durch die Gänge hallte. Nightons Blick wanderte hektisch, bis er eine Tür zu unserer Rechten entdeckte. Ohne ein Wort stürmte er darauf zu, und ich folgte ihm. Inzwischen war ich völlig durchgeschwitzt und mein Herz pumpte.
Natürlich war die Tür verschlossen. Nighton ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit einem gezielten Ruck drückte er den Griff herunter, das Schloss knackte protestierend und die Tür schwang auf. Dahinter lag ein Maschinenlager, erfüllt von schwachem Licht, das von blinkenden LEDs auf metallischen Regalen reflektiert wurde.
Nighton zog mich in den Raum und schloss die Tür hinter uns, gerade rechtzeitig, bevor die schwer bewaffneten Männer an uns vorbeimarschierten. Ihr Gleichschritt hallte bedrohlich durch den Korridor, das Dröhnen kam mir vor wie ein Vorbote des Unheils.
Wir verharrten in der Dunkelheit, jeder von uns links und rechts der Tür, die Stille zwischen uns nur durch das unregelmäßige Surren und Blinken der Maschinen unterbrochen. Instinktiv tastete ich nach Nighton. Meine Hand fand seine, und seine Finger umschlossen meine in einer stummen Geste von Sicherheit.
Als der Lärm draußen langsam abebbte, löste ich mich von der Wand und trat auf das, was ich für die linke Wand hielt, zu. Der Betonboden war so eiskalt, dass ich fröstelte. Im schwachen Licht konnte ich einen schemenhaften Plan an der Wand erkennen, darunter ein Schaltpult mit wirr blinkenden Knöpfen.
Was das wohl für eine Anlage war?
»Nighton! Schau mal«, flüsterte ich und spürte, wie er sich neben mich stellte. Sein Blick fiel auf den Plan, der das gesamte Labor in einem komplexen Netz aus Linien und Zahlen zeigte. Während ich nur ein verwirrendes Durcheinander sah, entdeckte Nighton offenbar etwas von Interesse. Er beugte sich vor, seine Augen fixierten einen bestimmten Bereich des Plans. Er tippte auf einen Raum, in dem drei blinkende, rote Lichter markiert waren. Die Linien, die von ihnen ausgingen, waren schmal, fast wie Adern, die sich durch das Papier zogen. Über dem Raum stand in klaren, fetten Buchstaben das Wort SCHLEUSE.
»Kleine Planänderung«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir, während er das Schaltpult musterte. Seine Finger suchten gezielt nach zwei Hebeln, die unter dem roten Schriftzug SCHLEUSE angebracht waren.
»Was hast du vor?«, fragte ich, aber er antwortete nicht direkt. Stattdessen zog er die Hebel mit einem entschlossenen Ruck nach unten. Einen Augenblick später sprangen die zwei äußeren roten Lichter auf dem Plan auf Grün, und ein zufriedenes Lächeln huschte über Nightons Gesicht.
»Perfekt. Wir haben ein Ziel«, erklärte er und tippte erneut auf den Raum mit den drei Linien. »Wir schwimmen durch diese Schleuse nach draußen ins Meer.«
»Was? Schwimmen?«, stieß ich hervor und starrte Nighton entsetzt an. »Wie soll das gehen?«
»Das da sind Schleusen nach draußen ins Meer. Zwei von ihnen habe ich gerade hochgefahren und die letzte betätige ich manuell, sobald wir in diesem Vorraum da sind. Wir schaffen das schon«, versicherte er mir mit einem Seitenblick. Er wandte sich ab, bereit zum Aufbruch, und ich folgte ihm, während draußen der Alarm immer noch dröhnte. Die Spannung war greifbar, und das leise Klicken der umgelegten Hebel hallte wie ein Nachhall des Schicksals in meinen Ohren wider.
