! Triggerwarnung !
In diesem Kapitel wird das Thema körperliche Übergriffigkeit/sexualisierte Gewalt angesprochen. Diese Inhalte könnten belastend oder retraumatisierend sein. Bitte achte auf deine emotionale Gesundheit und sei vorsichtig, wenn du weiterlesen möchtest!
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Im selben Moment wurde Dorzar von mir heruntergerissen und mit purer Leichtigkeit gegen den Wandschrank geschleudert. Helles, reines Licht explodierte. Holz splitterte. Lautes Knurren erfüllte den Raum, und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Dorzar durch die Tür verschwand. Das Licht erlosch, und Dunkelheit kehrte zurück.
Ich rollte mich auf die Seite, zog die Beine dicht an den Leib und versuchte zitternd, mich mit den Resten meines Kleides zu bedecken. Schmerzen durchzuckten mein gebrochenes Handgelenk.
Plötzlich erschien ein Gesicht in meinem Blickfeld. Es war Jason. Seine Augen glommen Golden und waren weit aufgerissen vor Entsetzen, und er schlüpfte hastig aus seiner Jacke, die er mir über die Schultern legte. Der Stoff war warm und bot mir einen schwachen Trost.
Doch es schien noch nicht vorbei zu sein. Plötzlich tauchten hinter ihm mehrere Männer in Militärausrüstung und mit Nachtsichtgeräten auf. Die unerwartete Präsenz dieser Männer ließ Jason verblüfft zurückweichen. Die vier Männer trugen Sturmmasken und hielten Sturmgewehre bereit.
»Wo ist der Extraterrist hin?«, rief einer der Maskierten, doch weder Jason noch ich verstanden das. Der Hinterste der Gruppe sprach in ein Walkie-Talkie, und dann verschwand die Gruppe wieder im Flur. An anderer Stelle hätte ich mich vielleicht darüber gewundert, doch das ging in diesem Moment völlig unter. Es kümmerte mich überhaupt nicht.
Jason kniete sich vor mich und legte mir eine Hand sanft auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt, während er mich mit seinen durchdringenden Augen musterte.
Tränen liefen mir über das Gesicht, und ich zitterte vor Erschöpfung und Schmerz. Ich zog die Jacke enger um mich und schob einige Strähnen meiner zerzausten Frisur aus meinem Gesicht.
»Ich will nach Hause«, flüsterte ich. Jason nickte sofort und half mir beim Aufstehen, doch meine Beine fühlten sich wie Pudding an. Ohne zu zögern, hob er mich hoch. Ich schlang beide Arme um seinen Hals und vergrub mein Gesicht in seinem Hemdkragen, um dem Schmerz und der Scham zu entkommen.
Während Jason mich durch die leeren Flure und hinaus aus dem Haus trug, begegneten wir niemandem. Er schien genau zu wissen, welchen Weg er nehmen musste. In einem Wintergarten, wo der Partylärm nur noch als entferntes Echo zu hören war, setzte er mich sanft auf eine metallene Bank. Dann kniete er sich wieder vor mich.
»Es ist alles gut, Jennifer«, versprach er beruhigend. »Er wird dir jetzt nichts mehr tun, keine Angst. Aber wo ist Nighton? Ist er hier?« Er sah sich um, als würde er erwarten, Nighton gleich zu erspähen. Mein Herz zog sich zusammen. Ich sehnte mich nach Nighton und seiner Trost spendenden Nähe.
»Nein«, flüsterte ich. »Melvyn ist mitgekommen. Er sollte aufpassen. Aber ich weiß nicht, wo er ist.«
Jason verzog das Gesicht. Auf einmal stand Schuld in seinen Augen.
»Tut mir so leid, ich hätte mich direkt um dich kümmern und mich nicht ablenken lassen sollen. Hätte ich gewusst, dass dieser Schuft-«
»Es ist nicht deine Schuld. Es ist meine. Ich wollte immerhin hierher«, unterbrach ich ihn tonlos und schaute auf mein Handgelenk hinab, das inzwischen angeschwollen war. Jason folgte meinem Blick. Mit einem Blick erkannte er, dass es gebrochen war. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein und legte eine Hand auf meinen Arm. Im nächsten Augenblick schloss er die Augen und ich begriff, dass er den Bruch heilte. Und es funktionierte. Kurz darauf hallte dasselbe, grausige Geräusch durch die Luft, das ich eben schon einmal vernommen hatte. Jason stöhnte kurz auf, als er meine Verletzung auf sich nahm, während mein eigener Schmerz abrupt wich. Ich atmete aus und bewegte mein Handgelenk, das sich anfühlte, als wäre nie etwas gewesen.
