- Jennifer -
Mein Zimmer entpuppte sich als ein fensterloses, stickiges Loch tief unter dem Schloss. Es war ein feuchtes Gefängnis, das nichts außer nacktem Stein und wimmelndem Ungeziefer bot. Ratten huschten in den Schatten, und egal, wo ich mich hinsetzte, es krabbelte und kribbelte überall. Die Luft war schal, abgestanden, viel zu warm und drückte schwer auf meine Lungen.
Selene hatte mich nur oberflächlich geheilt – gerade genug, dass ich lebte. Schon nach ein paar Stunden begann mein Körper gegen diese halbgare 'Heilung' zu kämpfen: Mein Kopf glühte, meine Haut spannte und brannte unter einem rötlichen Ausschlag, und mein Herz raste, als würde es selbst im Liegen verzweifelt um Kraft ringen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als läge ein Stein auf meiner Brust, der keine Erleichterung zuließ, und ich atmete flach, nur um nicht tiefer in diesen brennenden Schmerz zu geraten.
Und ich war so müde. Aber die Erschöpfung brachte keinen erholsamen Schlaf, sondern nur dumpfen Dämmerzustand und den schalen Geschmack von Verzweiflung, der sich in meinem Mund ausbreitete.
In Nightons blutigem Pulli und einer Jogginghose lag ich einfach auf dem kalten Steinboden und starrte teilnahmlos zur Decke hinauf, an der graue Flechten klammerten. Ab und an fiel ein Wassertropfen herab, der geräuschvoll in einer der vielen Pfützen landete. Der Raum schien wie ein lebendiges Wesen um mich herum zu atmen, still und bedrohlich, und ich konnte nicht einschätzen, wie lange ich schon hier lag, ob Stunden oder Tage vergangen waren. Nur eines wusste ich sicher: Ich musste hier raus, bevor mir der Verstand entglitt.
Das Schlimmste jedoch waren meine kreisenden Gedanken. Wieder und wieder fragte ich mich, was ich an mir hatte, das mich in solche katastrophalen Situationen brachte. War es Schicksal? Oder lag ein Fluch auf mir, der daran Schuld war? Es gab einfach kaum einen Moment, in dem ich nicht attackiert oder gejagt wurde – als wäre ich eine Figur in einem grausamen Spiel, das nur Selene und ihr finsterer Hof verstehen konnten.
Wann immer diese Gedanken in meinem Kopf entstanden, stahl sich ein gequältes Lächeln auf mein Gesicht. Armer Nighton. Er hatte es selbst bestimmt schwer, mit all dem mitzuhalten. Mir wäre es auch lieber, die Welt hätte weniger Interesse an mir und meiner Zerstörung.
Nach einer Ewigkeit des dumpfen Dahindämmerns riss das klirrende Rasseln eines Schlüsselbundes mich aus einem Fiebertraum. Ich hob den Kopf und brauchte einen Moment, um mich mit zittrigen Armen aufzusetzen. Eine unförmige, vermummte Gestalt schritt den Gang entlang. Sie trug eine Fackel und ein zusammengebundenes Bündel. Kurz vor meiner Zelle hielt sie an und warf mir das Bündel hinein.
»Essen«, knurrte sie mit tiefer Stimme, bevor sie ohne ein weiteres Wort verschwand. Das Bündel Essen blieb vor mir liegen, ein armseliges Häufchen aus Brot und etwas, das ich nicht identifizieren wollte. Mein Magen zog sich beim Anblick zusammen. Aber etwas essen musste ich, wenn ich die Kraft haben wollte, hier rauszukommen. Also griff ich nach dem trockenen Stück Brot. Selbst das fühlte sich an, als müsste ich Steine zermahlen.
Ich kaute nur mechanisch und ließ meinen Blick durchs Verlies wandern, wo sich Feuchtigkeitsschlieren auf den Wänden kräuselten. Ein kantiger, kleiner Stein fiel mir ins Auge, der ein Stück entfernt lag – ein kleines, unscheinbares Ding, das dennoch meine Aufmerksamkeit festhielt. In meinem fiebrigen Zustand hob ich ihn auf und ließ ihn zwischen meinen Fingern kreisen, als könnte er das Summen in meinem Kopf besänftigen. Die kalte Oberfläche zog die Glut in meinem Handballen ein wenig heraus, und der Wechsel der Empfindung tat für einen Moment fast gut.
