Owen stieg breit grinsend aus seinem Sportwagen und kam auf mich zu. Er trug Lederschuhe und einen modernen, mitternachtsblauen Anzug ohne Krawatte. Die zwei oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen, und unwillkürlich fragte ich mich, ob das Absicht oder Vergesslichkeit war.
Schon seit zwanzig Minuten wartete ich wie bestellt und nicht abgeholt am Bordstein. Meine Laune sank von Minute zu Minute. Stephen King zu treffen war das Einzige, das mich davon abhielt, den Rückzug anzutreten.
Ein schroffer Herbstwind pflügte mit seinen Fingern durch London, der die stetig sinkenden Temperaturen der nächsten Zeit anzukündigen schien. Ich war heilfroh um meinen Mantel, der mich warmhielt. Na ja, zumindest das, was er bedeckte. Meine Füße gehörten leider nicht dazu. Die steckten in sommerlichen dreizehn-Zentimeter-Keilabsätzen und waren inzwischen so kalt, dass ich sie kaum noch spürte. Aber wenigstens konnte ich so den Schmerz nicht wahrnehmen, der inzwischen garantiert meine Fußgelenke infiltriert haben musste. Schon beim Treppenlaufen hatte ich feststellen müssen, dass ich alles andere als gemacht für diese schwarzen, wunderschönen, grauenerregenden Schuhe war. Nicht nur, weil ich mehrfach fast die Stufen hinabgesegelt wäre, nein, sie waren auch höllisch unbequem, und ich fragte mich, wie ich mit denen den Abend überstehen sollte. Meine Stiefel hätten es doch auch getan! Wieso besaß ich solche Schuhe überhaupt? Warum tat sich überhaupt irgendwer solche Absätze an?
Aber wie auch immer - jetzt trug ich sie nun einmal, und ich hatte keine Lust darauf, mich umzuziehen.
Mit verschränkten Armen schaute ich Owen entgegen. Ich hatte keine Lust auf ein Lächeln, also schaute ich einfach neutral drein, was auf Owen aber eher aggressiv wirken musste, denn er fing schon an, sich zu entschuldigen, bevor er mich überhaupt erreicht hatte.
»Hey Jennifer, entschuldige die Verspätung. Ist ganz schön viel Verkehr heute in der Innenstadt.« Er umarmte mich flüchtig, womit ich nicht gerechnet hatte. Dementsprechend steif ließ ich das über mich ergehen und begrüßte ihn eher zurückhaltend.
»Hi. Es ist London, was erwartest du denn?«, seufzte ich und musste kurzerhand die Luft anhalten. Owen trug ein ziemlich schweres Parfüm. Doch mein Chef ließ sich nicht von meinem vorwürflichen Unterton irritieren. Er lief zu seinem Auto, das er direkt am Bordstein geparkt hatte, öffnete die Beifahrertür und schaute mir auffordernd entgegen.
»Sollen wir?«
Ich nickte einmal und stieg ein. Owen schloss die Tür, umrundete das Auto, stieg auf seiner Seite ein und legte den Rückwärtsgang ein, um zu wenden. Der Motor des zweifellos teuren Autos heulte dabei auf. Ich richtete derweil die Falten, die mein Kleid geworfen hatte, und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare. Wie Melvyn uns wohl folgen würde?
»Gut siehst du aus«, bemerkte Owen anerkennend und raste die Bayswater Road entlang, wobei er das Tempolimit überschritt. Ich unterdrückte den Drang, mich an den Armaturen festhalten zu wollen, und nickte wieder einmal. Aus einem mir nicht ganz klaren Grund fühlte ich mich etwas unwohl. Lag es an Owens Fahrstil? Daran, dass ich gerade ein kleines Finn-Déjà-Vu hatte?