»Danke.«
Jason hob das Kinn an und sog witternd die Luft ein. Zuerst befürchtete ich, dass er Dorzar roch, aber dann erklärte er düster: »Es ist nicht deine Schuld. Aber ich weiß, wer einen großen Anteil daran hat.« Der Erzengel erhob sich und hielt mir eine Hand entgegen.
»Komm. Kannst du laufen?«
Ich nickte stumm und ließ mir von ihm auf die Beine helfen.
Wir betraten eine Terrasse und erreichten einen weitläufigen Park mit einem See. Obwohl es nicht kalt war und der Wind auch nicht wehte, fröstelte ich. Der Schrecken hatte mich nach wie vor fest im Griff. Es war schon stockdunkel, während wir uns durch den Park bewegten und uns unbemerkt zur Hauptstraße vorarbeiteten. Dort stand ein grauer Mercedes, aus dem dröhnende Musik herüberschlug. Jason beschleunigte seinen Schritt, überholte mich und riss die Fahrertür des Autos auf. Den Insassen zerrte er brutal aus dem Wagen. Es war Melvyn. Der Dämon schaute erschrocken zu dem Erzengel auf, der ihn mit Wucht gegen das Auto geschmettert hatte.
»Du hattest nur eine einzige Aufgabe, nichtsnutziger Dämon!«, fuhr er ihn an. Melvyn, sichtlich verärgert, versuchte, Jason anzugreifen, doch bevor er etwas tun konnte, explodierte Jason in gleißendem Licht, das die Dunkelheit durchbrach.
Melvyn taumelte zur Seite und ächzte, während er Jason eine Hand entgegenstreckte: »Was soll das?! Ich habe nichts getan!«
»Genau das ist das Problem!«, fuhr Jason ihn an. »Du hattest nur eine Aufgabe: Dieses Mädchen vor den Zwillingen zu beschützen. Stattdessen hast du dich in deinem Auto verkrochen und dich mit menschengemachten Drogen zugedröhnt! Ich bin sehr gespannt, wie du dem Yindarin erklären willst, wie Selenes Scherge Dorzar Jennifer angreifen konnte!«
Melvyn starrte mich entgeistert an. Ein Blick genügte, und er schien die Situation zu begreifen.
Jason packte Melvyn am Pullover und rief: »Ich hoffe, er reißt dir-«
»Nein!«, unterbrach ich ihn verzweifelt. Der Erzengel drehte sich überrascht zu mir um. Ich schwankte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Er darf es nicht erfahren. Bitte. Von keinem von euch. Ich will das nicht!«
Jason warf Melvyn einen ernsten Blick zu, bevor er ihn losließ und sein Jackett ordnete. Mit einem letzten, entschiedenen Nicken wandte er sich wieder mir zu.
»Wie du möchtest.« Sein Blick auf Melvyn wurde vernichtend. »Du bringst sie jetzt nach Hause. Ohne Umwege. Hast du verstanden, Dämon?! Und wenn ich mitbekomme, dass du deiner Aufgabe nicht nachkommst, dann finde ich dich und verbanne dich in den untersten der Höllenkreise!«
Melvyn nickte sofort und stieg wieder in den Wagen. Langsam näherte ich mich Jason und kämpfte gegen die Tränenflut an, die mich überwältigen wollte. Jasons beeindruckende Gestalt wich und er nahm wieder seine normale Form an. Er schenkte mir ein sanftes Lächeln.
»Vertraue einfach auf die Führung Aonas, Jennifer«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Und geh schlafen. Morgen wird alles anders aussehen.« Er machte eine leichte Verbeugung, und ich murmelte ein »Danke«.
Darauf bedacht, meine Blöße zu bedecken, schlüpfte ich in das Auto. Melvyn saß angespannt neben mir.
»Willst du nach Oberstadt zum Yindarin?«, fragte er. Seine Stimme klang zerknirscht und unsicher.
Ich schniefte nur und schüttelte dann den Kopf.