»Wenn ich einen Stift hätte, würde ich dir jetzt ein Gesicht malen«, sagte ich zu dem Klumpen Gestein, bevor mir bewusst wurde, was ich hier gerade tat. Oh Mann! Ich war so armselig. War es schon so weit gekommen, dass ich nun mit einem Stein redete?
Ich seufzte. »Ach, egal. Wieso sollte ich nicht mit dir reden? Ich wette, du bist ein super Lebens-Ratgeber.« Ich biss von dem Brot ab und nuschelte mit vollem Mund: »Ja, du bist ein Stein, schon klar. Aber weißt du was? Wir zwei stecken zusammen hier drinnen fest. Wir sollten Freunde werden. Wie nenne ich dich? Steini?« Kauend musterte ich den Stein, drehte ihn hin und her und dachte dabei nach. Mein Bruder war der größte Pokémon-Fan, den ich kannte. Ich wusste durch ihn, dass es ein kleines, zweiarmiges Gesteins-Pokémon gab, nur kam ich in diesem Moment nicht auf den Namen. Ich rätselte hin und her, wie er gewesen sein könnte. Dabei schloss ich meine Finger gedankenverloren um den Stein. In der nächsten Sekunde spürte ich ein Flimmern - es war ein kaum wahrzunehmender Funke in meiner Handfläche. Und plötzlich... war der Stein weg.
Ich hörte auf zu kauen und blinzelte benommen auf meine leere Hand. Hatte ich den Stein fallengelassen? War er mir entglitten? Ich tastete den Boden ab, mein Blick irrte verwirrt über den Boden, aber der Stein war weg. Er hatte sich wortwörtlich in Luft aufgelöst, wie ein kleines Phantom, das ich im Wahnsinn meiner Fieberträume geträumt hatte.
Ich blinzelte erneut und hob einen Zeigefinger an, als würde ich mir selbst einen Vortrag halten wollen. »Ein Fiebertraum. Das muss es sein. Da war niemals ein Stein«, murmelte ich und hörte, wie hohl meine Stimme klang. »Ganz sicher nur ein Fiebertraum.«
Und dennoch nagte es an mir. Ich starrte auf meine Handfläche, drehte die Finger und fuhr über die kalte Haut. Sie fühlte sich so fremd an, so leer – als wäre dieser unbedeutende kleine Stein zu einer Sache geworden, die ich in mir selbst verloren hatte.
Tja. Aber es half ja nichts. Vielleicht sollte ich einfach wieder schlafen? Das würde bestimmt helfen.
Langsam legte ich meine Hand auf das schmierige Stück Holz, das als Pritsche diente, und zog mich hoch. Das war sehr anstrengend, und ich merkte, wie wenig Kraft ich hatte. Dieser Akt riss mich kurz aus der fiebrigen Dumpfheit. Doch da war wieder dieses Flimmern. Dieses seltsame, elektrisierende Kribbeln, das meine Finger durchzog wie eine verrückte Energie. Zuerst maß ich dem Ganzen keine Bedeutung bei und hielt es für ein Anzeichen, dass meine Hände eingeschlafen waren. Doch ehe ich es realisierte, flackerte die Pritsche und verschwand direkt unter meinen Händen. Ein Ruck ging durch mich hindurch, und ich landete unsanft wieder auf dem Boden.
Mein Herzschlag stockte.
Langsam hob ich den Kopf und starrte auf den Fleck, an dem das Holz gerade noch gewesen war. Er war leer, als hätte es die Pritsche nie gegeben. Wieder hob ich die Hände vor mein Gesicht, musterte die leeren Handflächen, als könnten sie mir Antworten geben. Sie zitterten, waren blutverkrustet, aber die Leere … die Leere war fast beängstigender als die Dunkelheit um mich herum.
»Ich kann zaubern«, kam es lahm über meine Lippen, und im nächsten Moment beugte ich mich in einem lautlosen Lachanfall nach vorn. Der endete jedoch schnell, und ich richtete mich auf, wischte mir mit dem Handrücken über die fiebrige Stirn und stemmte die Hände in die Seiten.