»Danke.«
Owen lächelte, sagte aber nichts darauf. Stattdessen wechselte er unverhofft das Thema und fragte in unbekümmertem Ton: »Es ist doch in Ordnung für deinen Freund Newton, das ich dich heute Abend ausleihe, oder?«
Stirnrunzelnd warf ich Owen einen Blick zu und erwiderte argwöhnisch: »Sein Name ist Nighton. Wieso sollte das nicht in Ordnung sein?«
Owen hob die Schultern und überfuhr dabei fast eine rote Ampel.
»Ich frage bloß. Kann ja sein, dass ihn das stört, schließlich will ich nicht in fremden Gewässern angeln.« Er hielt inne. »Nighton. Das ist ein seltsamer Name. Von wo kommt der Typ? Wohnt er neuerdings bei dir und deiner Familie? Wie lange kennt ihr euch schon? Was macht er so?«
Whoa, was war denn jetzt los? Warum löcherte Owen mich so?
»Du hast aber viele Fragen zu ihm«, bemerkte ich in der Hoffnung, dass mein Chef den Wink mit dem Zaunpfahl verstand, und sah nach rechts zu Owen, der sich mit dem Daumen über die Unterlippe strich. Er brummte nur auf und schaute konzentriert nach vorne. Anscheinend hatte er verstanden, dass er etwas forsch gewesen war. Trotzdem fand ich seine Neugierde merkwürdig.
Schweigen kehrte zwischen uns ein, das ich erst beendete, als wir London hinter uns gelassen hatten. Die Sonne war schon am Untergehen.
»Wo steigt denn die Party?«, wollte ich wissen.
Owen erklärte: »Nahe Luton. Das liegt nördlich von London, falls du das nicht kennst. Da hat mein Vater eine seiner Villen, in denen er im Sommer immer Partys feiert. Dir wird es gefallen. Es ist ein sehr luxuriöses Anwesen. Mit Pool und Golfanlage und so weiter.«
»Hauptsache, Stephen King wird da sein«, entgegnete ich, auf die vorbeischießende Landschaft schauend. »Wer kommt denn noch so?«
Owen drehte die Musik etwas leiser und zählte auf: »Die ein oder andere Persönlichkeit. Zum Beispiel der Bürgermeister, der Premierminister, einige andere Autoren bekannter Bücher, ein paar Filmstars, diverse hohe Geschäftspartner meines Vaters und so weiter. Er hat sogar die Queen eingeladen, aber da kam keine Antwort. Ihre Majestät verpasst echt was. Das wird eine Riesenparty. Jeder, der nicht dabei ist, verpasst was.« Er zwinkerte mir zu.
Ich rollte mit den Augen. Mein Gott. Wie konnte man nur so angeben? Wäre Stephen King nicht, würde ich sofort wieder nach Hause wollen. Hoffentlich war Melvyn nicht weit!
Owen drosselte auf einmal die Geschwindigkeit und bog in eine asphaltierte Seitenstraße ein, die in einen Wald führte. Die Fahrt dauerte nicht lange. Bald wichen die Bäume und gaben den Blick auf die Mauern eines Anwesens frei, das mitten vor uns im Wald lag. Owen wurde noch langsamer, bis er durch ein breites Tor in der Mauer fuhr und weiter der Auffahrt folgte. Sobald wir das Tor passiert hatten, spürte ich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen. Ganz erklären konnte ich mir das nicht, aber vielleicht lag das daran, dass ich gerade ein paar Dun'Dreld-Vibes bekam. Jetzt fehlte nur noch Miss Dawes, die von Ausgangssperren schwafelte und Serge, der mit eisiger Miene den Staubwedel schwang. Kurz wurde ich wehmütig, doch dann lenkte mich der Anblick der Sommerresidenz von Owens Familie ab.
Sie war beeindruckend, das musste ich zugeben. Das Anwesen lag verborgen hinter einer weiteren dichten Mauer aus Eichen und blühenden Rhododendren, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages verschluckten und nur ein diffuses Licht durchließen. Die gepflasterte Auffahrt war breit genug für zwei Autos und erstreckte sich in sanften Kurven über einen gepflegten Rasen, der wie ein endloses grünes Meer wirkte. In der Ferne konnte ich die Umrisse des großen Herrenhauses erkennen.