Wir traten gemeinsam auf den Gang hinaus, und Nighton ließ seinen Blick wachsam in beide Richtungen schweifen. Seine Augen verengten sich, als er die Lage abschätzte.
»Sie scheinen den Sichtkontakt verloren zu haben. Zumindest gibt es hier keine Kameras.« Seine Stimme klang ruhig, doch ich spürte die unterschwellige Anspannung. »Bis zum Raum sind es noch etwa fünfhundert Meter. In deinem Tempo wird das allerdings ewig dauern.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und konnte mir eine empörte Antwort nicht verkneifen. »So langsam bin ich gar nicht!«
Er musterte mich von Kopf bis Fuß, seine Lippen zuckten kaum merklich. »Mag sein, gemessen an menschlichem Tempo.«
Bevor ich mich weiter verteidigen konnte, trat er einen Schritt auf mich zu und beschloss plötzlich: »Ich trage dich.«
Erschrocken wich ich gleich zwei Schritte zurück und wehrte ab: »Nein! Ich... ich bin schwer.«
Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, kann ich nicht mal richtig beschreiben, so ungläubig war er.
»Also das ist der größte Blödsinn, den du dir einreden könntest. Aber ich schiebe das mal auf die miese Verpflegung und die Isolation, also fange ich jetzt nicht an, an deinem Einschätzungsvermögen zu zweifeln. Selbst wenn ich kein Yindarin wäre, wärst du ein Fliegengewicht für mich!«
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, als könnte mich diese Geste irgendwie schützen, aber Nighton ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit einem letzten, rügenden Blick stellte er sich direkt vor mich, wandte mir seinen Rücken zu und ging leicht in die Knie.
Es war klar, dass ich keine Wahl hatte. Also verschränkte ich meine Arme vor seinem Hals und spürte, wie er seine Hände unter meine Knie legte. Plötzlich war der Boden weit unter mir, und ich hing sicher auf seinem Rücken. Um ehrlich zu sein, so schlimm war es nicht. Warum ich mich überhaupt so geniert hatte, konnte ich in dem Moment nicht mehr nachvollziehen. Vielleicht war ich wirklich ein bisschen blöd. Aber eines musste ich zugeben: In dieser Höhe fiel mir mal wieder auf, wie groß Nighton war! Hier oben herrschte fast andere Luft.
»Halt dich fest. Aber klammer nicht so«, warnte er, und ich nickte, kniff die Augen zu und versuchte, die Situation zu akzeptieren.
In einem atemberaubenden Tempo fegte er durch die Gänge, so schnell, dass er für jeden Beobachter wohl nur ein Schemen gewesen wäre. Woher er so genau wusste, wohin er lief, war mir ein Rätsel, aber ich vergrub meinen Kopf in seiner Halsbeuge und vertraute darauf, dass er uns sicher führen würde.
Nur wenige Sekunden vergingen, bis er abrupt anhielt und mich sanft von seinem Rücken gleiten ließ. Kaum hatte ich den Boden unter den Füßen, taumelte ich und wäre vermutlich gefallen, hätte er mich nicht festgehalten.
»Uff«, machte ich, denn ein leichter Schwindel überkam mich. Nighton schaute auf mich herab, legte eine Hand auf meine Schulter und neigte den Kopf.
»Geht's dir gut?«
»Ja, nur ein bisschen schwindlig. Das war ziemlich schnell«, gestand ich und drückte eine Hand gegen meinen Magen, der sich unangenehm zusammengezogen hatte.
Er nickte verständnisvoll, doch dann verzog er plötzlich das Gesicht, griff sich an den Rücken und ächzte: »Oh nein, ich glaube, du hast mir den Rücken gebrochen, au, diese Schmerzen!« Er begann, sich auf dramatische Weise zu krümmen und in alle Richtungen zu beugen. Es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, dass er mich nur auf den Arm nahm – und das ließ mich ziemlich ärgerlich und auch perplex zurück. Nighton machte Scherze? Jetzt? Trotzdem musste ich lachen. Diese Mischung aus Wut und Belustigung ließ mich schließlich drohend einen Fuß heben, als wollte ich ihm gegen das Schienbein treten. Wo nahm er diesen ganzen Humor in Anbetracht unserer Situation her? Doch auf diese Frage lächelte er nur vielsagend, ehe seine Miene wieder ernst wurde. Er legte sich einen Finger an die Lippen und deutete hinter mich.