Fakten auf den Tisch. Ich hatte einen Stein in der Hand gehalten. Er war verschwunden. Ich hatte das Holz berührt. Auch das Holz war weg. Es musste also an mir liegen. Aber konnte das sein? War das tatsächlich etwas, das aus mir kam, oder war es mein fiebernder Geist, der mir Streiche spielte?
Hm. Nachdenken.
Vielleicht war es mein Blut? Immerhin war es urzeitlich und konnte Primals erwecken... wer wusste schon, was mir damit noch vergönnt war? Oder hing es mit der Fähigkeit zusammen, die mir damals in Unterstadt das Leben gerettet hatte, als die Schlange mich angriff? Entwickelte ich in gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen vielleicht Superkräfte? Aber wenn ja, warum? Ich war doch nur ein Mensch ... oder? Diese Überlegungen wühlten mich auf, und in mir entstand eine seltsame Zuversicht – ein Wissen darum, dass ich mich gerade an einer Schwelle befand. An einem Moment, der mir zeigen könnte, dass ich mehr war als die Fieberträume. Aber ich brauchte einen Beweis.
»Ich bin nicht bekloppt. Ich bin nicht bekloppt«, wiederholte ich immer wieder, während ich mich im schummrigen Licht der Zelle umsah. Mein Blick fiel auf einen verbeulten Teller, der neben dem halb gegessenen Brot auf dem Boden lag. Ich schloss die Augen und streckte die Hand darüber aus, ließ meine Finger auf die Kante sinken.
»Fokus«, murmelte ich entschlossen. Nach ein paar endlosen Augenblicken kehrte das Prickeln in meiner Handfläche zurück. Es steigerte sich zu einem leisen, pulsierenden Glühen, das durch meinen Arm schoss und sich um meinen Herzschlag legte. Ich hielt die Luft an. Was passierte hier gerade?! Ich stellte mir mit aller Macht das Flimmern vor, das ich an den Stein und die Pritsche weitergegeben hatte, dachte an die kleinen Schockwellen, die sie fortgeschickt hatten.
Dann öffnete ich die Augen und sah es. Der Teller stand ein Stück vor der Zellentür. Ein Gefühl des Triumphs stieg in mir auf, rasch und unvermittelt, wie das Flammen einer Kerze.
»Ha! HA! Hat das wer gesehen?! HAT DAS WER GESEHEN?«, brach es voller Begeisterung aus mir hervor, aber ich erhielt keine Antwort.
Ich hatte Kräfte! Ich! Wenn Nighton das sehen könnte! Ich konnte Dinge bewegen, Dinge beeinflussen. Besaß ich etwa telekinetische Kräfte? Vielleicht war das immer in mir gewesen, tief verborgen! Oder aber hatte Selene mich dazu gebracht, meine eigene Macht zu erwecken, als sie mein Blut geopfert hatte? Oder Sekeeras übernatürlicher Schatten war in meinem Kopf geblieben, wie ein Bild, aber unerreichbar, unbelegbar. Bis jetzt. Allerdings war es mir in diesem Moment egal, was der Grund war.
Ich sah beinahe ehrfürchtig auf meine Hände hinunter, musterte sie, fixierte sie. Da war eine Verbindung, eine verschollene Macht, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Ich spürte das Summen, das Flimmern, und wusste plötzlich trotz meiner vorherigen Überlegungen, ohne es wissen zu können, dass das eine Art Yindarin-Erbe war, das in der Dunkelheit meiner Seele überlebt und nur auf diesen einen Moment gewartet hatte, sich zu offenbaren. Und das ergab durchaus Sinn in meinem Kopf, vor allem, wenn ich an den Moment auf der Glasterrasse zurückdachte. Meine Reflexe waren so völlig aus dem Nichts gekommen, und bisher hatte ich keine andere Erklärung für meinen Angriff gefunden... Und diese klang für mich mehr als plausibel.
Ich kniff die Augen zusammen und schaute auf meine Beine. Was, wenn ...? Konnte ich mich vielleicht selbst fortschicken? Einen Versuch war es doch wert, oder? Wieder holte ich tief Luft und griff mit meiner Hand nach meinem Bein, legte sie auf die Stelle und konzentrierte mich. Ich dachte an Oberstadt, die blassen Gebäude und die klare Luft, die Freiheit und das Sonnenlicht. Doch diesmal passierte nichts. Nur die dumpfe Enttäuschung und das Gefühl, als würde mir diese neu gewonnene Kraft direkt zwischen den Fingern zerrinnen. Die Enttäuschung brannte wie Salz in einer Wunde.