Es hatte mehrere Flügel und erstreckte sich über zwei Stockwerke, mit hohen Fenstern. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür aus massivem Holz, die von kunstvoll geschnitzten Säulen flankiert wurde. Zu meiner anfänglichen Verwunderung sah ich an allen möglichen Ecken des Hauses Kameras, die diskret in die Architektur integriert waren. Sie schwenkten gelegentlich, und mir wurde bewusst, dass wir die ganze Zeit beobachtet wurden. Ein seltsames Prickeln lief mir über den Rücken. Allerdings sagte ich mir, dass heute Abend ein Haufen hochkarätiger Leute hier aufkreuzen würde, da wäre es wahrscheinlich besser, für möglichst viel Sicherheit zu sorgen.
Vor dem Haus standen elegante Luxusautos geparkt, und ich erkannte einige der teuren Marken, die ich nur aus Zeitschriften kannte. Owen fuhr langsam an den Autos vorbei und hielt direkt vor der Treppe. Ein uniformierter Bediensteter trat aus den Schatten hervor und öffnete mir die Tür. Ich stieg aus und warf einen schnellen Blick über die Schulter zurück zur Auffahrt, die sich hinter uns im Schatten verlor. Plötzlich fühlte sich alles hier noch viel einsamer an.
Die Luft war kühl und roch nach frisch gemähtem Gras und den süßen Blüten des Gartens, der das Haus umgab. Obwohl es fast idyllisch wirkte, war da etwas Unheimliches in der Atmosphäre – vielleicht war es die Stille, die nur durch das gelegentliche Zirpen von Grillen und das leise Surren der Kameras unterbrochen wurde.
»Das ist also das Sommerhaus deiner Familie?«, fragte ich mit dünner Stimme, um die Stille zu durchbrechen. Owen nickte nur und lächelte, ein Lächeln, das nicht seine Augen erreichte.
»Ja. Beeindruckend, oder?«
Ich schaute noch einmal zur Tür, die sich gerade für ein weiteres Paar Gäste öffnete. Dahinter schien es hell und lebendig zu sein, im Gegensatz zur merkwürdigen Düsternis draußen. Zwei Sicherheitsmänner in schwarzen Anzügen standen direkt neben der Tür und musterten mich mit prüfenden Blicken. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle kehrtzumachen und zu verschwinden. Ein Gefühl sagte mir, dass das hier mehr als nur eine harmlose Party war, auch wenn ich noch nicht genau wusste, warum.
»Komm, lass uns reingehen«, schlug Owen vor und legte mir eine Hand auf den Rücken, um mich zur Tür zu führen. Kurz bekam ich das Bedürnis, seine Hand beiseite zu schieben, aber ich tat es nicht. Stattdessen ließ ich mich auf die Treppe zu dirigieren. Währenddessen sah ich einen anderen Bediensteten, ebenfalls in einem schwarzen Anzug, hinter den Hecken hervorkommen. Auch er blieb mit verschränkten Armen stehen und uns sah uns hinterher. Genauer gesagt mir. Vielleicht war es einfach nur Einbildung, aber mein Instinkt schrie mich auf einmal an, dass ich hier nicht sein sollte. Nur jetzt war es zu spät – ich war schon mittendrin.
Schließlich erreichten wir den obersten Treppenabsatz, von dem ein ausgerollter Teppich zu der Eingangstür führte. Die zwei Sicherheitsmänner öffneten wie auf Kommando die Tür für uns, Owen zunickend. Er nickte ihnen ebenfalls zu und führte mich in die Eingangshalle des Hauses.