Als ich mich umsah, erkannte ich, dass wir in einem riesigen Raum standen. Die Decke war hoch, und am Ende des Raumes thronte ein massives, stählernes Tor, das stabil und uneinnehmbar wirkte. Es war mindestens sieben Meter hoch und ragte auf wie eine stumme Barriere, die uns von unserer Freiheit trennte. Das musste die Schleuse sein.
Mehrere Gänge mündeten in diesen Raum, und in der Mitte stand ein gläserner Kasten, in dem eine Wache hinter einem Schaltpult saß und Kaffee trank. Seine Augen waren auf die blinkenden Anzeigen gerichtet, als wäre der Alarm nichts weiter als Hintergrundrauschen.
Nighton folgte meinem Blick, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Tor. »Es wird Zeit, dass wir hier rauskommen«, sagte er leise. Seine Augen funkelten entschlossen. Dann deutete er auf den Wärter. »Hier gibt es keine Kameras, das ist gut. Das hier wird gerade nur von einem Mann bewacht. Ich kümmere mich um ihn. Du wartest und kommst zu mir, wenn ich dir ein Zeichen gebe. Ich öffne dann das Tor, aber es werden Wassermassen hereinströmen, und es wird verdammt kalt. Am wichtigsten ist, dass du mich nicht loslässt, während ich das Tor öffne. Hast du verstanden?«
Ich nickte zögernd. Der Plan gefiel mir nicht, aber was blieb uns anderes übrig?
Nighton schenkte mir einen kurzen, intensiven Blick, küsste mich auf die Stirn, dann schlich er auf den nichtsahnenden Wärter zu. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich ihm zusah. Alles schien nach Plan zu laufen. Davon zeugte auch ein Röcheln aus dem Glaskasten, das schnell verstummte. Ein erleichtertes Gefühl durchströmte mich.
Doch bevor ich mich entspannen konnte, spürte ich eine Hand auf meinem Mund. Panik schoss durch meinen Körper, und ich riss die Augen auf, doch ein Schrei blieb mir im Hals stecken. Eine Waffe drückte sich gegen meinen Hals, und ich konnte den heißen Atem meines Angreifers an meinem Ohr spüren.
»Wollt ihr etwa schon gehen?«, flüsterte eine vertraute Stimme, die meinen Atem stocken ließ. Es war Kellahan. Ich versuchte, mich zu befreien, doch er war zu stark. Kurzerhand biss ich ihm in die Hand. Er brüllte vor Schmerz auf. Es war ein wütendes Geräusch, das in meinen Ohren widerhallte. Nighton hörte das und kam blitzschnell um die Ecke geschossen. Seine Augen weiteten sich, als er Kellahan erkannte. Ein tiefes, bedrohliches Grollen drang aus seiner Kehle, und ich spürte, wie die Luft um uns herum elektrisch wurde. Er duckte sich leicht, bereit zum Sprung, während Sekeera sich an seine Oberfläche drängte.
Kellahan wich instinktiv zurück, nahm die Waffe von meinem Hals und brachte sich außer Reichweite. Stattdessen richtete er sie nun auf Nighton. Ich erkannte die Waffe sofort. Es war die E-VA-C. Schrecken durchzuckte mich, denn ich wusste nicht, was diese Waffe konnte. Doch allein ihr Name verhieß nichts Gutes. Essence Vaporizer Cannon. Das klang nach nichts, womit man getroffen werden wollte.