»Warum klappt das nicht?«, zischte ich und ballte die Hände zu Fäusten, schlug sie auf den kalten Steinboden und spürte, wie ein scharfer Schmerz durch meine Finger raste.
Aber ich hatte noch nicht aufgegeben. Was war bei den vorherigen Malen anders gewesen? Ich betrachtete meine Handinnenflächen. Da fiel mir auf, dass sie nicht länger blutverkrustet waren - doch gewaschen hatte ich sie mir auch nicht. Hing mein Blut da doch mit drin? Hatten die Objekte, die ich berührt und verschwinden lassen hatte, sich nur in Luft aufgelöst, weil ich mein Blut an den Händen gehabt hatte? Und wenn ja ... wie kam ich an mein Blut?
Ich biss mir auf die Lippe. Das war eine gute Frage. Ich könnte mir ja in den Handrücken ritzen? Gedacht, getan. Ich kroch auf die Tür zu, suchte nach einer rauen Stelle am Metallrahmen, den ich schließlich fand. Mit einem Ruck zog ich meinen Handrücken darüber. Ein kurzer, scharfer Schmerz - und schon blutete ich. Zufrieden benetzte ich meine Hände, bevor ich erneut probierte, mich zu teleportieren. Das ich mit meiner Annahme, es könnte mit meinem Blut zusammenhängen, Recht hatte, wurde mir bestätigt, als meine Fingerspitzen abermals zu kribbeln begannen, sobald ich sie auf meine nackte Haut legte. Atemlos hielt ich inne, wartete auf den Teleport - doch nichts geschah. Das Kribbeln flachte ab. Ein bloßes Kribbeln reichte scheinbar nicht aus, um meinen eigenen Körper fortzubewegen. Erschöpft ließ ich mich gegen die Zellentür sinken.
Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, und ich starrte benommen auf das Blut an meinem Handrücken, das mir wie ein geheimer Schlüssel zu all dem erschien, was in mir schlummerte. Wahrscheinlich brauchte ich mehr, viel mehr, um diese Fähigkeit vollständig zu entfachen. Hm. Doch wie kam ich an mehr Blut?
Meine Hand glitt mehr unwillkürlich als gewollt zu meinem Hals, dorthin, wo Selene die Klinge in meine Haut getrieben hatte. Die Wunde war nur oberflächlich geschlossen worden – gerade so, dass ich überlebte. Der Gedanke daran, diese empfindliche Stelle wieder zu öffnen, ließ meinen Magen sich verkrampfen, doch ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Meine einzige Hoffnung lag in diesem instinktiven Wissen, dass das urzeitliche Blut die Brücke war, die mich hinausführte.
Mit rasendem Herz suchte ich nach einem geeigneten Mittel. Ich sah zur Tür hoch, deren verwittertes Holz in der Dunkelheit vor sich hin moderte. Mit zitternden Fingern schob ich mich ein Stück zur Seite und riss einen kleinen Splitter heraus, spitz und scharf. Ich drückte den Splitter in meine Handfläche, als wollte ich mich daran festhalten, als könnte er mir die Kraft geben, diese grauenvolle Entscheidung durchzuziehen. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
Du kannst das nicht … doch, du musst.
Mein Atem ging stoßweise. Die Angst war so überwältigend, dass ich mich selbst kaum noch spürte. Ich biss die Zähne zusammen, brachte den Splitter an die Stelle an meinem Hals, an der Selene das Messer angesetzt hatte, und mit einem letzten, verzweifelten Ruck bohrte ich ihn tief in die empfindliche Haut.
Ein stechender Schmerz schoss durch mich hindurch und ließ mich aufheulen und zugleich in Tränen ausbrechen. Die Wunde riss wieder auf, und eine heiße, dickflüssige Mischung aus Blut und Wundsekret rann über meine Haut und lief mir den Hals hinunter. Mein Körper schrie, und ich musste mit aller Macht gegen die Übelkeit ankämpfen. Doch im selben Moment schoss das Flimmern durch meine Hände, stärker als je zuvor. Ein Prickeln, das bis in die Knochen reichte, ein Pulsieren, das mein gesamtes Wesen ergriff und mir fast den Atem nahm.