»Nur nach Hause. Bitte«, bat ich mit gebrochener Stimme. Melvyn nickte, sein Gesicht war von einem Ausdruck tiefster Reue geprägt. Beim Anfahren murmelte er plötzlich: »Es tut mir so leid, Jennifer. Ich - ich hatte Musik laut und habe dich im Haus nicht gehört. Ich war so wütend auf Nighton, weil der mich zu diesem Kindermädchen-Einsatz verdonnert hat, aber-« Er brach ab, schüttelte den Kopf und umfasste das Lenkrad fester.
»-ich dachte, das sei eine Vorsichtsmaßnahme. Und dass Dorzar so weit geht...«
Ich musste einen Heulkrampf unterdrücken. Jeder Atemzug fühlte sich an wie ein weiterer Schlag gegen meine Seele. Innerlich sehnte ich mich danach, mich Nighton anzuvertrauen und seine tröstende Nähe zu spüren, aber Dorzars Drohung schwebte wie ein Damoklesschwert über mir. Ich konnte es mir nicht erlauben, meine Familie in Gefahr zu bringen.
Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend. Ich starrte aus dem Fenster, während die Tränen meine Wangen hinabrollten. Melvyns Blicke bemerkte ich kaum.
Als wir schließlich vor meinem Haus hielten, stieg ich wortlos aus. Melvyn brachte mich bis zur Haustür und verabschiedete sich mit einer besorgten Miene. Sein Versprechen, in der Nähe zu sein, interessierte mich auch eher weniger. Mit letzter Kraft schleppte ich mich die Treppen hinauf. Jeder Schritt schien mich weiter zu zerreißen. Ich schloss die Wohnungstür auf und schlich durch den dunklen Flur. Wenigstens war niemand wach, sodass ich nicht erklären musste, was passiert war.
Als ich bereits den Arm nach meiner Zimmertür ausgestreckt hatte, öffnete sich plötzlich zu meiner Linken die Tür zu Tommys Zimmer. Er trat heraus, einen dicken Schal um den Hals geschlungen, und schien gerade auf dem Weg zum Badezimmer zu sein.
Unsere Blicke trafen sich, und ich konnte die Überraschung und Besorgnis in Tommys Augen sehen. Sein Blick wanderte von meinem zerzausten Erscheinungsbild zu dem Zustand meiner Kleidung, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer Mischung aus Entsetzen und Verwirrung.
»Was ist denn mit dir passiert?« Als ihm die Schwere meiner Situation dämmerte, öffnete sich sein Mund zu einem entsetzten »Oh«.
Ich spürte, wie die Tränenfront aufstieg und mich überwältigte. Ohne Vorwarnung brach ich in einen heftigen, schluchzenden Heulkrampf aus. Mein Körper zitterte, und ich konnte nichts tun, um die Flut der Emotionen zurückzuhalten.
Tommy reagierte sofort. Er schob mich in mein Zimmer, wo ich vor dem Bett auf die Knie fiel und unter lautem Schluchzen zusammenbrach. Mein Bruder blieb neben mir stehen, seine Sorge war greifbar, aber er schien unsicher, was er tun sollte. Stattdessen streichelte er monoton meinen Rücken, als ob er hoffte, durch diese einfache Geste etwas von meinem Schmerz lindern zu können.
Mein zerfetztes Kleid zog jedoch schnell seine Aufmerksamkeit auf sich. »Jen«, flüsterte er, und die Angst in seiner Stimme war unverkennbar. »Hat dir jemand etwas angetan?«
Ich begann zu hyperventilieren, mein Herz raste und mein Atem ging stoßweise. Die Welt um mich herum verschwamm, als mir beinahe schwarz vor Augen wurde. Tommy zog mich sanft in eine sitzende Position und half mir, mich gegen das Bett zu lehnen. Dann setzte er sich neben mich auf den Boden, legte einen Arm um meine Schultern und zog mich fest an sich.
Irgendwie half mir diese körperliche Nähe, mich ein kleines bisschen zu beruhigen.
»Sag schon, was ist passiert?«
Mit meinem verschmierten, verheulten und völlig zerknautschten Gesicht blickte ich zu meinem Bruder auf. Seine Besorgnis war so stark, dass sie fast greifbar war.