»Gebt auf, ihr sitzt in der Falle. Ajax ist schon auf dem Weg!«, erklärte Kellahan triumphierend, bevor er an Nighton gewandt hinterherschob: »Sie haben uns ziemlich lange warten lassen, Mr. Hudson. Und das alles trotz der Hinweise, die wir gestreut haben. Los, gehen Sie an die Wand da, und stellen Sie sich mit dem Rücken zu mir so hin, dass ich Ihre Hände sehen kann!« Sich seiner Sache sehr sicher, wies er auf die vor uns liegende Wand.
Nightons lachte verächtlich, bevor sich seine gesamte Haltung veränderte. Es war, als würde die Luft um ihn herum dichter und schwerer werden. Ein leises, fast tierisches Knurren entwich ihm, tief und rau, und seine Augen schimmerten.
»Ich hätte dich im Hyde Park in Stücke reißen sollen, Mensch.« Seine Stimme hatte etwas Unheimliches, als ob er jeden Moment über Kellahan herfallen könnte. »Da du sogar meinen Namen weißt, ist dir ja vielleicht auch bekannt, dass ich meinen besten Freund abgestochen habe, während er schlief. Einfach so. Weil es mir Spaß gemacht hat.« Er machte einen Schritt vorwärts, langsam, bedrohlich. »Stell dir vor, was ich mit jemandem wie dir anstellen könnte, und dich mag ich nicht mal.«
Kellahan umklammerte die Waffe fest.
»Ergib dich, Hybrid!«, forderte er laut, doch Nighton lachte nur, während er ruhig auf Kellahan zulief. Panik flackerte in Kellahans Augen auf, und er drückte ab. Der Rückstoß schleuderte ihn nach hinten, sodass er schwer auf dem Boden landete. Die Kugel zischte durch die Luft, nur Zentimeter an Nightons Kopf vorbei. Ein Haar weiter links, und sie hätte ihn getroffen.
Ich erschrak so sehr, dass mir ein schriller Aufschrei entwich, doch dann handelte mein Körper, ehe ich auch nur drüber nachdenken konnte.
Bevor Nighton, der sich der Knappheit des an ihm vorbeischießen Projektils nur allzu gut bewusst war, auf Kellahan zustürmen konnte, um ihn zu erledigen, griff ich nach dem Feuerlöscher, der hinter mir in einer Wandhalterung hing, und warf ihn mit aller Kraft in Richtung Kellahan.
Ich traf ihn am Hinterkopf. Er sackte zusammen und fiel mit einem dumpfen Ächzen zu Boden. Ohne zu zögern, stürzte ich mich auf den Feuerlöscher. Etwas Dunkles in mir erwachte – all der Schmerz, die Demütigung, die Dorzars Übergriffigkeit ausgelöst hatten, die Angst vor den Zwillingen, der Terror, dem Kellahan mich ausgesetzt hatte - all das verwandelte sich in heiße, unbändige Wut, wie ich sie schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Aggressiv brüllte ich: »Du schießt nie wieder auf meinen Freund, du elender Bastard!« Meine Stimme überschlug sich förmlich. Nicht eine Sekunde später packte ich den Feuerlöscher mit beiden Händen und ließ ihn ohne Gnade auf Kellahans Kopf niedersausen. Er zuckte kurz, aber das war mir egal. In meinem Kopf war es kein unbewaffneter Mensch, der da am Boden lag – es war Dorzar, der mich erniedrigt hatte, der mir diese hilflose Wut eingepflanzt und mich erst in diese Situation gebracht hatte.
Mit einem weiteren Aufschrei schlug ich wieder zu. Es war egal, wo ich ihn traf. Jeder Schlag warf mich tiefer in diesen Strudel aus Wut und Rache. Ich wusste nicht, wie oft ich zuschlug. Die Realität verschwamm. Alles, was ich spürte, war der brennende Zorn, der mich aufrecht hielt, der mich antrieb.