Mit all meiner verbleibenden Kraft legte ich meine blutigen Hände auf meinen Hals, schloss die Augen und dachte an Oberstadt. Ich ließ das Bild vor mir aufleben, das klare Bild des Himmelsturms, der mir wie eine sichere Festung erschien. Ich spürte das Flimmern in meiner Brust, das Schlagen meines Herzens, das Flattern der Kraft, die endlich erwachte – und dann riss es mich mit einem schneidenden Sog fort.
Und tatsächlich - es funktionierte.
Doch während des Rotierens erfasste mich ein starker Windstoß. Aus dem Rotieren wurde ein Wirbeln, dann schoss die Welt in Lichtfäden an mir vorbei und ich fiel. Ich fiel wie ein Stein durch Baumwipfel und Äste hindurch, krachte durch Blätterdächer, nur um rücklings auf der Erde aufzuschlagen, sodass mir jedes Quantum Luft aus den Lungen gepresst wurden. Röchelnd und stöhnend vor Schmerz rollte ich mich auf den Bauch. Ein paar grauenvolle Sekunden lang konnte ich nicht atmen, dann entfalteten sich meine Lungen, und ich sog gierig die kühle Nachtluft ein.
Kurz blieb ich so liegen, dann setzte ich mich auf. Benommen blieb ich für einen Moment sitzen und starrte auf gewaltige, schwach glimmende Taue, die sich wie eine undurchdringliche Mauer rings um mich spannten. Ich spürte ein leichtes Summen in der Luft, und eine Gänsehaut zog sich über meinen Rücken, doch ich wagte es nicht, meine Finger auch nur in die Nähe des Seils zu bringen.
Was war das für ein Ort? Ich erkannte Bäume, hohe Bäume - aber etwas an der Umgebung ließ mich schaudern. Ich kannte Oberstadt – das war hier ganz sicher kein Zufluchtsort der Engel, sondern ein Ort der Isolation, ein Ort, der mich auf eine beklemmende Art und Weise genauso gefangen hielt wie das Verlies es getan hatte.
Ich biss die Zähne zusammen, um die aufkommende Verzweiflung niederzuringen, und presste eine Hand auf meinen blutenden Hals.
»Hey, wenigstens lebe ich«, murmelte ich mir selbst zu. »Und wenigstens bin ich nicht mehr im Verlies.« Das auszusprechen, entlockte mir ein freudloses Lachen. Denn lebendig zu sein und hier in einem magischen Käfig zu sitzen, in dem ich kein Stück weiter war als in Selenes Zelle, das fühlte sich kaum wie ein Fortschritt an.
Langsam kämpfte ich mich auf die Beine und stützte mich an einem verrotteten Baumstumpf ab. Die Kühle des Holzes durchdrang mich, doch mein Körper war heiß, glühte geradezu von innen, erschöpft und überanstrengt von dem, was ich ihm abverlangt hatte. Kaum ein Muskel gehorchte, und das leichte Zittern in meinen Beinen verriet mir, dass mein 'Erfolg' mich fast mehr gekostet hatte, als ich zu ertragen imstande war. Wahrscheinlich würde ich das nicht nochmal schaffen. Nein, ich musste einen anderen Weg suchen.
Ich hob eine Hand zum Seil, ließ sie dann aber sofort sinken, als mir der feine rote Schimmer ins Auge fiel. Die Taue waren mit etwas belegt – einem Bann vielleicht? Ich schluckte schwer. Schon der Anblick der rötlichen Linien, die wie Adern entlang der Stränge liefen, ließ mich eine dumpfe Angst spüren, die tief in meinem Magen saß. Trotzdem versuchte ich, mir Mut zuzusprechen.
Das hier überlebe ich, wie alles andere auch. Ich wiederholte den Satz in meinem Kopf wie ein Mantra, um die Panik niederzuringen. Ein Zittern breitete sich in meinen Fingern aus, und ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich musste es überleben – musste, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte.
Langsam strich ich mir die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht, zwang mich, die Umgebung aufmerksam zu mustern. Es musste hier einen Ausgang geben, irgendeinen Schwachpunkt. Wenn ich es bis hierher geschafft hatte, dann würde ich auch dieses Hindernis überwinden.