Nun tat sich vor uns ein riesiger Raum auf, der mich abermals in Staunen versetzte. Die Decke war hoch und kunstvoll verziert, mit Stuckarbeiten und dunklen Holzbalken, die dem Ganzen eine majestätische Ausstrahlung verliehen. Der Marmorboden schimmerte im Licht, und ein großer Orientteppich in tiefem Rot und Gold bedeckte einen Großteil des Bodens. Der Teppich war so prachtvoll, dass er fast wie ein Kunstwerk wirkte. Am anderen Ende des Raumes sah ich zwei breite, geschwungene Treppen, die nach oben führten und sich kurz vor dem ersten Stock nach links und rechts auftreilten. Die Stufen waren aus poliertem Holz, und das Geländer schimmerte im Licht. Der Teppich auf den Stufen war von der gleichen Farbe wie der Orientteppich auf dem Boden. Die Treppen führten zu einem Galeriebereich, von dem ich nur ahnen konnte, dass er genauso beeindruckend war wie der Raum, den ich gerade betreten hatte.
Die Fenster waren mit schweren, eleganten Vorhängen verhangen, und überall im Raum standen Vasen mit frischen Blumen. Eine Bar in der Ecke war mit einer Auswahl an Getränken ausgestattet, und ein Barkeeper stand bereit, um den Gästen ihre Wünsche zu erfüllen. Während ich mich umsah, wurde mir bewusst, dass der Raum für die Feier vorbereitet worden war: Statt gewöhnlicher Möbel erkannte ich eine Bühne mit einer Jazzband und viele runde Tische mit weißen Tischdecken. Auf den Tischen befanden sich Champagnerflaschen und Gläser, bereit für die Gäste. Der Raum war bereits gut gefüllt mit Menschen, die in edler Abendgarderobe erschienen waren.
So. Und wo war nun mein Idol? Ich reckte den Hals, um Stephen King zu erspähen, doch das war sinnlos. Hier waren einfach zu viele Menschen.
Plötzlich stand ein Mann vor uns. Er hochgewachsen, dürr und mit graumelierten, sich lichtenden Haaren. Ich starrte ihn zuerst an, dann sagte Owen locker: »Hallo Dad. Darf ich vorstellen: Das ist Jennifer. James Ascots Tochter.«
Owens Vater musterte mich mit höflichem Interesse und streckte mir eine Hand entgegen. Ich nahm sie und schüttelte sie. Ein kühles Lächeln bahnte sich auf seinem Gesicht an.
»Guten Abend Miss Ascot, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Ich habe früher sehr geschätzt, was Ihr Vater geschrieben hat. Es ist bedauerlich, dass er und sein Talent so lange nicht von sich hören ließen. Ich hoffe, er findet bald wieder zur Feder und liefert uns neue Werke. Sein Stil war immer von außergewöhnlicher Qualität. Bitte richten Sie ihm meine besten Grüße aus und lassen Sie ihn wissen, dass ich auf eine baldige Wiederkehr seiner schriftstellerischen Kunst hoffe.«
Ich nickte und schluckte. Kurz merkte ich, dass ich drauf und dran war, irgendeinen Blödsinn zu stottern, also riss ich mich zusammen und antwortete höflich und nur ein klein wenig eingeschüchtert: »Natürlich, Sir. Ich werde meinem Vater auf jeden Fall Ihre Grüße ausrichten. Ich hoffe auch, dass er bald wieder etwas Neues veröffentlicht. Danke übrigens für die Einladung, ach ja, und Happy Birthday.«
Scheiße. Ich hatte nicht mal ein Geschenk!
Diese Tatsache trieb mir das Blut in den Kopf. Ich hatte doch glatt vergessen, mich um ein Geschenk zu bemühen. War ich echt so ein Dorftrottel?
Owens Vater entging meine veränderte Gesichtsfarbe nicht. Doch statt auf sie einzugehen, bedankte er sich nur und wandte sich seinem Sohnemann zu, den er wegen geschäftlicher Dinge ansprach. Owen beendete das Gespräch zum Glück aber schnell und brachte mich zu einem der Tische.
Ich nutzte den Moment, um nach Stephen King zu fragen. Owen nickte, hob den Kopf an und schaute umher, ehe er verkündete, ihn suchen zu wollen. Mich bat er, hier zu warten. Dagegen hatte ich nichts, also lehnte ich mich zurück. Hoffentlich trieb er ihn schnell auf!