Ich kämpfte gegen das Schluchzen an und stammelte mit einer Stimme, die vor Verzweiflung und Angst überschlug: »Er wollte mich - er hat versucht, mich…« Weiter kam ich nicht, denn Tommy unterbrach mich, der verstanden hatte, was mir nicht über die Lippen wollte. Innerhalb weniger Sekunden wurde sein Gesicht blass vor Zorn.
»Wer? Wer hat dir das angetan?«
»Dorzar!«, heulte ich. »Einer von Selenes Anhängern, der damals auch Anna entführt hatte. Er - er wollte mir zeigen, wie gefährlich er ist und - hat mir gedroht und - wäre Jason nicht gekommen, dann - Melvyn sollte aufpassen, aber er kam nicht!«
Tommy streichelte mir beruhigend über den Kopf, obwohl seine Augen vor Wut funkelten. »Ist gut, hör auf. Wieso war dieser Melvyn nicht früher bei dir? Soll ich Nighton anrufen, damit er herkommt?« Die Wut in seiner Stimme war unverkennbar.
Ich fuhr bei diesem Vorschlag zusammen und schüttelte dann so heftig den Kopf, dass meine Tränen wie kleine Perlen durch die Luft flogen.
»Nein, bloß nicht! Er soll es nicht wissen. Ich will nur noch ins Bett.«
Thomas machte ein verständnisloses Gesicht, aber nach einem kurzen Moment des Zögerns nickte er schließlich und versprach mir, dass er Nighton nicht anrufen und es ihm auch später nicht erzählen würde. Ich hatte entschieden, dass es besser war, Nighton nichts zu sagen, um meine Familie zu schützen. Die Vorstellung, was er tun könnte, ließ mir das Herz in der Brust zusammenziehen. Er würde niemals zulassen, dass ich nächste Woche alleine nach Harenstone ging.
Mein Bruder half mir beim Aufstehen. Kaum stand ich auf den Beinen, merkte ich, wie die Erschöpfung, der Alkohol, die Angst und die dramatischen Ereignisse der letzten Stunden ihren Tribut forderten. Plötzlich überkam mich ein stechendes Übelkeitgefühl. Ich schob Thomas ruckartig von mir weg und stürzte zum Mülleimer unter meinem Schreibtisch. In den entleerte ich meinen kompletten Mageninhalt, bis ich nur noch Galle würgte. Thomas hielt geduldig meine Haare zurück und sprach beruhigend auf mich ein.
Das trockene Würgen verwandelte sich irgendwann in keuchendes Atemholen. Mein Bruder half mir ins Badezimmer und ließ mich dort allein. Während ich mich aus dem zerrissenen Kleid schälte und es in eine Plastiktüte stopfte, hörte ich draußen das leise Rasseln des Mülleimers. In diesem Moment war ich Thomas unendlich dankbar.
Mit zittrigen Händen wischte ich mir das zerstörte Make-up aus dem Gesicht und schlüpfte in meinen Schlafanzug. Die blauen Flecken an meinen Handgelenken, am Nacken, an den Oberschenkeln und am Hals schmerzten bei jeder Bewegung. Ein handförmiges Riesenhämatom prangte wie ein Markenzeichen an meiner Flanke. Es war mir klar, dass es fast unmöglich sein würde, diese Verletzungen vor Nighton zu verstecken. Er war weder blind noch naiv. Aber ich wollte es zumindest in den nächsten Tagen geheimhalten.
Nachdem ich mich einigermaßen frisch gemacht hatte, verließ ich das Bad und schlich in mein Zimmer. Tommy hatte bereits das Fenster geöffnet und sah mich besorgt an. Er nahm mich ein letztes Mal fest in den Arm, bevor ich mich in mein Bett legte und mir die Decke bis zur Nase zog. Die Sehnsucht nach Nightons Nähe war überwältigend. Ich hätte alles gegeben, ihn jetzt hier zu haben.
»Danke, Tommy«, hauchte ich, als er das Fenster schloss. Er schaute schmerzlich lächelnd auf mich hinab und sagte leise: »Klopf einfach an, wenn du nicht schlafen kannst. Ich bin immer für dich da, hörst du? Vergiss das nicht.«
Er drückte meine Hand, die ich ihm entgegengestreckt hatte, ein letztes Mal und verließ dann leise das Zimmer. Zurück blieb ich allein mit mir selbst und der erdrückenden Dunkelheit, die sich wie ein schweres Tuch um mich legte.